Einleitung
Mit Psalm 107 beginnt das fünfte und letzte Buch der Psalmen. Dieses letzte Buch – Psalmen 107–150 – beschreibt die Wege Gottes mit seinem Volk, d. h. dem treuen Überrest, wie Er es aus der Gefangenschaft in sein Land zurückbringt (Verse 2.3). Dies ist die Antwort Gottes auf das Gebet am Ende des vierten Buches (Ps 106,47). Die sogenannten Stufenlieder (Psalmen 120–134) beschreiben dies. In ihnen hören wir die Gefühle sowohl der zwei als auch der zehn Stämme.
Dieses fünfte Buch kann mit dem 5. Buch Mose, verglichen werden. In diesem Buch befindet sich das Volk am Ende der Wüstenwanderung und steht kurz vor dem Einzug in das gelobte Land. Mose gibt einen Rückblick auf Israels Reise durch die Wüste und einen Ausblick auf das gelobte Land.
Das sehen wir auch in diesem fünften Buch der Psalmen. Psalm 107, der erste Psalm dieses Buches, beschreibt die verschiedenen Ereignisse und Umstände, die das Volk durchlebte, bevor es das Land betrat. Es ist eine Beschreibung von Prüfungen und Drangsalen, in denen sie den HERRN, sein Wort und seine Wege besser kennen lernten und Ihn dafür loben und preisen.
Wir finden in diesem Psalm vier Beispiele dafür, die gleichzeitig eine Einteilung des Psalms bilden:
1. Die Wüste. In ihr wanderten sie umher (Verse 4–9).
2. Die Gefangenschaft. Sie sind Gefangene der Völker gewesen (Verse 10–16).
3. Ihre Übertretungen. Infolgedessen wurden sie krank und waren dem Tod nahe (Verse 17–22).
4. Die große Drangsal und der Grimm, durch die sie hindurchgegangen sind, dargestellt durch den Sturm (Verse 23–32).
1. Die Antwort auf ihre Wanderschaft in der Wüste (Verse 4–9) ist die Stadt mit Fundamenten.
2. Die Antwort auf ihre Gefangenschaft (Verse 10–16) ist die Rückkehr.
3. Die Antwort auf ihre Krankheiten (Verse 17–22) ist die Heilung.
4. Die Antwort auf den Sturm (Verse 23–32) ist der ersehnte Hafen, das Friedensreich.
Gott hat das Volk immer wieder errettet, wenn es zu Ihm geschrien hat. Auch in der Zukunft, wenn sie in der großen Drangsal sind, wird Er sie erhören, wenn sie zu Ihm schreien. Jedes Mal wird der Überrest aufgefordert, den HERRN zu preisen und Ihm zu danken.
Dies ist auch die Unterweisung, die am Ende dieses Psalms steht (Verse 33–42). Diejenigen, die sich diese Unterweisung zu Herzen nehmen, erweisen sich als weise (Vers 43). Die Weisen in der Zukunft – die Maskilim – werden die Lektion lernen, indem sie sich die Bundestreue – chesed, Güte – des HERRN zu Herzen nehmen und auf Ihn vertrauen.
1 - 3 Lobgesang auf die Erlösung
1 Preist den HERRN, denn er ist gut, denn seine Güte [währt] ewig!
2 [So] sollen die Erlösten des HERRN sagen, die er aus der Hand des Bedrängers erlöst hat
3 und die er gesammelt hat aus den Ländern, von Osten und von Westen, von Norden und vom Meer.
Der Psalm beginnt mit der Aufforderung, dem HERRN zu preisen, denn Er ist gut (Vers 1). Das Er gut ist, zeigt sich in „seiner Güte“, d. h. Er ist seinem neuen Bund als Grundlage aller Segnungen ewig treu (Ps 106,1; 108,5). Jeder Gläubige kann es mit David sagen: „Nur Güte und Huld werden mir folgen alle Tage meines Lebens“ (Ps 23,6a). Seine Güte währt ewig und versagt nie, denn der neue Bund ist ein ewiger Bund aufgrund der Kraft des Blutes Christi als Grundlage aller Segnungen (Heb 13,20).
„Seine Güte [währt] ewig“ ist ein Refrain. Er wurde und wird bei jeder Wiederherstellung Israels gesungen, die durch die Güte des HERRN geschieht:
a. Bei der Erlösung Israels aus Ägypten (Ps 136,1–26).
b. Bei der Rückkehr der Bundeslade (1Chr 16,34).
c. Bei der Rückkehr aus Babel (Esra 3,11).
d. Bei der zukünftigen Wiederherstellung Israels (Jer 33,11).
Seine Güte zeigt sich in der Erlösung seines Volkes „aus der Hand des Bedrängers“ (Vers 2). Sie waren in der Hand des Bedrängers, das heißt, in seiner Macht. Daraus sind sie von dem erlöst worden, der stärker ist als der stärkste Feind, sodass sie keine Gefahr mehr zu fürchten haben.
Prophetisch gesehen gilt dies für den treuen Überrest, der in der Zerstreuung war. Sie haben am Ende von Psalm 106 gebetet, dass sie aus der Macht der Nationen errettet werden (Ps 106,47). Hier in Psalm 107 hören wir ein Loblied über die Erhörung dieses Gebets (Verse 2.3). Sie hatten diese Antwort nicht verdient. Schließlich spricht Psalm 106 von der Zerstreuung als Gottes Strafe für ihre Rebellion gegen den HERRN (Ps 106,27). Ihre Rebellion steht in krassem Gegensatz zu Psalm 105, wo wir von ihrer Errettung durch den HERRN aus Ägypten lesen und davon, dass Er ihnen die Länder der Nationen gab (Ps 105,43.44). Die zitierten Verse aus diesen drei Psalmen zeigen, dass sie trotz ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Psalmenbüchern (dem vierten und fünften Buch) in gewisser Weise ein Triptychon, ein dreigeteiltes Gemälde, bilden.
In Vers 2 geht es um die Erlösung des treuen Überrestes der zwei Stämme. Das Wort für „erlöst“ kommt von dem hebräischen Wort für „Lösegeld“ (3Mo 25,48.49). Das bedeutet, dass es sich um Menschen handelt, die von einem mächtigen Familienmitglied aus der Sklaverei freigekauft wurden. Es geht nicht so sehr um Befreiung durch Kampf, sondern um Befreiung durch Rückkauf, wobei derjenige, der das Lösegeld gibt, das Recht hat, es zurückzukaufen, während der andere gezwungen ist, zu verkaufen, da er keine andere Wahl hat. Die Erlösten sind die Befreiten, das sind die Losgekauften des HERRN (Jes 35,9.10).
Diejenigen, die vom HERRN erlöst sind, werden ermahnt, es auch laut zu sagen. Es ist nicht möglich, dass ein Gläubiger schweigt (Ps 116,10). Es muss in Worten des Dankes, in Lobliedern oder Opfer des Lobes zum Ausdruck gebracht werden. Es geht nicht nur um Gefühle der Dankbarkeit, sondern auch um Worte der Dankbarkeit. Die Erlösung ist eine besondere Erlösung und deshalb sollte auch der Dank ein besonderer Dank sein. Er hat uns von unseren Sünden erlöst, indem Er uns nicht mit Silber oder Gold, sondern mit seinem kostbaren Blut erkauft hat (1Pet 1,18.19).
In Vers 3 geht es um den Überrest der zehn Stämme, der aus den Nationen in das Land zurückkehrt (5Mo 30,1–4). Gott wird alle, die in alle Richtungen zerstreut sind, aus den Ländern, in die sie zerstreut wurden, sammeln. Er wird sie „aus den Ländern, von Osten und von Westen, von Norden und vom Meer“ in sein Land zurückbringen (Jes 11,11.12; 43,5.6; Mt 24,31).
Dieser Vers ist in der Vergangenheit nirgendwo erfüllt worden. Die Rückkehr nach Jerusalem aus der babylonischen Gefangenschaft zur Zeit des Kores (Esra 1,1–3) kommt nur aus einer Richtung, aus Babel. Da nicht ein Jota oder ein Strichlein von Gottes Wort vergehen wird, wird sich dieser Vers noch erfüllen – und zwar bald, wie wir annehmen dürfen. Dann werden alle zwölf Stämme, die sich noch in der Zerstreuung befinden, aus allen Richtungen nach Israel zurückkehren.
Wir haben dies seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in der Aliyah, der Rückkehr von Juden aus allen Teilen der Welt nach Israel, gesehen. Prophetisch gesehen geht es um die Zeit, in der das Tier, der Antichrist und der König des Nordens beseitigt werden. Die zehn Stämme sind aus der Zerstreuung ins Land zurückgekehrt und haben sich dort mit den zwei Stämmen vereinigt. Das ganze Volk ist dann wieder im Land, alle zwölf Stämme, das heißt, ein Überrest von ihnen.
Für uns Christen ist der Herr Jesus gestorben, um uns, die wir zerstreute Kinder Gottes sind, in eins zu sammeln (Joh 11,52; vgl. 1Kor 12,13).
4 - 9 Auf rechtem Weg geleitet
4 Sie irrten umher in der Wüste, auf ödem Weg, sie fanden keine Wohnstadt.
5 Hungrig waren sie und durstig, es verschmachtete in ihnen ihre Seele.
6 Da schrien sie zu dem HERRN in ihrer Bedrängnis, [und] aus ihren Drangsalen errettete er sie.
7 Und er leitete sie auf rechtem Weg, dass sie zu einer Wohnstadt gelangten.
8 Mögen sie den HERRN preisen wegen seiner Güte und wegen seiner Wundertaten an den Menschenkindern!
9 Denn er hat die dürstende Seele gesättigt und die hungernde Seele mit Gutem erfüllt.
In diesem Abschnitt geht es um das Umherirren in der Wüste (Vers 4). Er bezieht sich auf Menschen, die umherirren, die sich verirrt haben, die keine sichere Stadt haben, in der sie wohnen können. Das hebräische Wort für „umherirren“ hier ist nicht dasselbe wie „umherirren“ in 4. Mose 32 (4Mo 32,13). In 4. Mose 32 hatten sie sich auf der Wüstenwanderung nicht verirrt, denn sie wurden von der Wolkensäule auf ihrer zielgerichteten Wanderschaft geführt.
Diejenigen, die den Überrest aus den zwei Stämmen und den zehn Stämmen bilden, sind in der Wüste dieser Welt umhergeirrt „auf ödem Weg“. Das erinnert an den Fluch über Kain. Durch seine Sünde, den Mord an seinem Bruder Abel, wurde Kain zu einem Umherirrenden auf der Erde (1Mo 4,12). So ermordete Israel Christus, und auch Israel musste in der Wüstengegend der Welt umherziehen. Die Welt wurde für sie zu einer „Begräbnisstätte für Fremde“, zu einem Stück Land, das sie mit den dreißig Silberlingen kauften, die sie ihren Herrn wertschätzten (Sach 11,12.13; Mt 27,9.10).
Nirgendwo fanden sie eine „Wohnstadt“. Sie waren in der Wüste auf der Suche nach einer Stadt, um Ruhe und Sicherheit zu finden. Sie sehnten sich danach, aber in der Wüste gibt es nirgendwo auch nur einen Weg, um diese Ruhe zu finden. Eine Wohnstadt würden sie im verheißenen Land finden. Das ist Jerusalem, die Stadt, in der der HERR wohnt (Hes 48,35). Wo Er wohnt, gibt es Ruhe und Sicherheit.
Prophetisch gesehen ist die Wüste „die Wüste der Völker“ (Hes 20,35), in die der HERR die Israeliten wegen ihrer Untreue zerstreut hatte (Ps 106,25–27; 5Mo 28,64). Die Rückkehr von dort und der Einzug in das verheißene Land ist die endgültige Erfüllung. Die Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft in das Land Israel ist nicht die endgültige Erfüllung, aber sie ist eine Vorerfüllung. Der HERR sagt dies im Hinblick auf das, was Er in der Zukunft tun wird: „Siehe, ich wirke Neues; jetzt sprosst es auf; erkennt ihr es nicht? Ja, ich mache durch die Wüste einen Weg, Ströme durch die Einöde“ (Jes 43,19).
In der Wüste waren sie „hungrig und durstig“ (Vers 5). Darüber murrten sie, denn „es verschmachtete in ihnen ihre Seele“. Der Weg war voll von Elend und Kummer. Sie waren müde und geschwächt. Das war die Folge ihres Unglaubens, ihrer Unruhe und ihrer Unzufriedenheit. Sie sahen nur die miserablen Umstände und nicht den HERRN, der sich jeden Tag so treu um sie kümmerte.
Dann tun sie das einzig Richtige, was ein Mensch tun kann, wenn er in Bedrängnis ist und wozu Gott ihn in dieser Bedrängnis auch gebracht hat: „Da schrien sie zu dem HERRN in ihrer Bedrängnis“ (Vers 6; vgl. Hos 5,15; 6,1). Die Antwort Gottes lässt nicht auf sich warten: „Aus ihren Drangsalen errettete er sie.“ Dieser Vers zieht sich wie ein Refrain durch den ganzen Psalm (Verse 13.19.28). Er ist das Hauptthema des Psalms: Wenn das Volk Gottes in Bedrängnis ist und zum HERRN schreit, rettet und befreit Er es.
Bei Gottes Bund, seiner Verheißung an Abraham, zeigte der HERR einen rauchenden Ofen und eine brennende Fackel als Zeichen dafür, dass Er Trübsal und Bedrängnis als Mittel einsetzen würde, um sein Volk zu Ihm zurückzubringen (1Mo 15,17). Die Bedrängnis ist das Ergebnis von Gottes Werk, das die Herzen der Menschen durchpflügt (die Bedrängnis bringt sie zum Beten), um einen fruchtbaren Boden für die Aussaat des Wortes vorzubereiten. An dieses Wort können sie glauben und durch es gerettet und erlöst werden (Jes 28,23–25). Das Pflügen ist eine Voraussetzung für die Aussaat.
Nachdem Gott sie aus ihrer Not errettet hatte – als Antwort auf die Not in Vers 4 – übernahm Er auch die Leitung des Volkes (Vers 7). „Er leitete sie auf rechtem Weg“, einem Weg, der direkt zu seinem Ziel führte. Dieses Ziel war das verheißene Land. Unter seiner Leitung gelangten sie „zu einer Wohnstadt“ (vgl. Vers 36). In dem Land gab es Städte für das ganze Volk. In einer dieser Städte zu wohnen, bedeutete das Ende ihres Umherirrens durch die Wüste.
Die Segnungen von Essen und Trinken, die Leitung in der Wüste und eine Stadt, in der man wohnen kann, sind ein großer Gegensatz zum Umherirren in der Wüste und zum Murren über ihren Mangel. Dies ist nicht die Stadt der Menschen, Babel, die eine Stadt mit einem Turm ist, sondern die Stadt mit Grundlagen, „deren Baumeister und Schöpfer [oder: Werkmeister] Gott ist“, die Stadt, die Gott Abraham gezeigt hat (Heb 11,10).
Der empfangene Segen muss vor dem Hintergrund des Murrens dazu führen, dass sie „den HERRN preisen wegen seiner Güte und wegen seiner Wundertaten an den Menschenkindern“ (Vers 8). Das Preisen in diesem Vers ist in zwei Gebetserhörungen enthalten: Vers 7 als Antwort auf Vers 4 und Vers 9 als Antwort auf Vers 5. Die Wunder, für die sie dem HERRN hier preisen, haben mit der Rückkehr in das verheißene Land zu tun, während sich die Wunder in Psalm 105 und Psalm 106 auf das Rote Meer beziehen, auf das, was Er dort tat.
Er hat ihnen nicht gegeben, was sie verdient haben, sondern aus der Fülle seiner Güte heraus. Er handelt gemäß dem Bund, der in 3. Mose 26 erwähnt wird (3Mo 26,40–42): Wenn der Überrest Buße tun würde, dann und nur dann könnte der HERR ihnen seine Güte erweisen.
Er hat „die dürstende Seele gesättigt“ (Vers 9). Er hat dies getan, indem Er sie in eine Wohnstadt gebracht hat. Auf diese Weise wurde ihr Durst nach Gott gestillt (vgl. Ps 42,1.2). Dasselbe gilt für „die hungernde Seele“. Er füllte die hungernde Seele „mit Gutem“ (Lk 1,53; Mt 5,6). Er füllt die Seele mit Frieden und Freude. Hunger und Durst beziehen sich auf geistlichen Hunger und Durst (vgl. Jes 55,1.2). Es ist der Hunger nach dem Wort Gottes (5Mo 8,3; Mt 4,4). Die Befriedigung dieses Hungers ist die Antwort des HERRN auf das Bedürfnis in Vers 5.
10 - 16 Aus der Finsternis heraus geführt
10 Die Bewohner der Finsternis und des Todesschattens, gefesselt in Elend und Eisen:
11 Weil sie widerspenstig gewesen waren gegen die Worte Gottes und verachtet hatten den Rat des Höchsten,
12 so beugte er ihr Herz durch Mühsal; sie strauchelten, und kein Helfer war da.
13 Da schrien sie zu dem HERRN in ihrer Bedrängnis, [und] aus ihren Drangsalen rettete er sie.
14 Er führte sie heraus aus der Finsternis und dem Todesschatten und zerriss ihre Fesseln.
15 Mögen sie den HERRN preisen wegen seiner Güte und wegen seiner Wundertaten an den Menschenkindern!
16 Denn er hat zerbrochen die ehernen Türen, und die eisernen Riegel zerschlagen.
Dieser Abschnitt bezieht sich auf die Gefangenschaft unter den Völkern und ihre Befreiung daraus. Sie waren „Bewohner der Finsternis und des Todesschattens“ (Vers 10; vgl. Ps 23,4; Lk 1,79; Jes 9,1). In einer solchen Situation zu „wohnen“ deutet auf eine hoffnungslose Lage hin. Dass sie dazu noch „gefesselt in Elend und Eisen“ waren, machte ihre Lage völlig hoffnungslos (vgl. Ps 105,18). Der Herr sagt in seiner Endzeitrede in Matthäus 25, dass dies der Anteil „der geringsten dieser meiner Brüder“ (Mt 25,39b.40) sein wird. Mit ihnen meint Er den gläubigen Überrest in der Zeit der großen Drangsal.
In ihren Seelen herrschte Finsternis, „Todesschatten“ umgab sie, sie fühlten sich elend und konnten wegen der eisernen Fesseln nicht gehen. Der Grund für die Gefangenschaft war ihre Widerspenstigkeit „gegen die Worte Gottes“ (Vers 11; vgl. 3Mo 26,33–39; Neh 9,33–37). Das Volk als Ganzes war widerspenstig gegen das, was Gott sagte, sein Gesetz. Daniel erkennt dies in seinem Bekenntnis an (Dan 9,5–8). Die Worte Gottes, sein Gesetz, enthalten „den Rat des Höchsten“. Es sind vollkommene Ratschläge mit der höchsten Weisheit, um zu seiner Ehre und zum eigenen Wohl zu leben.
Gottes Worte, sein Rat, dienen dem Volk zum Guten. Gott gibt niemals ein Gebot, das kein Rat ist, und nicht weise ist, es zu befolgen. Aber sein Volk hat seinen Rat abgelehnt. Und es ist dazu noch der Rat „des Höchsten“. Es ist nicht nur töricht, seinen Rat abzulehnen, sondern auch unverschämt und anmaßend, weil der Ratgeber so erhaben ist. Wer hat sich jemals „gegen ihn verhärtet und ist unversehrt geblieben?“ (Hiob 9,4b)?
Wenn ein Mensch sich nicht selbst demütigt, muss Gott ihn demütigen (Jak 4,10; 1Pet 5,6). Er hat das stolze, hochmütige Herz seines Volkes in Babel gedemütigt (Vers 12). Er tat das „durch Mühsal“, durch Elend, Trübsal, Enttäuschung, Kummer (vgl. 5Mo 26,7). Das zerbrach ihre Kraft, sodass sie „strauchelten“ und hinfielen.
Da lagen sie nun, völlig gedemütigt. Weil sie den Rat des Höchsten verworfen hatten, gab es „keinen Helfer“, um wieder aufzustehen. Niemand hatte Erbarmen, und Gott musste sie ausliefern, weil sie Ihn ablehnten. Das zeigt erneut die Ausweglosigkeit ihrer Situation.
Dann hören wir wieder, dass „sie zu dem HERRN schrien in ihrer Bedrängnis“ (Vers 13; Vers 6). Das ist es, worauf Gott gewartet hat. Er ist bereit, auf einen Schrei aus der Bedrängnis zu antworten. Und dann handelt Er auch. Aus „aus ihren Drangsalen rettete er sie“. Die Worte „Bedrängnis“ und „Drangsalen“ deuten darauf hin, dass sie innerlich und äußerlich in großer Bedrängnis waren, sodass sie keinen Raum hatten, ihre Bedrängnis auszudrücken oder sich zu bewegen. Aber der Weg nach oben war offen, und sie nutzten diesen Weg. Der gottlose König Manasse ist ein Beispiel dafür, wie der HERR handelt, wenn Israel sich demütigt (2Chr 33,12.13; vgl. 3Mo 26,40–42; 5Mo 30,1–3).
Gott antwortete und rettete. Er „führte sie heraus aus der Finsternis und dem Todesschatten und zerriss ihre Fesseln“ (Vers 14). Weil sie zu Gott geschrien hatten, wurden sie von Ihm aus der Situation herausgeführt, in die sie durch die Widerspenstigkeit gegen Gottes Worte geraten waren (Verse 10.11). Die Fesseln des „Elends und Eisen“, die Symbole ihrer Knechtschaft, in denen sie gefangen waren, zerriss Er, indem Er seinen Knecht, den Messias, sandte (Jes 42,6; 49,9; 61,1).
Für diese unerwartete Wendung zum Guten werden sie erneut aufgefordert, den HERRN zu preisen (Vers 15). Wie in der ersten Strophe (Verse 4–9) ist diese Aufforderung zwischen zwei Gebetserhörungen eingebettet: Vers 14 ist die Antwort auf das Gebet in Vers 10a, und Vers 16 ist die Antwort auf das Gebet in Vers 10b (vgl. Ps 50,15).
Nur „wegen seiner Güte“ wurden sie aus ihrem Elend gerettet. Ihm gebührt dafür alle Ehre. Es ist auch Gottes Absicht, dass sie Ihm „wegen seiner Wundertaten an den Menschenkindern“ preisen. Es ist ein Zeugnis für die Menschen um uns herum, wenn wir Gott für das Wunder der Erlösung preisen, das Er uns durch seinen Sohn geschenkt hat. Preisen wir Ihm wirklich alle? Oder muss der Herr auch uns fragen, wie Er es bei der Reinigung der zehn Aussätzigen tat, von denen nur einer zurückkehrte, um Ihn zu danken: „Sind nicht die zehn gereinigt worden? Wo sind aber die neun?“ (Lk 17,16.17).
Als Grund, den HERRN zu preisen, wird erneut betont, was Er für sie getan hat (Vers 16). Er hat „die ehernen Türen“ des Gefängnisses zerbrochen. Ist das nicht eine erstaunliche Sache? Diese Türe konnten nur durch die Macht Gottes zerbrochen werden.
Diese Gefängnistüre waren mit „eisernen Riegel zerschlagen“ (vgl. Vers 10; Ps 105,18). Es war sozusagen doppelt unmöglich, sich von sich selbst daraus zu befreien. Aber auch diese eisernen Riegel wurden von Gott „zerschlagen“. Gott hat nicht nur die Türe geöffnet und die Riegel gelockert, sondern sie radikal zerbrochen, sie außer Kraft gesetzt. Das Zerbrechen ist so gründlich, dass eine Wiederverwendung unmöglich ist.
17 - 22 Befreit aus den Gruben
17 Die Toren leiden wegen des Weges ihrer Übertretung und wegen ihrer Ungerechtigkeiten.
18 Ihre Seele verabscheut jede Speise, und sie kommen bis an die Pforten des Todes.
19 Dann schreien sie zu dem HERRN in ihrer Bedrängnis, [und] aus ihren Drangsalen rettet er sie.
20 Er sendet sein Wort und heilt sie, und er befreit sie aus ihren Gruben.
21 Mögen sie den HERRN preisen wegen seiner Güte und wegen seiner Wundertaten an den Menschenkindern
22 und Opfer des Lobes opfern und mit Jubel erzählen seine Taten!
Dieser Abschnitt beschreibt die Bedrängnis des Volkes kurz vor dem zweiten Kommen des Herrn Jesus. Das Volk Gottes ist ein Volk von Toren (Vers 17; vgl. 5Mo 32,6a). Sie berücksichtigen Gott nicht (Ps 53,1–7). Der Weg eines solchen Volkes kann nur ein „Weg der Übertretung“ sein. Im Leben solcher Menschen häufen sich „Ungerechtigkeiten“ an (vgl. Jes 59,12).
Das Ergebnis kann nicht anders sein, als dass sie unter allen möglichen Plagen und Krankheiten „leiden“ (vgl. Jes 38,1). Sie haben sich diese Plagen und Krankheiten durch ihren Lebensstil ohne Gott selbst zugefügt. Sicherlich ist Krankheit nicht immer eine Folge der Sünde (Joh 9,1–3), aber sie kann es sein, wie hier (vgl. Jak 5,15).
Die Leiden, die sie sich selbst zufügten, führten dazu, dass „ihre Seele jede Speise verabscheut“ (Vers 18). Zugleich können wir von einer solchen Krankheit auch sagen, dass sie ein Reden Gottes zu den Menschen ist (Hiob 33,14). Ihre Abscheu vor der Speise kam nicht von Ihm, sondern von ihrem kranken Lebensstil, der sie krank gemacht hatte. Ein kranker Mensch hat nicht nur keine Kraft, Speise zu sich zu nehmen, er will sie auch nicht, er würgt bei dem Gedanken an sie. Es ist eine Situation, in der sie dem Tod nahe sind, „bis an die Pforten des Todes“ (Hiob 33,19–22).
Zum dritten Mal ist es eine Situation, in der es keine Aussicht auf Besserung oder Rettung gibt. Zum dritten Mal veranlasst diese Notlage sie dazu, „zum HERRN“ zu schreien (Vers 19; Verse 6.13). Und wieder antwortet Er, indem Er sie aus ihrer Bedrängnis und Drangsal rettet. Der Schrei in der Bedrängnis impliziert die Erkenntnis, dass Gott die Bedrängnis zu Recht hat entstehen lassen.
Gott rettete sie aus ihrer Bedrängnis wegen der tödlichen Krankheiten, indem Er sein Wort sandte und sie heilte (Vers 20; vgl. 5Mo 32,39). Was mit Hiskia geschah, ist ein Beispiel dafür (Jes 38,1–22). Wir können seine Erfüllung im Kommen des Sohnes Gottes, des fleischgewordenen Wortes Gottes, sehen. Die Berichte, die wir in den Evangelien über sein Leben auf der Erde haben, bezeugen dies. Wir lesen, dass Er während seines Lebens auf der Erde Menschen heilte und sie „aus ihren Gruben“ befreite. Diese Menschen waren dem Tod nahe, aber Er nahm sie von den Pforten des Todes weg, damit sie nicht dem Tod zum Opfer fielen (Mt 8,17; Mk 1,34; Apg 10,38).
Diese wundersamen Heilungen und Befreiungen sind wiederum der Anlass, den HERRN zu preisen (Vers 21; Verse 1.8.15.31; vgl. Jes 38,20). Wiederum wird die Aufforderung, den HERRN zu preisen, eingebettet in die Erhörung des Gebets (Vers 20) und das Opfern von Opfer des Lobes (Vers 22) anstelle eines sündigen Lebenswandels.
Sie sind die Beweise für „seine Güte“. Sie sind auch „seine Wundertaten an den Menschenkindern“. Gott zeigt immer wieder, wie gut Er zu den Menschen ist. Wir dürfen Gott danken, dass Er sein schuldig gewordenes und leidendes Volk nicht vergessen hat und wünschen uns, dass alle um uns herum das sehen.
Sie können ihre Dankbarkeit für die erfahrene Güte und die Wunder der Heilung zeigen, indem sie Ihm „Opfer des Lobes opfern“ (Vers 22). Ein Opfer des Lobes opfern ist eine Form des Friedensopfers. Es spricht von der Gemeinschaft mit dem HERRN und mit den Gliedern des Volkes Gottes als Folge dessen, was Er, der so gut zu ihnen war, getan hat.
Dann will Er auch, dass sie „mit Jubel erzählen seine Taten“. Wahre Dankbarkeit äußert sich in erster Linie darin, dass man Gott dankt, und dabei wird sie nicht stehen bleiben. Ein dankbares Herz möchte auch, dass andere davon hören und an diesen Gott glauben. Deshalb werden sie mit leidenschaftlicher Freude bezeugen, was Gott in ihrem Leben getan hat.
23 - 32 Der Sturm verwandelt in Stille
23 Die sich auf Schiffen aufs Meer hinabbegeben, auf großen Wassern Handel treiben,
24 diese sehen die Taten des HERRN und seine Wunderwerke in der Tiefe:
25 Er spricht und bestellt einen Sturmwind, der hoch erhebt seine Wellen.
26 Sie fahren hinauf zum Himmel, sinken hinab in die Tiefen; es zerschmilzt in der Not ihre Seele.
27 Sie taumeln und schwanken wie ein Betrunkener, und zunichte wird all ihre Weisheit.
28 Dann schreien sie zu dem HERRN in ihrer Bedrängnis, und er führt sie heraus aus ihren Drangsalen.
29 Er verwandelt den Sturm in Stille, und es legen sich die Wellen.
30 Und sie freuen sich, dass sie sich beruhigen, und er führt sie in den ersehnten Hafen.
31 Mögen sie den HERRN preisen wegen seiner Güte und wegen seiner Wundertaten an den Menschenkindern
32 und ihn erheben in der Versammlung des Volkes, und in der Sitzung der Ältesten ihn loben!
Nach dem Umherirren in der Wüste der Völker in der ersten Strophe (Verse 4–9), der Gefangenschaft in der zweiten Strophe (Verse 10–16) und dem Erleiden der tödlichen Krankheit in der dritten Strophe (Verse 17–22), sehen wir nun das Volk sich „aufs Meer hinabbegeben“ (Vers 23). Das Meer ist ein Bild für die Völker. In der Vergangenheit trieb Israel Handel mit den Völkern (vgl. 1Mo 49,13). Sie waren „auf großen Wassern“: Sie haben mit großen Völkern Handel getrieben. Salomo war ein Mann des Handels. Er baute eine Flotte. Das waren keine Ausflugsschiffe, sondern Handelsschiffe (1Kön 9,26–28; 10,22).
Es ist bemerkenswert, dass die Ausdrücke „Taten“ und „Wunderwerke“ (Vers 24) auch in den Versen 21 und 22 erwähnt werden, wo sie sich auf Erlösungswerke und Heilungswunder in der Vergangenheit beziehen. Bei den Taten und Wunderwerken des HERRN können wir hier an den Sturmwind und die Befreiung aus der Tiefe denken (Verse 25.29; vgl. Mt 8,23–27).
Dazu kommt, dass das Meer bedrohlich ist, voller Gefahren (Vers 25). Stürme auf dem Meer sind viel heftiger als an Land. Gott lässt den Sturm aufkommen. Dazu braucht Er nur zu sprechen. Das bedeutet, dass die Zerstreuung seines Volkes unter die Völker, weil sie den Messias abgelehnt haben, das Werk des HERRN ist.
Im Leben des Jona sehen wir „einen Sturmwind, der hoch erhebt seine Wellen“. Jona war einem Befehl Gottes ungehorsam. Er floh und zwar mit einem Schiff. Da schickte der HERR einen Sturm, der das Schiff zu zerbrechen drohte (Jona 1,1–4). Das Buch Jona wird in Israel am Versöhnungstag gelesen, weil man in Jona das Volk Israel erkennt, das Volk, das sich heute im Sturm des Völkermeeres befindet.
Wegen der Wellen fahren das Schiff und seine Besatzung „hinauf zum Himmel“ (Vers 26). Einen Augenblick später „sinken“ sie „hinab in die Tiefen“, und die Seele der Schiffsbesatzung „zerschmilzt in der Not“. Gegenüber der Gewalt des Meeres ist der Mensch völlig machtlos. Es ist aus und vorbei mit all seinem Gerede. Er ist mit einer Macht konfrontiert, die ihn vollständig kontrolliert und gegen die er nichts vorzubringen hat.
Das tosende Meer führte dazu, dass die Seeleute „taumeln und schwanken wie ein Betrunkener“ (Vers 27). Es beraubt den Menschen seiner ganzen Standfestigkeit und Orientierung. Das Meer ist ganz in der Hand Gottes (Hiob 38,10.11). Sein Aufruhr ist von Ihm verursacht und dient seinem Zweck (Hiob 26,12; Ps 148,8b). Dieser Zweck ist, dass „zunichte wird all ihre Weisheit“. All ihre Weisheit in Bezug auf die Schifffahrt ist angesichts der Umstände, in denen sie sich befinden, unzureichend. Sie haben keine Lösungen mehr; sie wissen nicht, was sie tun sollen. Das einzige, was sie erwartet, ist ein Seemannsgrab.
Das Bewusstsein, sich in einer ausweglosen Situation zu befinden, ist der Anfang des Weges zurück. So kamen Josephs Brüder im Gefängnis zur Umkehr, und der verlorene Sohn kam zur Besinnung, als er bei den Schweinen saß. So wird der gläubige Überrest durch die große Drangsal zum Bekenntnis und zur Läuterung gebracht werden, um wieder in eine Beziehung zum HERRN zu kommen.
Was wir hier beschrieben finden – und bei Jona im Sturm auf dem Meer und bei den Jüngern des Herrn im Sturm auf dem See veranschaulicht sehen – ist ein Bild für die Situation, in der sich der treue Überrest Israels befindet, nachdem er unter die Nationen zerstreut wurde. Sie befinden sich in ständiger Bedrängnis. Diese Bedrängnis wird am größten sein, wenn die große Drangsal kommt. Dann wird all ihre Weisheit zunichtewerden. Sie werden in ihrer Bedrängnis zu dem HERRN schreien, und Er wird sie aus ihren Drangsalen herausführen (Vers 28; Verse 6.13.19; vgl. 2Mo 3,10).
Diejenigen, die keine Aussicht haben, müssen nicht ohne Aussicht des Glaubens sein. Das sehen wir auch hier. Die Seeleute schreien zu dem, der den Sturm geschickt hat, denn der, der den Sturm bestellt, ist auch in der Lage, „den Sturm in Stille“ zu verwandeln (Vers 29). Und genau das tut Er auch. Der Wind legt sich, und „es legen sich die Wellen“. Der Herr Jesus hat einen Sturm gestillt und damit einen der vielen Beweise dafür geliefert, dass Er Gott ist (Mt 8,26; Mk 4,39; vgl. Jona 1,15). Einen deutlicheren Beweis kann man sich kaum vorstellen. Er kann auch den Sturm im Leben und im Herzen eines Menschen stillen.
Prophetisch erkennen wir die Stille nach dem Sturm, wenn der Herr Jesus den Antichristen und den König des Nordens, die einen Sturm der Verfolgung entfesselt haben, ausgeschaltet hat. So wie der Herr die Soldaten, die Ihn gefangen nehmen wollten, mit einem einzigen Wort zurückweichen und zu Boden fallen ließ (Joh 18,5.6), so wird der Herr in Zukunft seine Feinde, den Sturm, mit dem Schwert aus seinem Mund zum Schweigen bringen.
Die Stille nach dem Sturm ist ein Grund zur Freude (Vers 30). Es gibt Freude, wenn eine Situation der Bedrängnis ein Ende findet. Hier steht die Stille in direktem Zusammenhang mit der Ankunft „in den ersehnten Hafen“, was sich auf die Ruhe und den Frieden im verheißenen Land bezieht. Dorthin hat Gott sie geführt (5Mo 30,4.5). Wer lange auf dem Meer ist und viele Stürme erlebt, sehnt sich mehr und mehr nach dem Hafen. Gott ist mit seinem Volk und mit den Seinen auf dem Weg in sein himmlisches Land. Jeder Gläubige sehnt sich nach diesem Land. Wenn die Stürme im Leben zunehmen, wird auch die Sehnsucht größer.
Nach der Rettung aus großer Bedrängnis und dem Einzug in den Hafen folgt die Aufforderung, den HERRN zu preisen (Vers 31). Wie in den ersten drei Strophen ist auch hier die Aufforderung, den HERRN zu preisen, in der Antwort (Vers 30) auf ihr Gebet (Vers 28) und in der Aufforderung enthalten, den HERRN vor dem Volk und seinen Führern öffentlich groß zu machen (Vers 32).
Durch seine Güte sind sie bewahrt worden und haben Ruhe gefunden. Das gilt nicht nur für die Gefahren des Meeres, sondern auch für die Gefahren, in denen wir uns täglich befinden. Die Wunderwerke in der Tiefe in Vers 24 sind hier zu Wundertaten um Seiner selbst willen geworden. Dafür gebührt Ihm die ganze Ehre.
Was Er getan hat, gebührt alle Ehre, „in der Versammlung des Volkes“ (Vers 32). Es handelt sich nicht nur um eine persönliche Dankbarkeit, sondern um eine Dankbarkeit, die mit anderen Gläubigen geteilt wird (vgl. Ps 111,1). Die Versammlungen der Gläubigen dienen auch dazu, anderen die Erfahrungen mit dem Herrn mitzuteilen, sodass auch die Danksagung an Gott zunimmt (2Kor 1,10.11; Apg 15,3).
Ein besonderer Aufruf ergeht an „die Ältesten“, Ihn zu loben. Sie haben mehr als andere die Erfahrung gemacht, dass der Herr sie aus Drangsalen befreit hat. Die Tatsache, dass der Psalmist von „der Sitzung der Ältesten“ spricht, deutet darauf hin, dass es sich um ältere Gläubige handelt, die in der Mitte des Volkes Gottes eine Verantwortung tragen. Diese Verantwortung besteht auch darin, das Volk in der Anbetung Gottes zu leiten.
33 - 42 Die Oberhoheit des HERRN
33 Er macht Ströme zur Wüste und Wasserquellen zu dürrem Land,
34 fruchtbares Land zur Salzsteppe, wegen der Bosheit derer, die darin wohnen.
35 Er macht zum Wasserteich die Wüste und dürres Land zu Wasserquellen;
36 und er lässt Hungrige dort wohnen, und sie gründen eine Wohnstadt.
37 Und sie besäen Felder und pflanzen Weinberge, die Frucht bringen als Ertrag;
38 und er segnet sie, und sie mehren sich sehr, und ihr Vieh lässt er nicht wenig sein.
39 Und sie vermindern sich und werden gebeugt durch Bedrückung, Unglück und Jammer.
40 Er schüttet Verachtung auf Fürsten und lässt sie umherirren in pfadloser Öde;
41 und er hebt den Armen empor aus dem Elend und macht [seine] Familien den Herden gleich.
42 Die Aufrichtigen sehen es und freuen sich, und alle Ungerechtigkeit wird ihren Mund verschließen.
In den vorangegangenen Versen haben vier Situationen deutlich gemacht, dass der HERR aus der Bedrängnis rettet, wenn sein Volk zu Ihm schreit. Wir haben diese Situationen auch in der Geschichte Israels gesehen, mit dem Endergebnis, dass sie den ersehnten Hafen, das verheißene Land im Friedensreich, erreichen konnten.
Im folgenden Abschnitt wird die Situation des Volkes Gottes nicht aus der Sicht derer betrachtet, die in Bedrängnis sind, sondern aus der Sicht dessen, der alles in seiner Hand hat und alles kontrolliert (Mt 28,18; 5Mo 32,39). Er ist nicht nur der Retter, Er ist auch der erhabene, allmächtige Gott. Er ist mächtig in der Rettung, wobei Er auch mächtig darin ist, die Feinde seines Volkes zu vernichten, die versuchen, es in Knechtschaft zu halten. Um sein Volk aus der Macht Ägyptens zu befreien, verwandelte Er Ströme in eine Wüste und Wasserquellen in ein durstiges Land (Vers 33; 2Mo 14,21; vgl. Jes 50,3).
Sobald das Volk im Land war, tat Er das Gegenteil: Er machte „fruchtbares Land zur Salzsteppe, wegen der Bosheit derer, die darin wohnen“ (Vers 34). Was Er mit Sodom und Gomorra tat, ist ein Beispiel dafür. Es war ein blühendes Land (1Mo 13,10), aber „die Leute von Sodom waren sehr böse und große Sünder vor dem HERRN“ (1Mo 13,13). Deshalb verwüstete Gott Sodom und Gomorra und die ganze Ebene und machte sie zu einer Salzebene, sodass dieses Gebiet völlig unfruchtbar wurde (1Mo 18,20.21; 19,13.24.25).
Wegen der Untreue des Volkes – sie haben den Bund gebrochen und dem HERRN nicht gehorcht – wurde das Schicksal von Sodom auch ihr Schicksal. Sie sind in die Gefangenschaft gekommen. Dieses Schicksal kommt über sie als Folge des Fluchs des Bundes (5Mo 29,22–28).
Für die Treuen tut Er das Gegenteil (Vers 35). Für sie macht Er „zum Wasserteich die Wüste und dürres Land zu Wasserquellen“. Dies wird sich im Friedensreich zeigen (Jes 35,6.7). Dann wird es nicht nur den fruchtbaren Regen vom Himmel geben, sondern es werden auch Quellen aus dem Boden entspringen, aus denen ständig frisches Wasser fließt.
Das Friedensreich ist in jeder Hinsicht eine Zeit der Erquickung (Apg 3,20). „Die Hungrigen“ wandern nicht mehr hungrig und durstig durch eine Wüste (Verse 4–9), sondern „wohnen“ im Land der Erquickung (Vers 36). In einem geistlichen Sinn werden hier die, „die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten“, gesättigt (Mt 5,6).
Sie „gründen eine Wohnstadt“ (vgl. Vers 7). Sie „gründen“ diese Stadt, das heißt, sie machen sie bewohnbar (vgl. Jes 54,3). Die Städte wurden durch die Untreue des Volkes Gottes entvölkert und in Ruinen verwandelt. Jetzt, wo das Volk wieder bei Gott ist, kann es die Städte wieder aufbauen und darin wohnen. Wohnen bedeutet, die Ruhe zu genießen, die nach all den Wanderungen und Entbehrungen gekommen ist (vgl. Jes 65,21.22).
Der Eintritt in das Friedensreich bedeutet nicht, dass man nicht mehr arbeiten muss. Es ist eine Wiederherstellung der Situation im Paradies, wo es auch Arbeit gab. Arbeit ist ein Segen. Der Fluch ist von der Schöpfung genommen worden. Jetzt kann das Land beginnen, seinen vollen Ertrag zu bringen. Zu diesem Zweck „besäen sie Felder und pflanzen Weinberge“ (Vers 37). Ihre Arbeit wird „Frucht bringen als Ertrag“.
Das alles ist dem Segen Gottes zu verdanken. „Er segnet sie“ (Vers 38). Nur deshalb „vermehren sie sich sehr“. Das ist der Segen, den Er versprochen hat (1Mo 13,16; 22,17; 26,4; 32,12) und dann auch gibt. Er lässt auch „ihr Vieh nicht wenig sein“. Früher musste Er das tun, weil sie Ihm untreu waren, aber jetzt sind sie Ihm treu. Das liegt daran, dass Er ihnen ein neues Herz gegeben und sein Gesetz hineingeschrieben hat. Deshalb halten sie seine Gebote und Er segnet sie (5Mo 28,1–12).
Die Zeit des Friedensreiches ist jedoch noch nicht gekommen. Es gibt Zeiten, in denen Gott sein Volk segnet. Das ist dann der Fall, wenn es einen treuen Richter oder einen treuen König gibt, der das Volk Gottes nach seinem Gesetz regiert. Aber dann weicht das Volk wieder ab. Dann „vermindern sie sich und werden gebeugt durch Bedrückung, Unglück und Jammer“ (Vers 39). Dann muss Gott Feinde schicken, um sie zu bedrängen, oder Missernten, damit sie in ihrer Bedrängnis wieder zu Ihm schreien.
Besonders die „Fürsten“ wird Er spüren lassen, wie sehr sie abgewichen sind (Vers 40). „Er schüttet Verachtung“ auf sie“ (vgl. Hiob 12,21a). Sie sind von Ihm mit Stellung und Reichtum besonders privilegiert worden, um damit anderen Gutes zu tun. Aber sie haben diese Privilegien nur für sich selbst genutzt. Wir sehen das in der Zukunft bei den falschen Hirten und besonders beim falschen Oberhirten, dem Antichristen (Hes 34,1–6; Sach 11,15–17).
Deshalb lässt Er „sie umherirren in pfadloser Öde“. Sie kehren in einen Zustand der Leere, Vertreibung und Hoffnungslosigkeit zurück. Dies scheint sich auf die Welt jenseits des Grabes zu beziehen, das Land der ewigen Finsternis. Es gibt keinen Weg für sie. Das ist der Schrecken der Hölle und das Schicksal all derer, die den Herrn Jesus als den Weg zu Gott abgelehnt haben. Diejenigen, die Ihn nicht haben, haben keinen Weg, nicht jetzt und nicht in der Zukunft. Das ist es, was den Antichristen und mit ihm die abgefallenen Massen Israels zu erwarten haben.
Dem Fürsten gegenüber steht „der Arme“ (Vers 41). Er hat nichts, womit er sich rühmen könnte. Er ist auf die Gnade angewiesen. Diese Gnade schenkt ihm Gott. „Er hebt den Armen empor aus dem Elend“, weil er zu Ihm geschrien hat. Den armen, bedürftigen Überrest wird Er aus seinem Elend befreien und in eine sichere Festung setzen. Die endgültige und vollständige Erfüllung wird der Überrest im Friedensreich genießen.
Und Er belässt es nicht dabei, denn Er „macht [seine] Familien den Herden gleich“. Innerhalb dieser sicheren Festung sorgt Gott für eine zahlreiche Nachkommenschaft. Eine große Familie ist ein besonderer Segen Gottes, mit dem große Freude verbunden ist.
„Die Aufrichtigen sehen“ den Segen, mit dem der HERR sie überschüttet hat, „und freuen sich“ (Vers 42a). In ihnen, wie in den „Armen“ des vorigen Verses, erkennen wir den treuen Überrest, der nach der großen Drangsal gesegnet sein wird. Sie verdanken alle ihre Segnungen der Gunst Gottes.
Der Segen, den Gott seinem Volk gibt, bringt die Gottlosen zum Schweigen (Vers 42b). Die Ungerechtigkeit hat lange Zeit die Oberhand behalten und versucht, Gott zum Schweigen zu bringen, indem sie die Seinen bedrückt und getötet hat. Die Übeltäter haben sich die Rechte Gottes angemaßt und geglaubt, sie könnten sich Gottes Reich aneignen. Die Zeit wird kommen, in der Gott sie mit der Wahrheit konfrontiert. Dann werden sie keine Verteidigung mehr haben und schweigen (Mt 22,11–14).
43 Wer ist weise?
43 Wer weise ist, der wird dies beachten, und verstehen werden sie die Gütigkeiten des HERRN.
In all den beschriebenen Ereignissen sehen wir sowohl das Versagen und die Schwäche des Menschen als auch das Wirken Gottes in Vergebung, Befreiung und Wiederherstellung. Wir sehen, dass Gott über allem steht und sein Werk auch dort vollbringt, wo der Mensch es Ihm unmöglich zu machen scheint. Gerade dort zeigt Er, wie sehr Er über den Menschen erhaben ist.
Wahre Weisheit ist dort zu finden, wo es Einsicht in die Wege Gottes mit seinem Volk und mit den Menschen gibt (vgl. Hos 14,10; 5Mo 32,29; vgl. Jak 3,13–17). Wer weise ist, wird „dies beachten“, d. h. was in diesem Psalm beschrieben ist. Einsicht in die Wege des Herrn kommt durch die Betrachtung dieser Wege, insbesondere durch die Betrachtung der Ereignisse aus einer himmlischen Perspektive (Verse 33–42). Der Herr Jesus spricht diese Weisen in seiner Endzeitrede an (Mt 24,15).
Wer dies beachtet, wird erkennen, dass Gott ein barmherziger Gott ist. Niemand kann die Werke Gottes studieren, ohne zu sehen, dass es in seiner Schöpfung unzählige Satzungen und Gesetze gibt, die keinen anderen Zweck haben, als den Menschen glücklich zu machen.
In allem, was Er mit den Menschen tut, kommt seine Güte zum Ausdruck. Diejenigen, die weise sind, werden dies „beachten“ und es auf sich wirken lassen. Gottes Güte ist die Grundlage für alle Segnungen, die der Mensch im Friedensreich in Fülle genießen wird.
Der Psalm beginnt mit der Aufforderung, den HERRN zu preisen für seine Gütigkeiten, seine Bundestreue. Der Psalm endet mit dem Verstehen der Gütigkeiten – oder die Bundestreue, die auf dem Blut des neuen Bundes beruht, das gleiche Wort wie Güte in Vers 1 – des HERRN. Wenn wir diese Gütigkeiten in den Wegen Gottes, in seiner Regierung in dieser Welt, verstanden und aufgenommen haben, können wir Ihn noch mehr preisen.
In Psalm 106 sehen wir, dass das Volk Israel die Gütigkeiten des HERRN nicht beachtete (Ps 106,7), sodass es keine Weisheit erlangte und töricht blieb (Ps 107,17). In diesem Sinn ist Psalm 107 nicht nur ein Psalm des Lobes, denn der Psalm endet als Weisheitspsalm mit einer Belehrung für die Maskilim, d. h. für diejenigen, die weise sind und noch weiser werden wollen. Dies gilt für den treuen Überrest.
Für uns neutestamentliche Gläubige gilt dies in noch viel stärkerem Maße. Wir sind bereits mit allen geistlichen Segnungen in den himmlischen Örtern gesegnet (Eph 1,3). Wenn wir bei dem Herrn Jesus im Haus des Vaters sind, werden wir das volle Ausmaß davon noch mehr kennenlernen. Dort werden wir alles so sehen, wie Gott es immer gesehen hat. Diese Aussicht wird uns helfen, den Weg zu gehen, den Gott jetzt auf der Erde für uns vorgesehen hat, mit all den Fragen, die damit verbunden sind und auf die Er die Antworten hat.
Auch uns wird die Betrachtung des Wortes Gottes über die Wege und Ratschlüsse Gottes an Weisheit und geistlichem Verständnis wachsen lassen (Eph 1,3–23; Kol 1,9–29).