Einleitung
Der Psalm nennt keinen Verfasser. Es wurde angenommen, dass David ihn geschrieben hat. Dies wird durch die Septuaginta, die griechische Übersetzung des Alten Testaments, gestützt, in der erwähnt wird, dass dieser Psalm von David stammt. Er soll während seiner Flucht vor seinem rebellischen Sohn Absalom geschrieben worden sein. Dass der Schreiber seinen Namen nicht nennt, legt den Schwerpunkt auf den Inhalt des Psalms. Der Psalmist spricht von der treuen Fürsorge Gottes während seines ganzen Lebens, vom Mutterleib bis ins hohe Alter.
Hierin sehen wir eine klare prophetische Beschreibung von Gottes treuer Fürsorge für Israel vom Beginn seiner Geschichte bis zu seinem Ende. Der Psalm appelliert an diese treue Fürsorge, dass Er sie auch jetzt, am Ende ihrer Geschichte – was hier als Alter bezeichnet wird – nicht verlassen wird.
In Psalm 69 haben wir das Leiden Christi gesehen und in Psalm 70 die große Not des Überrestes. In Psalm 71 sehen wir, wie der Überrest neue Kraft aus der Erwartung des HERRN schöpft (vgl. Jes 40,30.31).
Wir sehen auch den Geist Christi in diesem Psalm. Vieles davon bezieht sich auf Ihn. Darin sehen wir seine Verbindung zum treuen Überrest in der Endzeit. Das Ende seines Lebens auf der Erde zeugt von ähnlichen Prüfungen, die bei Ihm jedoch tiefer und vollkommen sind.
1 - 4 Gebet um Rettung
1 Zu dir, HERR, nehme ich Zuflucht: Lass mich niemals beschämt werden!
2 In deiner Gerechtigkeit befreie mich und errette mich! Neige dein Ohr zu mir und schaffe mir Rettung!
3 Sei mir ein Fels zur Wohnung, zu dem [ich] stets gehen [kann]! Du hast geboten, mich zu retten, denn du bist mein Fels und meine Burg.
4 Mein Gott, errette mich aus der Hand des Gottlosen, aus der Faust des Ungerechten und des Gewalttätigen!
Sowohl Vers 1 als auch Vers 2 beginnen mit dem Grund für das Flehen des Psalmisten und heben ihn damit besonders hervor. Vers 1 beginnt mit „zu Dir, HERR“ und Vers 2 mit „in deiner Gerechtigkeit“. Die Überzeugung, dass der HERR, der treue Gott des Bundes, mächtig ist (Vers 1) und immer in Gerechtigkeit und damit in Übereinstimmung mit seinem Bund und seinem Wort handelt, ist die Grundlage für das Vertrauen des Psalmisten, dass Er ihn retten wird (Vers 2; vgl. Ps 31,2–4).
Die Erwähnung von „dir“ (der Person Gottes) und seiner Gerechtigkeit findet sich auch in den Versen 14 und 15, in Vers 16 und in Vers 19. Der Psalmist hat die Treue Gottes von seiner Jugend an erfahren (Vers 5) und dies wird auch in seinem Alter noch gelten (Vers 18).
Der Psalmist wendet sich direkt an den HERRN, um Ihm zu sagen, dass er bei Ihm Zuflucht nimmt (Vers 1). Das ist das Einzige, was ein Mensch tun soll, wenn er in Not ist. Dabei bittet er den HERRN, dafür zu sorgen, ihn niemals beschämt werden zu lassen.
Eine der schlimmsten Enttäuschungen, die einem Menschen widerfahren kann, ist, dass sein Vertrauen in jemanden enttäuscht wird. Bei Menschen geschieht das regelmäßig und selbst in den intimsten Beziehungen. Bei Gott ist das unmöglich. Die Tatsache, dass der Psalmist darum bittet, bedeutet nicht, dass er an Gottes Treue zweifelt. Es ist der Ausdruck eines Gemüts, das sich seiner Unfähigkeit bewusst ist, in der Not, in der er sich befindet, selbst treu zu bleiben.
Dass er nicht an der Treue Gottes zweifelt, zeigt seine Berufung auf Gottes „Gerechtigkeit“ (Vers 2). Die Gerechtigkeit Gottes ist sein gerechtes Handeln in Übereinstimmung mit seinem Bund und seiner Verheißung und seinem Wort. Dies ist der Grund für die Bitte um Befreiung und Rettung. Dies impliziert, dass der Psalmist zu Unrecht verfolgt wird. Es gibt weder in seinen Taten noch in seinen Worten einen Grund, ihn zu verfolgen. Er bittet darum, dass Gott sein Ohr zu ihm neige, d. h. dass Er ihm aufmerksam zuhört und ihn rettet.
Auch ist die Rettung nicht das Endziel der Gerechtigkeit Gottes, sondern dass Gott ein Fels ist, in dem er wohnen kann (Vers 3). Bei Gott wie ein Fels zu wohnen bedeutet, bei Ihm zu Hause und in Sicherheit zu sein. Es ist ein Ort, an dem er sich ständig aufhalten möchte, weil ständig Gefahr droht. Er sehnt sich danach, bei Gott zu sein, in seiner Gegenwart. Die Sehnsucht nach Gott ist am stärksten zu spüren, wenn die Welt sich in ihrer ganzen Feindseligkeit zeigt.
Gleichzeitig besteht die Gewissheit, dass Rettung kommen wird, weil der Psalmist weiß, dass Gott den Befehl dazu gegeben hat. Wenn Gott etwas geboten hat, gibt es keine Macht im Universum, die seine Ausführung verhindern kann. Es ist wie bei Bileam, der beauftragt wird, das Volk Gottes zu verfluchen. Gott hat jedoch bestimmt, dass Bileam sein Volk segnen soll, und so ist es geschehen (4Mo 24,12.13). Der Psalmist rechnet mit Gottes Rettung und Schutz, denn er kennt Gott als seinen „Felsen“ und seine „Burg“.
Der Psalmist hat es mit jemandem zu tun, der gottlos ist, der Unrecht tut und der gewalttätig ist (Vers 4). Dies ist eine Beschreibung des Antichristen. Er bittet darum, aus der Hand und der Faust dieser Person gerettet zu werden. Er erwähnt dies zweimal in diesem Vers. Es bedeutet, dass er sich in der Gewalt des Gottlosen fühlt. Gleichzeitig blickt er über ihn zu Gott, der in der Lage ist, ihn aus seinem Griff zu befreien. Der Psalmist ist hier ein Typus des Überrestes. Er braucht Errettung, weil er von Feinden umgeben ist, die vom Antichristen angeführt werden (Verse 4.10.11).
5 - 9 Der Anlass zum Gebet
5 Denn du bist meine Hoffnung, Herr, HERR, meine Zuversicht von meiner Jugend an.
6 Auf dich habe ich mich gestützt von Mutterschoß an, aus meiner Mutter Leib zogst du mich hervor; von dir ist stets mein Lobgesang.
7 Vielen bin ich wie ein Wunder; du aber bist meine starke Zuflucht.
8 Mein Mund ist erfüllt von deinem Lob, von deinem Ruhm den ganzen Tag.
9 Verwirf mich nicht zur Zeit des Alters; beim Schwinden meiner Kraft verlass mich nicht!
Der Psalmist sagt Gott, warum er sich an Ihn wendet (Vers 5): Gott ist seine Hoffnung. Seine Hoffnung in der Bedrängnis ist nicht auf Menschen, sondern auf Gott gerichtet. Er kennt Ihn von Jugend an als den „Herrn, HERRN“, Adonai Jahwe. Seit seiner Jugend ist Gott seine Zuversicht. Wir wissen auch von anderen, die ihr Vertrauen von Jugend an auf Gott setzten, wie Josia (2Chr 34,3) und Timotheus (2Tim 3,14.15).
Wenn der Psalmist sagt, dass er sich „von Mutterschoß an“ auf Gott „gestützt“ hat (Vers 6), dann spricht er nicht von sich selbst, sondern der Geist spricht durch ihn von dem Herrn Jesus. Nur der Herr Jesus kann sagen, dass Er sich von Mutterschoß an auf Gott gestützt hat. Er hat sich auf Gott gestützt, das ist eine Tat. Es ist etwas, was nur jemand tun kann, der weiß, dass er diese Unterstützung braucht. So ist es mit dem Herrn Jesus, von dem Moment an, als Er geboren wurde. Das zeigt das Wunder seiner Person. Er ist Gott und Mensch zugleich.
Er weiß auch, dass Gott Ihn aus seiner Mutter Leib hervorgezogen hat. Das bedeutet, dass Er Gott als seinen Helfer seit seiner frühesten Existenz als Mensch kennt, als Er noch im Mutterleib war. Das weiß auch jeder Mensch, der zum Glauben gekommen ist. Das ist der Moment, in dem er begann, auf Gottes Hilfe zu zählen. Jeder Gottesfürchtige wird anerkennen, dass Gott ihm vom Mutterleib an im Leben geholfen hat. Dies ist auch das Bekenntnis des wiederhergestellten Israel in der Endzeit. Gott ist der Helfer des Volkes von Anfang an gewesen. Dieses Bewusstsein der Fürsorge Gottes von Anfang an führt zu großer Dankbarkeit. Diese Dankbarkeit drückt sich ständig im Lobgesang für Gott aus.
Der Überrest wird Hoffnung haben durch und Zuversicht schöpfen aus den Beispielen in der Schrift, wie das Volk von Anfang an auf Gott vertraute und nicht beschämt wurde. Sie wissen auch, dass Christus sein Vertrauen immer auf Gott gesetzt hat. Die Geburt Isaaks ist ein Wunderzeichen, das von Abrahams Glauben und Vertrauen auf Gott geprägt ist. Auch die Geburt Israels als ein aus der Knechtschaft Ägyptens befreites Volk ist von Wunderzeichen geprägt.
Im Lauf seines Lebens ist der Gottesfürchtige „vielen … ein Wunder“ geworden (Vers 7). Das Wunder ist ein Zeichen Gottes. Immer wieder wurden Anschläge auf sein Leben verübt, aber sie waren erfolglos. Seine Feinde hatten keinen Erfolg mit ihren Absichten. Jede Errettung ist ein Wunder. Sie ist auch ein Zeichen. Dieses Zeichen ist, dass er unter dem Schutz Gottes steht. Gott ist seine „starke Zuflucht“. Er verdankt sein Überleben nicht seiner eigenen Klugheit oder Stärke, sondern dem Schutz seines Gottes, bei dem er Zuflucht sucht.
In gleicher Weise ist Israel ein Wunder und ein Zeichen. Das Volk existiert noch immer, trotz aller Versuche, es auszurotten. Das verdankt es nicht seiner militärischen Stärke und intelligenten Verteidigungstaktik, sondern dem Schutz der Vorsehung Gottes. Alle Versuche, die noch unternommen werden, um es auszurotten, werden scheitern. Der Grund dafür ist, dass Gott dieses Volk zu seinem Volk erwählt hat. Die ganze Welt wird es sehen, wenn der Herr Jesus dort regieren wird. Seine Existenz bedeutet, dass Gott da ist und sich für sein Volk einsetzt. So kann auch unser Leben ein Zeichen sein, es kann eine Bedeutung für die Menschen um uns herum haben, weil man sieht, dass wir alles Gott verdanken.
Nun ist der Psalmist am Ende seines Lebens angelangt. Er sagt Gott, dass sein Mund den ganzen Tag über mit seinem Lob und seinem Ruhm erfüllt sein wird (Vers 8). Zuvor (Vers 6) hat er gesagt, dass die Fürsorge Gottes für ihn von seiner Entstehung im Mutterleib an ihn dazu bringt, Gott stets zu loben. Jetzt sagt er Gott, dass er dies den ganzen Tag tun wird, und zwar nicht nur in Bezug auf das Loben Gottes, sondern auch in Bezug auf das Bekanntmachen seines Ruhmes.
Der Grund dafür ist, dass er alt geworden ist und seine Kraft nachlässt (Vers 9). Wenn die Kraft schwindet, wird man unsicher in seinen Bewegungen (Pred 12,5a). Aber auch im Alter ist Gott derselbe (Jes 46,4). Der alte Gläubige, der sich immer wieder daran erinnert, wird Gott bitten, ihm jeden Tag zu helfen.
Es gibt keine bessere Vorbereitung auf das Alter mit seinen schwindenden Kräften und zunehmenden Schwächen, als in der Jugend den Schöpfer zu suchen und in jungen Jahren an Ihn zu denken (Pred 12,1). Das Alter ist ein neuer Lebensabschnitt, aber einer, in dem das aufgebaute Leben mit Gott weiter entwickelt wird. Es werden Erfahrungen mit Gott gemacht, die vorher nicht möglich waren.
10 - 13 Ruf um baldige Hilfe
10 Denn meine Feinde haben von mir geredet, und die auf meine Seele lauern, haben miteinander beraten;
11 und sie sagen: Gott hat ihn verlassen; verfolgt und greift ihn, denn kein Erretter ist da!
12 O Gott, sei nicht fern von mir; mein Gott, eile zu meiner Hilfe!
13 Lass beschämt werden, lass vergehen, die gegen meine Seele sind! Lass mit Hohn und Schande bedeckt werden, die mein Unglück suchen!
Im Laufe der Jahre schwinden die Kräfte, aber nicht die Feindschaft der Gottlosen. Der gottesfürchtige Alte findet sich inmitten von Feinden wieder, die über ihn reden und sich gegen ihn verschwören (Vers 10). Sie wollen ihn töten. Sie haben keine Geduld, den Tag seines Todes abzuwarten, der angesichts seines Alters nicht mehr lange auf sich warten lassen wird.
Sie sehen die schwindende Kraft als Zeichen dafür, dass Gott den Gottesfürchtigen verlassen hat (Vers 11). Dadurch fühlen sie sich frei und sogar bestärkt, ihn zu verfolgen und zu ergreifen. Sie sehen, dass er auf sich allein gestellt ist. Sie glauben, dass es niemanden gibt, der für ihn eintreten und ihn retten wird, nicht Gott und schon gar nicht ein Mensch.
So wird in der Endzeit der ungläubige Teil des Volkes, angeführt vom Antichristen, seinem falschen König, den gläubigen Überrest ohne Furcht vor Gott verfolgen, um ihn zu ergreifen und zu vernichten. Sie werden dies unter der Annahme tun, dass Gott sie verlassen hat. Die Umstände werden auch so sein, dass es in der Tat so aussieht, als habe Gott sie im Stich gelassen.
Der Gottesfürchtige spürt den Druck, den seine Feinde auf ihn ausüben, und schreit zu Gott, dass Er nicht fern von ihm bleibt (Vers 12). Er braucht die Nähe Gottes, jetzt, wo die Feinde ihn so stark bedrängen. Er kennt Gott als „meinen Gott“, den Gott, zu dem er eine persönliche Beziehung hat, und bittet Ihn, ihm bald zu Hilfe zu kommen.
Für seine Widersacher bittet er, dass Gott sie beschämt werden lässt und sie vergehen lässt (Vers 13). Sie versuchen, ihn zu verletzen. Deshalb bittet er, dass Gott sie mit Hohn und Schande bedecken möge. Ihr Anteil ist in jeder Hinsicht das Gegenteil von dem, was er für sich von seinem Gott erwartet. Dies ist kein Egoismus, sondern ein richtiges Verständnis dessen, was in den Augen Gottes böse ist.
14 - 18 Beständig auf Gott harren
14 Ich aber will beständig harren und all dein Lob vermehren.
15 Mein Mund soll deine Gerechtigkeit erzählen, den ganzen Tag deine Rettung; denn ich weiß sie nicht zu zählen.
16 Ich werde mit den Machttaten des Herrn, HERRN, kommen, werde mich an deine Gerechtigkeit erinnern, an dich allein.
17 Gott, du hast mich gelehrt von meiner Jugend an, und bis hierher habe ich deine Wundertaten verkündet.
18 Und auch bis zum Alter und bis zum Greisentum verlass mich nicht, o Gott, bis ich deinen Arm dem [künftigen] Geschlecht verkünde, allen, die kommen werden, deine Macht!
„Ich aber“ ist betont (Vers 14). Es kann auch mit „aber was mich betrifft“ übersetzt werden. Es bedeutet, dass die Absicht des Herzens des Psalmisten hervorgehoben wird. Damit sagt er, dass er, egal was passiert, weiterhin an der Treue Gottes festhalten wird.
Dies ist auch die Sprache des gläubigen Überrestes in der Zeit der Prüfung. Es ist die Zeit, in der der Glaube des Überrestes zum Vorschein kommt. Prüfungen haben diesen Zweck. Sie halten die Hoffnung aufrecht. Wie schwer die Prüfung auch sein mag, ihr Vertrauen bleibt auf Gott gerichtet. Der Glaube drückt sich kraftvoll aus. Was auch immer geschieht, sie bleiben in der Hoffnung, dass Gott helfen wird (vgl. Verse 1.2) und dass sie Ihn noch mehr preisen werden, wörtlich: „Deinem ganzen Lobpreis hinzufügen“. Der Glaube sieht die Rettung schon, bevor es eine Tatsache ist.
Die Erfahrungen mit Gott beruhen auf Gottes „Gerechtigkeit“ (Vers 15). Gott ist nicht willkürlich und noch weniger launisch, wenn Er Prüfungen schickt. Er hat eine gerechte Grundlage, um den Glauben der Seinen zu prüfen. Er hat dieselbe gerechte Grundlage für den Ausgang der Prüfung. Er handelt immer nach seinem Maßstab, d. h. nach seinem Wort, seinen Verheißungen und hier nach seinem Bund.
Daher gibt es keinen Zweifel über das Wesen und den Ausgang einer Prüfung. Gott schenkt letztlich die Rettung. Die Dimensionen, das Ausmaß, all das, was die Rettung beinhaltet, übersteigt bei weitem das Fassungsvermögen eines Menschen.
Womit der Psalmist zu Gott kommen kann und worüber Gott sich freut, wenn er Ihn preist, sind „die Machttaten des Herrn, HERRN“ (Vers 16; vgl. 5Mo 3,24; Ps 106,2). Diese Machttaten sind auch mit seiner Gerechtigkeit verbunden. Jede mächtige Tat ist eine Bekräftigung seiner Gerechtigkeit. Damit wird der Psalmist „kommen“. Nur diese Taten sind es wert, erwähnt zu werden, und keine eigenen. Was auch immer ein Gläubiger getan haben mag, geschah nur durch die Kraft und Gnade, die Gott gegeben hat.
Das ganze Leben des Psalmisten von seiner Jugend an war eine Abfolge von Unterweisung und Ausbildung durch Gott und der Verkündigung seiner Wundertaten (Vers 17). Er hat ihn „seinem Weg entsprechend“ belehrt (Spr 22,6). Das gilt eindeutig auch für die Geschichte des Volkes Gottes. Und können wir das nicht auch in Bezug auf unser eigenes Leben sagen? Je älter wir werden, desto mehr Material haben wir, um Gottes wunderbare Taten zu verkünden. Unsere ganze persönliche Geschichte legt Zeugnis ab von der Unterweisung, die der Herr uns geduldig gegeben hat.
Die Bitte, ihn nicht zu verlassen, „auch bis zum Alter und bis zum Greisentum“, zeigt das Bewusstsein, dass Gottes Beistand und Hilfe auch im Alter unverzichtbar sind (Vers 18; Jes 46,4). Deshalb bittet er Gott, ihn nicht zu verlassen. Er tut dies auch, weil er sieht, dass seine Lebensaufgabe noch nicht beendet ist. Er ist des Lebens nicht müde, sondern sieht eine weitere Herausforderung.
Das Leben hat immer einen Sinn, besonders wenn wir älter geworden sind. Dann können wir der neuen Generation verkünden, dass wir die Macht Gottes sehen. Alle zukünftigen Generationen will er Gottes Macht verkünden. Das darf der Wunsch eines jeden älteren Menschen sein. Wenn wir ältere Gläubige sind, haben wir dann etwas weiterzugeben, was wir an Erfahrungen mit der Kraft und Macht Gottes gemacht haben?
19 - 24 Die Gewissheit der Erhörung
19 Und deine Gerechtigkeit, o Gott, [reicht] bis zur Höhe; du, der du große Dinge getan hast, o Gott, wer ist wie du?
20 Du, der du uns viele Bedrängnisse und Übel hast sehen lassen, du wirst uns wieder beleben und uns wieder heraufführen aus den Tiefen der Erde.
21 Du wirst meine Größe mehren, und du wirst dich wenden [und] mich trösten.
22 Auch will ich dich preisen mit der Harfe, [ja], deine Wahrheit, mein Gott! Ich will dir Psalmen singen mit der Laute, du Heiliger Israels!
23 Jubeln werden meine Lippen, wenn ich dir Psalmen singe, und meine Seele, die du erlöst hast;
24 auch meine Zunge wird von deiner Gerechtigkeit reden den ganzen Tag; denn beschämt, denn mit Scham sind bedeckt worden, die mein Unglück suchen.
Der Psalmist beendet den Psalm mit einer Ode an die Gerechtigkeit Gottes (Vers 19). Die Gerechtigkeit Gottes zeigt sich auf vielerlei Weise, sie zeigt sich, wenn Er zornig auf die Sünder ist (Röm 1,18), wenn Er einen Sünder, der glaubt, rettet und für gerecht erklärt (Röm 1,16), aber auch in seinem Regierungshandeln mit den Gläubigen.
Die Gerechtigkeit, um die es hier geht, ist diejenige, die das Volk kennengelernt hat, sowohl im Gericht über die Sünde als auch in der Erfüllung der Verheißungen, die Gott seinem Volk gegeben hat. Gottes Gerechtigkeit reicht bis zur Höhe, wo Gott wohnt (vgl. Ps 36,6). So wird die Erde mit dem Himmel verbunden. Dies ist das Ergebnis der „großen Dinge“, die Gott in seiner Gerechtigkeit für sein Volk getan hat. Davon sind sie tief beeindruckt. Sie bringen dies zum Ausdruck, indem sie Gott ihre Bewunderung zurufen: „O Gott, wer ist wie du?“ (vgl. 2Mo 15,11; 2Sam 7,22; Ps 35,10; Jes 40,18; Mich 7,18).
Sie sind durch die große Drangsal gegangen. Darin haben sie „viele Bedrängnisse und Übel“ erlebt (Vers 20). Aber siehe, sie schreiben dies nicht ihren Gegnern zu, sondern Gott. Er hat das alles über sie gebracht und sie es sehen lassen. Das bestimmt auch gleichzeitig das Ergebnis, denn Er hat damit eine Absicht. Er will ihnen die Erfahrung der Auferstehung geben. Sie werden nicht dem Tod überlassen, sondern Er wird sie auferwecken und aus der Tiefe, aus den tiefen Wassern der Erde, heraufführen. Es ist eine poetische Beschreibung der Auferstehung aus dem Tod und dem Grab. Die Annahme Israels durch Gott nach der großen Drangsal ist nichts anderes als „Leben aus den Toten“ (Röm 11,15; Hos 6,2).
Nach der Erweckung Israels wird das Volk großes Ansehen in der Welt genießen (Vers 21). Die Verleumdung hat sich in Bewunderung verwandelt. Sie sind vom Schwanz zum Haupt geworden (5Mo 28,13). Aber das Volk braucht auch Trost nach so viel Elend und den schweren Prüfungen, die es durchgemacht hat. Wenn sie aus der großen Drangsal herauskommen, wird Gott selbst die Tränen von allen Gesichtern abwischen (Jes 25,8; vgl. Off 7,17; 21,4). Er wird sie nicht nur trösten, sondern sie mit seinem Trost umgeben, er wird sie auf allen Seiten trösten (Darby-Übersetzung). Sie stehen im Mittelpunkt seiner Mitgefühl. Er geht sozusagen um sie herum, um ihnen zu versichern, dass sein Trost vollständig ist, ohne etwas zu übersehen, das des Trostes bedarf.
„Der Winter [der großen Drangsal] ist vorüber. … Die Zeit [das Friedensreich] ist gekommen, um zu singen“ (Vers 22; Hld 2,11.12). Musikinstrumente begleiten das Singen von Lobpreisungen. Gottes Wahrheit – oder Treue, es ist das gleiche Wort – wird gepriesen. Es ist die Treue „meines Gottes“, denn dadurch haben sie diese schwere Zeit überstanden. Sie bestätigt die Wahrheit seiner Verheißung, die Er in seiner Treue erfüllt hat. Dadurch sind sie auch in den Segen des Friedensreiches eingetreten. Der Überrest wird Gott darüber Psalmen mit der Laute singen.
Der Gott, den sie loben und dessen Treue und Wahrheit sie preisen, ist der Heilige Israels. Dieser Titel taucht hier zum ersten Mal in den Psalmen auf und danach noch zweimal (Ps 78,41; 89,19). Es ist ein Titel, den der Prophet Jesaja gerne verwendet. In seinem Buch nennt er Ihn 25-mal so. So bekennt sich das wiederhergestellte Israel hier zu Ihm. Er ist ihr Gott, der Heilige. Er hat dies im Lauf ihrer Geschichte bewiesen, sowohl in seinem Gericht über ihre Sünden als auch in ihrer Erlösung.
Neben den Musikinstrumenten sind auch die Worte zu hören, mit denen der Überrest vor Freude jubelt, wenn er Gott Psalmen singt (Vers 23). Sie singen nicht nur von der äußeren Erlösung von den Feinden, sondern auch von der Erlösung ihrer Seelen. Das gilt für uns in noch stärkerem Maße. Bei uns geht es nicht um Feinde von Fleisch und Blut, sondern um die Erlösung der Seele, die wir bereits genießen dürfen (1Pet 1,9–12).
Worum es im Lobpreis letztlich geht, ist Gottes Gerechtigkeit (Vers 24). Die Gerechtigkeit Gottes zieht sich wie ein roter Faden durch diesen Psalm. Der Psalmist verwendet diesen Ausdruck fünfmal (Verse 2.15.16.19.24). Der Gottesfürchtige wird diese Gerechtigkeit den ganzen Tag über mit seiner Zunge aussprechen. Er kann davon singen, weil diejenigen, die ihm Schaden zufügen wollen, von Gott gerecht gerichtet worden sind. Sie sind beschämt.
Sie waren nicht in der Lage, ihre bösen Absichten zu verwirklichen, weil Gott seine Frommen beschützt hat. Gottes Eingreifen zu Gunsten der Frommen hat sie gedemütigt. Gott ist siegreich, nicht sie. Dessen ist sich der Fromme sicher. Er spricht davon, als ob seine Gegner bereits beschämt und mit Scham bedeckt worden wären.
Anstatt beschämt zu werden, wofür er zu Beginn des Psalms gebetet hat, dass es nicht geschieht (Vers 1), sind sie beschämt worden. Das ist bezeichnend für den Glauben, der sich im Lauf des Psalms zu einem Ausdruck der Gewissheit entwickelt hat. So endet der Psalm, der mit einem Gebet um Errettung begann, mit einem Siegesruf. Der Sieg nimmt im nächsten Psalm, dem letzten des zweiten Buches der Psalmen, Gestalt an. Es ist ein königlicher Psalm, der die Herrlichkeit des kommenden Königs beschreibt.