Einleitung
Dieser Psalm ist der traurigste Psalm im ganzen Buch der Psalmen. Andere Psalmen können traurig und düster sein, sind aber mit Glaubenszuversicht und schließlich Hoffnung und Sieg vermischt. Psalm 88 jedoch ist von Anfang bis Ende düster. Das letzte Wort dieses Psalms ist „Finsternis“ (Vers 18). Der einzige Hoffnungsschimmer in diesem Psalm ist die Person, an die sich der Psalmist in diesem Psalm wendet: der „HERR, Gott meines Heils“ (Vers 2). Hier finden wir einen Verweis auf den Namen Jesus, der „der HERR ist Heil“ oder „der HERR ist Rettung“ bedeutet.
Der Psalm ist das Gebet eines Mannes, der unaufhörlich leidet. Er klagt über die schreckliche, harte Unterdrückung, die ihn an den Rand des Todes bringt. Doch Tag und Nacht hat er den HERRN angerufen. In der Anwendung dieses Psalms auf Christus sehen wir das Leiden, das Er unter dem Fluch des Gesetzes erduldet. In der Anwendung auf die Gläubigen, sowohl in Israel als auch in der Gemeinde, sehen wir das Leiden, das notwendig ist, um gereinigt zu werden und zur Herrlichkeit zu gelangen.
Das Leiden des Psalms ist anwendbar auf das Leiden des Überrestes in der Endzeit, kurz vor dem Kommen des Herrn Jesus. Der Überrest wird während der großen Drangsal so sehr leiden, dass es ihm so vorkommen wird, als ob seine Bedrängnis kein Ende hat und die Finsternis über das Licht siegt. Der Psalm erinnert uns auch an das Leiden des Herrn Jesus. Durch sein Leiden konnte Er die Quelle des lebendigen Wassers werden. Dies ist „ein Maskil“ oder „Unterweisung“ von den Maskilim (Vers 1).
Aufgrund seines Leidens kann die Freude der Stadt Gottes mit allen, die in ihr sind, dort sein (Ps 87,7). Alle, die in ihr sind, Juden und Heiden, und an dem Segen teilhaben, sind der Macht des Teufels entrissen und werden zu dieser Stadt gezählt.
1 Überschrift
1 Ein Psalm-Lied von den Söhnen Korahs. Dem Vorsänger, nach „Machalat Leannot“. Ein Maskil von Heman, dem Esrachiter.
Für den Ausdruck „Lied“ siehe die Erklärung zu Psalm 48,1 und Psalm 65,1.
Dieser Psalm wird „ein Psalm-Lied“ genannt. Das Lied ist jedoch nicht, wie sonst üblich, ein Loblied, sondern ein Klagelied, in dem Traurigkeit und Verzweiflung besungen werden. Nach der Bedeutung von „nach Mahalath Leannoth“ – die Bedeutung folgt weiter unten – können wir annehmen, dass das Lied von einer niedergeschlagenen mit schwacher, düsterer, melancholischer Stimme gesungen wird, mit einem Ton in Moll.
Für den Ausdruck „von den Söhnen Korahs“ siehe die Erklärung zu Psalm 42,1.
Für den Ausdruck „Vorsänger“ siehe die Erklärung zu Psalm 4,1.
Das Lied wird „nach Machalat Leannot“ gesungen, was zeigt, dass es ein Klagelied ist. Das Wort machalat kommt nur in Psalm 53 vor (Ps 53,1). Machalat“ bedeutet „Krankheit“ oder „Leiden“. „Leannot“ bedeutet „Erniedrigung“. Es bezieht sich auf die „Erniedrigung durch Leiden“ als notwendigen Weg zur Herrlichkeit und zum Segen – die Quelle des lebendigen Wassers.
Dies verweist zunächst auf die Erniedrigung Christi durch das Leiden am Kreuz von Golgatha als Grundlage für alle Segnungen des Überrestes (Ps 87,7). Der Fels musste geschlagen werden, damit Er für uns zur Quelle des lebendigen Wassers werden konnte (Lk 24,26).
Zweitens verweist er auf den Leidensweg, den Israel durchlaufen musste, die Läuterung des Überrestes, durch Assyrien, die Zuchtrute Gottes (Jes 10,5; vgl. 5Mo 28,49–57; Joel 2,1–14), um zur herrlichen Erlösung zu gelangen. Vergleiche den Weg, den Josephs Brüder gehen mussten, das Gefängnis, um zur Wiederherstellung zu gelangen. Auch für uns gilt, dass wir zuerst mit Christus leiden und dann mit Ihm verherrlicht werden (Röm 8,17).
Für den Ausdruck „Maskil“ siehe die Erklärung zu Psalm 32,1.
Er ist ein Maskil „von Heman, dem Esrachiter“. Es ist der einzige Psalm von ihm in den Psalmen. Heman ist ein Weiser, ein Levit, ein Korahiter, ein Sänger, ein Sohn Joels und ein Enkel Samuels (1Kön 5,11; 1Chr 15,17.19; 1Sam 8,1.2). Er wird dem Stamm Juda zugerechnet. Man nennt ihn auch „den Sehers des Königs in den Worten Gottes, um seine Macht zu erheben [wörtlich: das Horn zu erhöhen]“ (1Chr 25,5).
2 - 3 Ruf zum Hören
2 HERR, Gott meines Heils, am Tag habe ich geschrien und bei Nacht vor dir!
3 Es komme vor dich mein Gebet! Neige dein Ohr zu meinem Schreien!
Der Psalmist wendet sich in seiner tiefen Bedrängnis an den „HERRN“, den er „Gott meines Heils“ nennt (Vers 2; Ps 27,9b). Der letzte Strohhalm, der einzige Hoffnungsschimmer in diesem ansonsten düsteren Psalm des Leidens ist, dass er Gott als den Gott seines Heils kennt. Gesättigt mit Todesgefahren, sucht der Psalmist Zuflucht bei Gott. Umgeben von Gefahren und Feinden richtet er seinen Blick nach oben. „Ich erhebe meine Augen zu den Bergen: Woher wird meine Hilfe kommen?“
Dann blickt er noch höher zum Himmel und bekennt: „Meine Hilfe kommt vom HERRN“ (Ps 121,1.2a). Deshalb wendet er sich an Ihn. Mitten in der Bedrängnis hält der Glaube an dem Gott fest, der versprochen hat, zu helfen. Gleichzeitig wird seine Situation noch dunkler, weil der Gott, den er kennt, nicht antwortet. Dies ist eine dramatische Erkenntnis.
Er wendet sich an Gott und schreit zu Ihm „am Tag … und bei Nacht“. Dieses „schreien“ weist auf ein eindringliches und kraftvolles Gebet aus einem Herzen hin, das von der Schwere der Bedrängnis überwältigt ist. Wörtlich heißt es: „Bei Tag schreie ich, und in der Nacht komme ich zu dir.“ Die Bedrängnis ist so groß, dass er Tag und Nacht, ohne Unterlass, zu Gott kommt und vor Ihm schreit. Sobald er am Morgen aufwacht, beginnt er erneut zu beten und zu flehen (Vers 14; vgl. Ps 50,15).
Aber Gott scheint ihm keine Beachtung zu schenken. Auch der Herr Jesus hat „sowohl Bitten als Flehen …, mit starkem Schreien und Tränen“ zu Gott gebracht (Heb 5,7). Das ist in Gethsemane, in Erwartung des Leidens für die Sünde. Er weiß, was es heißt, ein zutiefst belastetes Herz zu haben, und kann daher mit dem Überrest und allen, denen es so geht, mitfühlen. Bei Ihm gibt es jedoch nicht die Hoffnungslosigkeit, die das Gebet hier kennzeichnet. Er schreit in dem vollen Wissen, dass Gott Ihn hört.
Heman bittet den Gott seines Heils, sein Gebet vor Ihm, d. h. in seiner Gegenwart, zu erhören (Vers 3; vgl. Ps 27,8). Denn es scheint, dass die Tür zu Gott verschlossen ist, dass sein Gebet nicht zu Ihm vordringt. Gott scheint ihn nicht zu erhören, aber er gibt nicht auf und bittet Ihn, „neige dein Ohr zu meinem Schreien“. Hier benutzt er wieder das starke Wort „schreien“. Er weiß, dass Gott da ist, auch wenn Er sich scheinbar von ihm zurückgezogen hat.
4 - 10 Das Ausmaß des Leidens
4 Denn satt ist meine Seele von Leiden, und mein Leben ist nahe am Scheol.
5 Ich bin zu denen gerechnet, die in die Grube hinabfahren; ich bin wie ein Mann, der keine Kraft hat;
6 unter den Toten hingestreckt, wie Erschlagene, die im Grab liegen, derer du nicht mehr gedenkst; denn sie sind von deiner Hand abgeschnitten.
7 Du hast mich in die tiefste Grube gelegt, in Finsternisse, in Tiefen.
8 Auf mir liegt schwer dein Grimm, und mit allen deinen Wellen hast du mich niedergedrückt. – Sela.
9 Meine Bekannten hast du von mir entfernt, hast mich ihnen zum Gräuel gesetzt; ich bin eingeschlossen und kann nicht herauskommen.
10 Mein Auge verschmachtet vor Elend; zu dir, HERR, habe ich jeden Tag gerufen, zu dir habe ich meine Hände ausgebreitet.
Heman fährt fort, Gott zu sagen, warum er zu Ihm ruft, was wir an dem Wort „denn“ erkennen (Vers 4). Er ist nicht satt von dem Guten, das Gott denen verheißen hat, die Ihm dienen, sondern satt von „Leiden“. „Satt“ bedeutet: Es kann nichts mehr hinzugefügt werden; das Maß ist voll. Um dies zu unterstreichen, wird in diesen Versen eine Liste von Synonymen gegeben, die beschreiben, wie das Wasser bis an seine Lippen gekommen ist. Er ist nicht mit dem Leben verbunden, sondern mit dem Tod. Er ist sozusagen lebendig tot. Durch all das Leid ist sein „Leben nahe am Scheol“.
Er wird bereits „zu denen gerechnet, die in die Grube hinabfahren“ (Vers 5). Er sieht sich selbst als dem Untergang geweiht. Das ist die Perspektive, die er auch nach Meinung seiner Mitmenschen vor Augen hat: nicht das Leben, sondern die Grube, das Grab, der Tod. Sein Schicksal ist wie das aller Menschen, deren Leben zu Ende ist. Er hat keine Kraft mehr, sich diesem Abstieg zu widersetzen. Er ist „wie ein Mann, der keine Kraft hat“ geworden. Das Leid hat ihm die Kraft geraubt und ihn kraftlos gemacht – buchstäblich todmüde.
Dass er von sich sagt, er sei „unter den Toten hingestreckt“ (Vers 6) – wörtlich: frei unter den Toten – bedeutet, dass er wie alle anderen Toten frei ist von der züchtigenden Hand Gottes. Dieser Gedanke wird durch den zweiten Satz dieses Verses bestätigt. Er sieht sich selbst „wie Erschlagene, die im Grab liegen“. „Erschlagene“ erinnert an diejenigen, die im Krieg gefallen sind. Er meint damit ein Massengrab, in dem er kein Grab erhält und nicht identifiziert werden kann. Er ist zu einem anonymen Opfer geworden, zu einer Nummer. Der Psalmist meint hier einen sinnlosen Tod, einen unehrenhaften Tod.
Er fügt hinzu, dass Gott nicht mehr an sie denkt, dass Gott sich nicht mehr um sie als Lebende kümmert. „Sie sind von deiner Hand abgeschnitten.“ Mit einem toten Menschen kann Gott nicht mehr so verfahren wie mit einem lebenden Menschen. Natürlich hat Er auch Autorität über die Toten, aber hier geht es um seinen Umgang mit Menschen, die auf der Erde leben. Für den Gläubigen im Neuen Testament ist das anders. Er weiß, dass er nach seinem Tod den Herrn im Paradies preisen wird.
Er sagt Gott, dass Er ihn „in die tiefste Grube“ gelegt hat (Vers 7). Dem Gottlosen wird die tiefste (unterste) Grube gegraben (Ps 94,13). So fühlt er sich. Die Klage der Verse 4 und 5 wird nun zu einer Anklage gegen Gott. „Du hast das getan, du hast mich verworfen und verlassen.“ Damit erkennt er an, wie Gott mit ihm umgegangen ist. Genauso schreibt er im weiteren Verlauf des Psalms alles dem Handeln Gottes zu. Er sagt immer, was Gott ihm antut.
Dieses Handeln belastet ihn sehr stark. Er beschreibt die tiefste Grube als „Finsternisse“ und „Tiefen“. Es ist sozusagen ein Superlativ des Totenreiches, des tiefsten Totenreiches (vgl. Ps 86,13b). In der Alltagssprache würden wir sagen, nicht nur tot, sondern „mausetot“. Alles um ihn herum ist Finsternis. Er kann nicht nach oben blicken, zum Licht, weil er so tief im Elend versunken ist.
Er sagt Gott, dass sein Grimm auf ihm „liegt“ (Vers 8). „Liegt“ bedeutet wörtlich „ruht auf“ im Sinn von „zermalmt“. Die Bedeutung ist: „Dein Grimm zermalmt mich“. Es ist, als ob Gottes Grimm zur Ruhe kommt, indem Er ihn erdrückt, so sehr fühlt er sich selbst als Ziel dieses Grimmes.
Er wird von allen Wellen Gottes „niedergedrückt“. Das erinnert an den Herrn Jesus, aber sein Leiden geht weit darüber hinaus. Am Kreuz, in den drei Stunden der Finsternis, gingen Er alle Wellen des Zorns Gottes über Ihn, weil die Sünden der Seinen auf Ihn gelegt wurden. Das ist bei Heman nicht der Fall. Die Wellen der Bedrängnis kommen über ihn allein und betreffen ihn allein. Es ist Gottes Zucht oder Erziehung, um die Seinen zu sich zu ziehen. Heman ist hier ein Typus des Überrestes von Israel in der Endzeit. Dies ist die Unterweisung, die die Maskilim erhalten und an andere weitergeben werden.
Diese Bedrängnis betrifft auch seine Einsamkeit und die Ablehnung durch seine „Bekannten“ (Vers 9; Vers 19). Das hat auch Hiob erlebt (Hiob 19,13.14). Er sagt Gott, dass Er sie weit von ihm „entfernt“ hat. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, hat Er ihn ihnen auch noch „zum Gräuel gesetzt“. Er ist nicht nur verlassen worden, sondern seine Bekannten gehen ihm aus dem Weg. Für sie ist er wie ein Aussätziger, jemand mit einer ansteckenden, stinkenden Krankheit, von dem man sich fernhalten muss (vgl. 3Mo 13,46). Das sehen wir auch bei dem Herrn Jesus (Ps 102,8).
Der Psalmist ist also in seiner eigenen Situation „eingeschlossen“. Dies ist der Zustand eines Aussätzigen (3Mo 13,46). Heute – wir schreiben April 2020, während der Corona-Krise – würden wir sagen: „Er ist in Quarantäne.“ In seinem Leiden ist er auch isoliert in der Einsamkeit. Heman selbst hat keine Kraft, sich aus seiner Bedrängnis und seinem Leiden zu befreien. Um ihn herum gibt es niemanden, der sich um ihn kümmert und ihm Hilfe und Trost spendet. Er fühlt sich wie Hiob, der darüber klagt, dass Gott ihm den Weg versperrt hat und er deshalb nicht zum Licht kommen kann (Hiob 3,23).
Sein Auge, das auf Gott blickt, um Erlösung aus seiner Bedrängnis zu finden, „verschmachtet vor Elend“ (Vers 10). Er befindet sich geistlich in tiefstem Elend. Er schreit „jeden Tag“ zum „HERRN“, dem Gott des Bundes. Gott wird doch nicht vergessen, dass Er mit seinem Volk, zu dem er gehört, einen Bund geschlossen hat, um es zu segnen, oder? Heman, ein Bild völliger Hilflosigkeit, breitet seine Hände zu Ihm aus. Zu wem sonst kann er seine Hände ausbreiten? Er weiß, dass nur Gott ihm helfen kann. Wenn nur Gott seine ausgestreckte Hand ergreift, wird er befreit werden.
11 - 13 Fragen
11 Wirst du an den Toten Wunder tun? Oder werden die Schatten aufstehen, dich preisen? – Sela.
12 Wird deine Güte im Grab erzählt werden, im Abgrund deine Treue?
13 Werden deine Wunder in der Finsternis bekannt werden und deine Gerechtigkeit im Land der Vergessenheit?
Anschließend stellt Heman dem HERRN eine Reihe von Fragen. Es sind Fragen, die sich ihm aufdrängen, während er an der Schwelle des Todes steht. Es sind Fragen nach dem Lobpreis Gottes, der nicht von den Toten, sondern von den Lebenden geschieht (vgl. Jes 38,18.19). Es sind keine Fragen des Unglaubens, sondern Fragen, die aus einer begrenzten Gotteskenntnis infolge extremer Bedrängnis und Verzweiflung entstehen, die den Blick auf Ihn und sein Handeln verstellt. In ihnen steckt auch der Glaube.
Seine erste Frage greift den Gedanken auf, dass Gott „an den Toten Wunder“ tun kann (Vers 11). In seiner zweiten Frage wird er konkreter und fragt, ob die Schatten, d. h. die Verstorbenen auferstehen werden, um Ihn zu preisen. Unter den Gläubigen des Alten Testaments gibt es die Vorstellung, dass Lobpreis – und der HERR wohnt bei den Lobgesängen Israels (Ps 22,4) – nur durch lebende Menschen möglich ist (Ps 6,6; vgl. Ps 30,10; 115,17).
Der Zustand derer, die gestorben sind, ist ihnen verborgen. Sie verbinden den Lobpreis Gottes und das Reden von seiner Güte mit dem Leben auf der Erde (Vers 12). Das kann vor ihrem Tod und in der Auferstehung nach ihrem Tod sein. Von der Situation „im Grab“ und „im Abgrund“, die sich auf den Körper bezieht, haben sie kein Verständnis. [Anmerkung: Der Herr Jesus ging zwar in das Grab, aber sein Leib hat die Verwesung nicht gesehen (Ps 16,10; Apg 2,24–27)].
Deshalb wünscht sich Heman, dass Gott ihn aus seinem Elend befreit. Wie wird er dann von seiner Güte und Treue erzählen! Wir wissen, dass die Gläubigen, die in Christus entschlafen sind, bei Christus sind, bei Ihm im Paradies sind, wo sie Ihn ständig preisen und verherrlichen (Lk 23,43; Phil 1,23).
Für den Gläubigen des Alten Testaments ist der Tod mit „Finsternis“ verbunden (Vers 13). Es ist kein Licht vorhanden. Nur im Licht sind die Wunder Gottes zu erkennen. Für ihn bedeutet der Tod, „im Land der Vergessenheit“ zu sein. Das Land der Vergessenheit ist das Land, in dem der Toten nicht mehr gedacht wird. Die Gerechtigkeit wird dort nicht bekannt gemacht.
Der neutestamentliche Gläubige lebt im Licht und in voller Erinnerung an die Gerechtigkeit Gottes, die er durch den Glauben an Christus empfangen hat. Er wird Gott täglich dafür preisen und ihr Wunder in der Finsternis der Welt, in der er lebt, bekannt machen. Wenn er gestorben ist und bei dem Herrn ist, dann geschieht dies aufgrund dieser Gerechtigkeit. Das wird der Anlass sein, Ihn auf ewig zu preisen.
14 - 19 Verworfen
14 Ich aber, HERR, schreie zu dir, und am Morgen kommt mein Gebet dir zuvor.
15 Warum, HERR, verwirfst du meine Seele, verbirgst dein Angesicht vor mir?
16 Ich bin elend und verscheide von Jugend an; ich trage deine Schrecknisse, bin verwirrt.
17 Deine Zorngluten sind über mich hingegangen, deine Schrecknisse haben mich vernichtet.
18 Sie haben mich wie Wasser umringt den ganzen Tag, sie haben mich allesamt umgeben.
19 Freund und Genossen hast du von mir entfernt; meine Bekannten sind Finsternis.
Mit dem Wort „aber“ (Vers 14) weist Heman auf den Gegensatz zum Jenseits hin. Nach seinen Fragen nach dem Jenseits und seiner Schilderung der dortigen Situation lässt er durch sein Schreien erkennen, dass er sich noch im Land der Lebenden befindet. Im Totenreich herrscht Stille, Finsternis und Vergessenheit, aber er ist nicht still. Er schreit zum HERRN, denn er ist noch immer im Elend.
Im Gebet des Psalmisten geht es nun nicht mehr um die Frage der Erlösung, sondern darum, warum er immer noch im Elend ist. Er versteht die Wege Gottes nicht. Seine Wege sind so hoch, dass er sie nicht verstehen kann. Der Psalmist und später, in der Endzeit, der Überrest und die Maskilim ringen mit dieser Frage.
Im Neuen Testament kann der Gläubige, der die Liebe Gottes im Herrn Jesus kennengelernt hat, sagen: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle [Dinge] zum Guten mitwirken“ (Röm 8,28). Er kann sagen: „Alles vermag ich in dem, der mich kräftigt“ (Phil 4,13).
Er hat bereits gesagt, dass er „am Tag … und bei Nacht“ zu Gott schreit (Vers 2) und dass er „jeden Tag“ zu Gott ruft (Vers 10). Jetzt sagt er, dass sein Gebet „am Morgen“ vor Gott „zuvor kommt“. Damit zeigt er auf wunderbare Weise, dass er in seinem Gebet frühmorgens, gleich nach dem Aufwachen, eine Begegnung mit Gott haben möchte. Er betet weiter, auch wenn er keine Antwort erhält.
Er fühlt sich vom HERRN verworfen (Vers 15). Aber „warum“ hat Er ihn verworfen, fragt er. Er sieht keinen Grund, warum Er ihn verworfen hat, und doch hat Er es getan. Heman fleht den HERRN weiter an, obwohl er sich verworfen fühlt. Weil er immer weiter drängt, Gott aber nicht antwortet, stellt er seine zweite „Warum-Frage“. Diese ist warum Gott sein Angesicht vor ihm verbirgt. Er versteht das alles nicht. Er liebt Gott und möchte in seiner Gegenwart sein, aber Gott lässt sich nicht finden.
Das bringt ihn zur Verzweiflung (Vers 16). Wir sehen den gleichen Kampf bei Hiob. Er befindet sich in einem so elenden Zustand. „Von“ seiner „Jugend an“ hat er als hingegebener Gläubiger mit Leiden zu tun gehabt (vgl. Ps 129,1). Er ist damit vertraut. Von Jugend an hat er sein Vertrauen auf den HERRN gesetzt und ist darin nie beschämt (vgl. Ps 71,5), aber jetzt scheint dieses Vertrauen nicht zu funktionieren.
Er trägt nicht die Gunst Gottes, sondern seine Schrecknisse. Das macht ihn „verwirrt“. Er weiß nicht mehr, was er tun soll. Von Rebellion ist keine Rede, aber er versteht es nicht mehr. Wie kann es sein, dass Gott, den er so sehr liebt, sich ihm gegenüber so verhält, als wäre er sein Feind (vgl. Hiob 30,21).
Das Elend, in dem sich Heman befindet, erlebt er als „Zorngluten“ Gottes, die über ihn kommen (Vers 17). Es sind die „Schrecknisse“ Gottes, Schrecknisse, die von Gott ausgehen. Wie soll er ihnen widerstehen können? Es ist unmöglich. Die einzige Wirkung, die sie haben, ist, dass sie ihn „vernichten“. Die Schrecknisse Gottes bedeuten für ihn den Tod.
Sie umringen ihn ohne Unterlass „wie Wasser … den ganzen Tag“ (Vers 18). Er bekommt keine Luft und droht darin zu ertrinken. Sie haben ihn „allesamt umgeben“. Sie sind wie ein Heer, das Gott gegen ihn aufgestellt hat und bei dem jeder Soldat ausnahmslos den Pfeil auf ihn gerichtet hat. So hat sich Hiob über die Schrecknisse geäußert, die über ihn gekommen waren (Hiob 6,4; 27,20).
Heman schließt seine Unterweisung ab, indem er noch einmal auf die große Einsamkeit hinweist, in die Gott ihn gebracht hat (Vers 19; Vers 9). Gott verbirgt sich vor ihm, und Er hat auch „Freund und Genossen“ weit von ihm „entfernt“. Er ist ganz allein in seinem Leiden. Seine „Bekannten“ sind nicht in der Finsternis, aber sie selbst „sind Finsternis“.
Das letzte Wort des Heman ist „Finsternis“. Damit scheint der Psalm einen absoluten und hoffnungslosen Tiefpunkt erreicht zu haben. Viele Psalmen gehen von der Finsternis zum Licht. Das ist hier nicht der Fall. Dennoch spricht das Ende nicht von Verzweiflung. Heman hat sich an Gott gewandt. Gott wird seinen Schrei erhören. Er wird es zu seiner Zeit tun. Wenn es Neumond ist, wenn der Mond keinen einzigen Lichtstrahl mehr zeigt, wenn tiefe Finsternis herrscht, dann ist das zugleich der Beginn des Laufs zum Vollmond.
So kann es im Leben eines Gläubigen sein, dass alle Hoffnung auf Rettung dahin ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass alle Gebete vergeblich waren. Manchmal müssen wir einen solchen Tiefpunkt erreichen, um zur völligen Hingabe zu gelangen. Dann sehen wir, dass Gott am Werk ist.
Letztlich wird der Psalmist lernen müssen, dass der Weg Christi zur Herrlichkeit durch Leiden führt. Deshalb hat der Herr sein Leiden dreimal angekündigt (Lk 9,22.44; 18,31–34) und die Jünger, die in Emmaus gingen, belehrt: „Musste nicht der Christus dies leiden und in seine Herrlichkeit eingehen?“ (Lk 24,26). Eine ähnliche Lektion muss der Überrest lernen; eine ähnliche Lektion müssen wir heute lernen (Röm 8,17b).