Einleitung
Während drei Jünger auf dem Berg der Verklärung (Lk 9,29.30) Augenzeugen der Majestät des Herrn Jesus im Friedensreich waren (2Pet 1,16), sprachen Mose und Elia mit dem Herrn über seinen Ausgang, den Er in Jerusalem erfüllen sollte (Lk 9,31), das heißt über sein Leiden und seinen Tod. Das Gleiche sehen wir hier in den Psalmen. Während wir in den Psalmen 93–101 die Majestät des HERRN, das heißt des Herrn Jesus, anbetend bewundern, spricht Er in Psalm 102 von seinem Leiden (vgl. Lk 24,26). In diesem Psalm finden wir prophetisch, was später in Hebräer 5 erwähnt wird: „Der in den Tagen seines Fleisches, da er sowohl Bitten als Flehen dem, der ihn aus [dem] Tod zu erretten vermochte, mit starkem Schreien und Tränen dargebracht hat (und wegen seiner Frömmigkeit erhört worden ist)“ (Heb 5,7).
Dieser Psalm wird als Bußpsalm bezeichnet. Der Ursprung dieser Bezeichnung liegt in seiner Verwendung in der Liturgie der Kirche, in der die sieben Bußpsalmen am Aschermittwoch gesungen werden. Psalm 102 ist der fünfte der sieben so genannten Bußpsalmen (Psalmen 6; 32; 38; 51; 102; 130; 143). In diesem Psalm spricht der Psalmist nicht von seinen Sünden, sondern von dem großen Elend, in dem er sich befindet. Der Psalmist wird als Inbegriff des Elends in allen möglichen Bereichen des Lebens dargestellt. Körperlich, geistig, emotional, sozial und gesellschaftlich hat er einen Tiefpunkt erreicht.
Es ist ein messianischer Psalm. Der Messias spricht hier. Das geht aus dem Zitat der Verse 26–28 in Hebräer 1 hervor, wo sich das Zitat auf Christus bezieht (Heb 1,10–12). In diesem Psalm geht es nicht so sehr um das Leiden Christi für die Versöhnung, sondern um sein Leiden im Zusammenhang mit dem Gericht, das Gott über Israel und Jerusalem bringen musste. Christus macht sich eins mit seinem Volk, dem treuen Überrest, der unter diesem Gericht leidet. Das Neue Testament unterscheidet deutlich zwischen dem Leiden des Herrn Jesus für die Versöhnung – dann wird das Leiden im Singular genannt – und dem Leiden als Zeuge Gottes – dann wird das Leiden im Plural genannt. Letzteres ist ein Leiden, das auch von den Gläubigen ertragen werden muss.
Das in diesem Psalm beschriebene Leiden ist nicht nur sein Leiden in Gethsemane oder vor Pilatus und Herodes und bei seiner Kreuzigung. Sein ganzes Leben, von seiner Geburt an, war Leiden. Das bedeutet nicht, dass Er sein ganzes Leben lang unter dem Zorn Gottes gestanden hat. Das ist eine absolut verwerfliche Lehre. Nur während der drei Stunden der Finsternis trug Er den Zorn Gottes wegen der Sünden. Sein ganzes Leben lang hatte Gott Wohlgefallen an Ihm. Er hatte keinen Anteil an der Sünde, und gerade deshalb hatte Er ein vollkommenes Gespür für sie. Das hat Ihn in einer Weise leiden lassen, die wir nicht begreifen können. Dieses Leiden hat Ihn belastet.
Was der gläubige Überrest als gerechtes Leiden anerkennt, hat Er freiwillig erfahren, indem Er Mensch wurde. Es ist ein Leiden in seiner Seele, das dadurch verursacht wird, dass Er die Folgen der Sünde sieht. Zum Beispiel weinte der Herr am Grab des Lazarus (Joh 11,35). Er hat damit sein Mitgefühl für den Kummer von Maria und Martha gezeigt. Doch sein Schmerz ist viel tiefer als der der Schwestern, denn Er kennt die Ursache des Todes, nämlich die Sünde, genau. Er hat nicht so sehr über den Verlust geweint. Er wusste, dass Er wenige Augenblicke später Lazarus von den Toten zum Leben erwecken würde. Er weinte über die Ursache des Todes.
1 Überschrift
1 Gebet eines Elenden, wenn er verschmachtet und seine Klage vor dem HERRN ausschüttet.
Dieser Vers ist der Überschrift des Psalms. Als Überschrift ist er außergewöhnlich lang. Alles in der Überschrift lenkt die Aufmerksamkeit besonders auf das Leiden Christi. In diesem Psalm hören wir Christus als Menschen, der über die Gefühle seines Herzens inmitten von Umständen spricht, die Ihn niederdrücken. Das müssen wir uns immer vor Augen halten, wenn wir diesen Psalm lesen. Zugleich dürfen wir nie vergessen, dass Er selbst Gott ist. Daran werden wir in den letzten Versen des Psalms auf eindrückliche Weise erinnert.
Christus nennt sich hier „der Elende“ (vgl. Ps 86,1), ein Ausdruck, der auch auf den Überrest zutrifft. Er ist betrübt, weil das Volk Gottes wegen seiner Untreue von Gott schwer bestraft worden ist. Der Grund für dieses Gericht, die Erkenntnis seiner Notwendigkeit, lastet so schwer auf Ihm, dass Er „verschmachtet“. Er kann nur noch klagen. Es ist eine einzige große „Klage“. Er schüttet seine Klage „vor dem HERRN“ aus.
Er persönlich hat natürlich keinen Anteil an der Untreue des Volkes Gottes, aber Er hat Anteil an ihren Folgen. Er fühlt mit dem treuen Überrest mit, der durch sein Mitgefühl besonders gestärkt wird. So hilft Er ihnen, die Folgen ihrer Untreue zu tragen. Es ist eine der vielen Gelegenheiten in seinem Leben, die zeigt, dass Er in all ihrer Bedrängnis bedrängt wurde (Jes 63,9). Wir sehen etwas Ähnliches, als der Herr Jesus von Johannes dem Täufer getauft wird. Er tut dies um der Gerechtigkeit willen, denn auf diese Weise macht Er sich eins mit dem gläubigen Überrest Israels.
Er legt seine Klage nicht vor Gott nieder, sondern schüttet sie aus. „Ausschütten“ weist auf die Kraft hin, mit der Er betet. Dass Er es „vor dem HERRN“ tut, zeigt, auf wen Er seine Hoffnung setzt, bei wem Er Hilfe sucht. Das ist ein Beispiel für uns, wenn wir in großer Bedrängnis sind.
2 - 3 Schreien um Hilfe
2 HERR, höre mein Gebet, und lass zu dir kommen mein Schreien!
3 Verbirg dein Angesicht nicht vor mir am Tag meiner Bedrängnis; neige zu mir dein Ohr; an dem Tag, da ich rufe, erhöre mich eilends!
Der Herr Jesus ist der Betende (Vers 2; Ps 109,4b). Wie bereits erwähnt, sehen wir Ihn in diesem Psalm als einen wahren Menschen. Er bittet den HERRN, sein Gebet zu hören und sein Schreien zu Ihm kommen zu lassen. Der Herr selbst weiß, dass der Vater Ihn immer hört (Joh 11,42), aber hier ist Er der Mund des Überrestes. Er ist in großer Bedrängnis und schreit zu Gott, hat aber das Gefühl, dass Gott sein Schreien nicht hört. Deshalb spricht Er Ihn so eindringlich an. Der Herr Jesus weinte, als Er Jerusalem sah (Lk 19,41). Er wünschte sich, dass die Stadt erkannt hätte, was zu ihrem Frieden dient (Lk 19,42).
Er bittet Gott auch, sein Gesicht nicht vor Ihm zu verbergen, weil Er den Eindruck hat, dass Gott das tut (Vers 3). Demütig bittet Er darum, dass Gott sein Ohr zu Ihm neigt. Es ist ein Flehen um seine Aufmerksamkeit. Er sehnt sich inbrünstig nach dem hörenden Ohr Gottes.
Für Ihn ist es „der Tag meiner Bedrängnis“. Deshalb ist es der Tag, an dem Er ruft und auf eine baldige Erhörung hofft. Tage der Bedrängnis sind Tage der besonderen Prüfung und der großen Not. Gott lässt solche Tage zu, um die Herzen der Seinen zu prüfen und zu sehen, wo sie ihre Hilfe suchen. Für den Herrn Jesus ist Gott immer seine Zuflucht gewesen, Er wurde von Mutterschoß an auf Ihn geworfen (Ps 22,11).
4 - 12 Hochgehoben und weggeworfen
4 Denn wie Rauch entschwinden meine Tage, und meine Gebeine glühen wie ein Brand.
5 Wie Kraut ist versengt und verdorrt mein Herz, dass ich vergessen habe, mein Brot zu essen.
6 Wegen der Stimme meines Seufzens klebt mein Gebein an meinem Fleisch.
7 Ich gleiche dem Pelikan der Wüste, bin wie die Eule der Einöden.
8 Ich wache und bin wie ein einsamer Vogel auf dem Dach.
9 Den ganzen Tag verhöhnen mich meine Feinde; die gegen mich rasen, schwören bei mir.
10 Denn Asche esse ich wie Brot, und meinen Trank vermische ich mit Tränen
11 vor deinem Zorn und deinem Grimm; denn du hast mich emporgehoben und hast mich hingeworfen.
12 Meine Tage sind wie ein gestreckter Schatten, und ich verdorre wie Kraut.
Das Leiden des Messias während seines Lebens auf der Erde war tief. Wir finden in den Versen 4–6 sein körperliches Leiden, in den Versen 7 und 8 das Leiden seiner Seele, in Vers 9 das Leiden von Seiten der Menschen und in den Versen 10–12 das Leiden von Seiten Gottes.
Um die Realität seiner Gefühle, die Er in diesen Versen mit uns teilt, einigermaßen nachempfinden zu können, brauchen wir die Hilfe des Geistes Gottes. Oft ist es mit uns wie mit Petrus, Jakobus und Johannes. Der Herr Jesus bittet sie, mit Ihm zu wachen, während Er betrübt und beängstigt ist wegen des Werkes, das Er am Kreuz vollbringen wird. Aber sie schlafen ein, während der Herr Jesus sich in einem schweren Kampf befindet, und Er sie gebeten hat, mit Ihm zu wachen (Mt 26,36–43; Mk 14,32–40).
Er beklagt, dass seine Tage „wie Rauch entschwinden“ (Vers 4). So schnell und flüchtig sieht Er seine Tage vergehen, während kein Ergebnis sichtbar ist. Die Anstrengung seines Lebens im Dienst seines Gottes hat Ihn alles gekostet, aber es scheint alles vergeblich gewesen zu sein (vgl. Jes 49,4a). Es ist das Leiden auf dem Sterbebett, im Angesicht des Todes. Seine „Gebeine glühen wie ein Brand“. Die Knochen glühen im hohen Fieber, das die Kräfte schwinden lässt.
Sein Herz ist von der Bedrängnis, in der Er sich befindet, getroffen worden (Vers 5). Es ist „versengt und verdorrt“ wie Kraut. Das Leben ist durch Austrocknung aus Ihm gewichen. Er ist so sehr in die Bedrängnis vertieft, dass Er vergessen hat, sein „Brot zu essen“. Die Bedrängnis Zions, die Er als seine Bedrängnis empfindet, hat Ihn völlig in Beschlag genommen, Er kann an nichts anderes mehr denken. Jeder Appetit ist verschwunden.
Sein Leiden ist sichtbar. Er leidet unter starken Schmerzen. „Wegen der Stimme“ seines „Seufzens“ klebt sein Gebein an seinem Fleisch (Vers 6; vgl. Hiob 19,20). Das laute Seufzen raubt Ihm seine ganze Kraft. Sein Gebein wird durch seine Haut hindurch sichtbar.
Hinzu kommt seine große Einsamkeit! Er fühlte sich wie ein „Pelikan der Wüste“ und „wie die Eule der Einöden“ (Vers 7). Es ist nicht sicher, welcher Vogel, dessen Name hier mit „Pelikan“ übersetzt wird, es war. Was wir sicher wissen, ist, dass dieser Vogel einsam ist. Eine Wüste ist ein Musterbeispiel für Einsamkeit.
Die Eule ist ein Vogel, der in der Einsamkeit lebt und Müllplätze als natürlichen Lebensraum hat. Die Betonung liegt auf der Tatsache, dass die Umwelt ein Chaos geworden ist. Dies ist der Lebensraum des Herrn geworden. Niemand hat Ihn verstanden, weder seine Familie noch seine Jünger. Er war der Einzige, der die wirkliche geistliche Situation Jerusalems und Zions, die zu einem Chaos geworden ist, vollkommen wahrgenommen hat. Darunter hat Er gelitten.
Sein Leiden ist nicht nur tagsüber da. Er klagt darüber, dass Er wach liegt (Vers 8). Die Bedrängnis ist so groß, dass sie Ihn wach und unruhig hält. Er kann deswegen nicht schlafen. Die Einsamkeit wird nachts oft noch tiefer empfunden als tagsüber. Der Herr sagt, dass Er „wie ein einsamer Vogel auf dem Dach“ ist. Ein Vogel lebt meist mit anderen zusammen. Ein einsamer Vogel auf dem Dach ist ein Musterbeispiel für Einsamkeit, die ihn gleichzeitig anfällig macht für Raubvögel, seine natürlichen Feinde.
Das hebräische Wort ist eigentlich der allgemeine Begriff für „Vogel“, der oft mit „Sperling“ übersetzt wird. Ein einsamer Vogel, der nachts auf dem Dach sitzt, ist ein Beispiel für Unruhe, aber auch für Verletzlichkeit.
Dass der Herr Jesus einsam ist, bedeutet nicht, dass Er in Ruhe gelassen wird. Zum Schmerz der Einsamkeit kommt die Verachtung seiner Feinde, die sie den ganzen Tag über Ihn ausschütten (Vers 9; vgl. Jes 53,3). Es ist, als würde man Salz in die Wunden eines Menschen streuen. Es gibt niemanden, der Mitleid mit Ihm hat. Im Gegenteil: Seine Feinde nutzen seine Verletzlichkeit aus, um gegen Ihn zu wüten.
Dabei benutzen sie seinen Namen „als Fluch“. Sie schwören bei seinem Namen, dass sie Ihm Schaden zufügen werden. Wir können dies mit den Namen von Zedekia und Ahab vergleichen, die während der Zeit der Gefangenschaft als Fluch verwendet wurden (Jer 29,22). So wird der Name des Psalmisten als Fluch verwendet, indem man zu jemandem sagt: „Möge dir widerfahren, was dem Psalmisten widerfahren ist!“ Es ist ein Fluch. Es sind auch nicht nur einige wenige, die Ihm schaden wollen, sondern eine ganze Gruppe.
Die tägliche Nahrung besteht aus Brot und Trinken. Für den Herrn war das nicht so. In Vers 5 sagt Er, dass Er vergessen hat, sein Brot zu essen. Jetzt sagt Er, dass Er „Asche … wie Brot“ gegessen hat (Vers 10). Brot dient zur Stärkung (Ps 104,14). Aus der Asche ist alles Leben verschwunden und spricht vom Tod und dem Leid, das damit einhergeht (Jer 6,26).
Was Er getrunken hat, hat Er „vermischt mit Tränen“ (vgl. Ps 42,4). Trinken dient der Erfrischung, aber Tränen werden durch Kummer verursacht. Tränen zu trinken bedeutet, Kummer zu trinken. Das erfrischt nicht, sondern deprimiert. Dies sind Trauerrituale (Jer 6,26; Est 4,1). Dass Asche gegessen wird, anstatt sie auf das Haupt zu streuen, und dass Tränen getrunken werden, anstatt sie zu vergießen, bedeutet extreme Trauer.
Zweimal wird in den Evangelien erwähnt, dass der Herr Jesus weinte (Joh 11,35; Lk 19,41). Einmal ist es ein stilles Weinen, das andere Mal ein lautes Weinen. Hier lesen wir, dass sein ganzes Leben von Tränen und Kummer geprägt war. Hier bekommen wir einen tiefen Einblick in die Seele, in das Gefühlsleben des Herrn. Wenn wir ein Auge und ein Herz dafür bekommen können, wenn wir mit Ihm gehen, wie viel wertvoller wird Er dann für uns!
In den Versen 2 und 3 spricht Christus zu Gott. Wir sehen das an der Verwendung der Worte „dir“ und „dein“. Dann hören wir in den Versen 4–10 die Gründe für seinen Hilferuf. In Vers 11 spricht Christus wieder zu Gott. Er sagt zu Gott, dass Er das Leiden aus seiner Hand annimmt. Er spricht von dem, was Gott Ihm angetan hat. Er sagt dem HERRN, seinem Gott, dass Er Ihn „emporgehoben“ oder erhöht hat, um der Messias seines Volkes zu sein. Aber anstatt das Reich in Besitz zu nehmen, hat Er Ihn „hingeworfen“ oder gedemütigt (vgl. Ps 30,8).
Anstatt ein langes Leben in der Gunst Gottes als Messias für sein Volk zu leben, sind seine Tage „wie ein gestreckter Schatten“ (Vers 12; Ps 109,23). Wenn Schatten länger werden, bedeutet das, dass die Sonne bald untergeht und es Nacht wird. Der Messias sieht nicht, dass es hell wird, aber Er sieht, dass bald Nacht über sein Leben hereinbrechen wird. Er sieht seinen Tod voraus. Er erlebt, dass Er verdorrt „wie Kraut“ (vgl. Vers 5). Alles Gedeihen verschwindet aus seinem Leben, alles Leben fließt aus seinem Leib.
13 - 18 Gott erbarmt sich über Zion
13 Du aber, HERR, bleibst auf ewig, und dein Gedächtnis ist von Geschlecht zu Geschlecht.
14 Du wirst aufstehen, wirst dich über Zion erbarmen; denn es ist Zeit, es zu begnadigen, denn gekommen ist die bestimmte Zeit;
15 denn deine Knechte haben Gefallen an seinen Steinen und haben Mitleid mit seinem Schutt.
16 Und die Nationen werden den Namen des HERRN fürchten, und alle Könige der Erde deine Herrlichkeit.
17 Denn der HERR wird Zion aufbauen, wird erscheinen in seiner Herrlichkeit;
18 er wird sich wenden zum Gebet des Entblößten, und ihr Gebet wird er nicht verachten.
Nachdem der Messias die Bedrängnis, in der Er sich befindet, und die Leiden, die Er erträgt, beschrieben hat, wendet Er sich an den „HERRN“ (Vers 13). Das Wort „aber“, mit dem dieser Vers beginnt, weist darauf hin, dass ein Kontrast zum Vorhergehenden folgt. Der Messias leidet, aber nicht für immer, denn Er weiß, dass der HERR ewig bleibt und damit auch seine Treue zu dem, was Er verheißen hat. Der Name „HERR“, Jahwe, mit dem Er Gott anspricht, deutet dies bereits an. Denn HERR ist der Name Gottes als der Gott des Bundes. Das Gedenken an diesen Namen „ist von Geschlecht zu Geschlecht“ (vgl. Ps 100,5; 22,31; 78,3–7).
In Vers 13 wird betont, dass die Treue des HERRN ewig ist. Er ist der HERR, der Ich bin oder der Ewige, Er ist derselbe gestern und heute, für immer und ewig. Daher ist seine Güte gegenüber seinem Volk unveränderlich. Aber … wie ist das mit dem Zustand des Psalmisten in den Versen 1–12 vereinbar?
Die Antwort finden wir in Vers 14. Der HERR wird „aufstehen“ und sich „über Zion erbarmen“. Er wird aufstehen und handeln, und zwar um des Gedächtnisses an seines Namens willen. Das ist die Gewissheit des Glaubens an den HERRN in aller Bedrängnis. Er wird sich für sein Volk und seine Stadt einsetzen. Er wird es tun, wenn seine Gerichte das Ergebnis haben, das Er sich wünscht.
Der HERR hat eine Zeit festgesetzt, um Israel zurückzuholen, eine Zeit, um Israel und Zion wiederherzustellen (Dan 9,24). Letzteres beginnt mit dem Befehl, die Mauern Jerusalems wieder aufzubauen (Dan 9,25; Neh 2,1–6). Wenn die Zeit Gottes gekommen ist, wird Er sich über Zion erbarmen. Das Volk hat das totale Gericht verdient, aber Er bewahrt einen Überrest nach der Auswahl seiner Gnade. Zur festgesetzten Zeit wird Er sein Volk wieder annehmen. Der Glaube sieht das voraus.
Gott wird in seinen Dienern ein Werk vollbringen. Er wird Liebe in ihre Herzen geben für „seinen Steine“, was darauf hinweist, dass Zion zusammengebrochen ist (Vers 15). Er wird sie mit Mitleid erfüllen für „seinen Schutt“, was darauf hinweist, wie sehr Zion in Trümmern liegt. Das Wort für „Mitleid haben“ in Vers 15 ist dasselbe wie „Erbarmen haben“ in Vers 14. Wie der HERR Zion gnädig ist, so ist der Überrest dem Schutt und den Steinen Zions gegenüber. Wir sehen eine Vorahnung davon in Menschen wie Esra und Nehemia, die voller Liebe und Mitgefühl für Zion aus Babel nach Jerusalem zurückkehrten. In der Endzeit wird dies durch den treuen Überrest geschehen.
Wir können uns durchaus fragen, wie es um unsere Liebe und unser Mitgefühl für die Gemeinde Gottes bestellt ist, die ebenfalls ein Trümmerhaufen ist. Sehnen wir uns danach, wiederaufzubauen, was in Trümmern liegt? Wir können das tun, indem wir überall dort mit Gottes Wort helfen, wo Menschen sich danach sehnen, eine örtliche Gemeinde zu sein, wie Gott sie in seinem Wort bekannt gemacht hat. Zu dem Überrest und auch zu uns wird gesagt: „Bittet um den Frieden Jerusalems!“ (Ps 122,6), das die Wohnstätte Gottes inmitten seines irdischen Volkes ist. Wir dürfen für das beten, was jetzt Gottes Wohnung auf der Erde ist, Gottes himmlisches Volk, seine Gemeinde.
Wenn Zion wieder aufgebaut ist, werden die Nationen, die Israel umgeben, „den Namen des HERRN fürchten“ (Vers 16). Der Wiederaufbau Zions ist der Beweis dafür, dass Gott nicht gegen sein Volk, sondern für es ist. Die Nationen haben gegen Gottes Volk geredet und Ihn als ohnmächtigen Gott verleumdet (2Chr 32,9–17; Neh 4,2). Zu der von Gott bestimmten Zeit werden sie erkennen, dass Er für sein Volk ist, und deshalb Ehrfurcht vor Ihm haben.
Der HERR baut Zion auf, auch wenn Er sich dazu seiner Knechte bedient (Vers 16; vgl. Ps 127,1). Wenn Er Zion, das jetzt in Trümmern liegt, wiederaufgebaut hat, wird Er „erscheinen in seiner Herrlichkeit“. Er wird in Zion in der Mitte seines Volkes wohnen. Von dort aus wird seine Herrlichkeit auf der ganzen Erde zu sehen sein.
Er wird sein Wiederherstellungswerk als Antwort auf „das Gebet des Entblößten“ tun und damit zeigen, dass Er „ihr Gebet nicht verachtet hat“ (Vers 18). Die „Entblößten“ sind diejenigen, die ihre Würde verloren haben und sich selbst sehr gering schätzen. Sie sind „die Armen im Geist“ (Mt 5,3) und damit das Gegenteil des Geistes von Laodizea (Off 3,17). Der Herr Jesus ist der wahre „Arme im Geist“ (vgl. Ps 109,22.25). Er hat nie seinen eigenen Ruhm gesucht, sondern immer den seines Gottes. Der gläubige Überrest weist seine Merkmale auf.
Wie viel ist im Laufe der Jahrhunderte für die Wiederherstellung Zions gebetet worden. Das gilt vor allem für den Messias. Nach Ihm gilt es auch für den treuen Überrest, den Gott durch die Jahrhunderte hindurch immer für sich behalten hat, in der Zukunft (Zeph 3,12.13).
19 - 23 Zusicherung der Wiederherstellung Zions
19 Das wird aufgeschrieben werden für das künftige Geschlecht; und ein Volk, das erschaffen werden soll, wird Jah loben.
20 Denn er hat herabgeblickt von der Höhe seines Heiligtums; der HERR hat herabgeschaut vom Himmel auf die Erde,
21 um zu hören das Seufzen des Gefangenen, um zu lösen die Kinder des Todes;
22 damit man den Namen des HERRN verkündige in Zion, und in Jerusalem sein Lob,
23 wenn die Völker sich versammeln werden allesamt, und die Königreiche, um dem HERRN zu dienen.
In diesen Versen beschreibt der Heilige Geist als Antwort auf das Gebet des verarmten Überrestes (Verse 18.21) die Wiederherstellung Zions, d. h. Jerusalems, unter der Herrschaft des Messias. Der HERR wird die Würde des Überrestes und Zions wiederherstellen. Dies „wird „aufgeschrieben werden für das künftige Geschlecht“ (Vers 18). Diese Beschreibung steht fest. Jedes nachfolgende Geschlecht kann hier den Plan Gottes für die Zukunft Jerusalems lesen. Es wird in einem Volk gipfeln, „das erschaffen werden soll“. Dieses Volk „wird Jah loben“. Gott arbeitet an der Wiederherstellung und erschafft ein Volk, das die Segnungen dieser Wiederherstellung genießen wird.
Das Wort „denn“, mit dem Vers 20 beginnt, weist darauf hin, dass nun der Grund für das im vorherigen Vers Gesagte folgt. Er „hat herabgeblickt von der Höhe seines Heiligtums“ (vgl. 5Mo 26,15; Jes 57,15; 63,15). Er ist hoch über die Erde erhaben und in seiner Heiligkeit auch vollkommen getrennt von der Sünde, die dort wütet. Dennoch hat Er immer Anteil an dem, was auf der Erde geschieht, und besonders an dem, was seinem Volk angetan wird. Er „hat herabgeschaut vom Himmel auf die Erde“ (vgl. Ps 113,5.6).
Im Himmel hat Er „das Seufzen des Gefangenen“ gehört (Vers 21; vgl. 2Mo 2,23–25; 3,7.8). Sein Ziel ist es, „zu lösen die Kinder des Todes“. Der Tod ist ein Gefängnis. In ihm ist nicht nur Israel gefangen, sondern alle Menschen sind in ihm gefangen. In diesem Gefängnis befinden sich Menschen, die zum Tod verurteilt sind. Aus diesem Gefängnis kann nur Christus befreien. Er ist stärker als der Tod und der Teufel, der die Macht des Todes hat (Heb 2,14.15).
Durch das, was Er mit seinem Volk, dem gläubigen Überrest, tun wird, werden sie „den Namen des HERRN verkündige in Zion, und in Jerusalem sein Lob“ (Vers 22). Jedes Werk der Wiederherstellung, ob in Israel oder in unseren Tagen in einem einzelnen Gläubigen oder einer örtlichen Gemeinde, hat zum Ziel, dass Gott gelobt und gepriesen wird.
Diejenigen, die mit Gott und Christus in Verbindung gebracht wurden, sind der lebende Beweis für die Macht Gottes, die Dinge zum Besseren zu wenden. Daraus entsteht ein Zeugnis, das Gott an dem Ort, an dem Er wohnt, Lob einbringt. Wenn der Herr Jesus regiert, „versammeln sich die Völker allesamt“ und „die Königreiche, um dem HERRN zu dienen“ (Vers 23). Alles und jeder wird Ihm untertan sein und Ihm mit Freude dienen (Jes 2,3).
24 - 29 Gott ist derselbe
24 Er hat meine Kraft gebeugt auf dem Weg, hat verkürzt meine Tage.
25 Ich sprach: Mein Gott, nimm mich nicht weg in der Hälfte meiner Tage! – Von Geschlecht zu Geschlecht sind deine Jahre.
26 Du hast einst die Erde gegründet, und die Himmel sind deiner Hände Werk.
27 Sie werden untergehen, du aber bleibst; und sie alle werden veralten wie ein Kleid; wie ein Gewand wirst du sie verwandeln, und sie werden verwandelt werden;
28 du aber bist derselbe, und deine Jahre enden nicht.
29 Die Söhne deiner Knechte werden wohnen, und ihre Nachkommen werden vor dir feststehen.
Nach der ermutigenden Aussicht auf die kommende Wiederherstellung in den Versen 13–23 hören wir erneut den leidenden Messias sprechen (Vers 24). Der Messias sieht in dem, was Ihm widerfährt, die Hand Gottes. Er nimmt alles aus der Hand Gottes an. Gott hat seine Kraft auf den Weg, den Er auf der Erde gegangen ist, gebeugt.
Das Wort „Elende“ in Vers 1 ist von dem Wort „gebeugt“ hier in Vers 24 abgeleitet. In Vers 2 ist Christus der Bedrängte. Hier in Vers 24 kehrt Er zu seinem Leiden zurück, das in den Versen 2–12 als das Leiden beschrieben wird, in dem Gott Ihn niedergedrückt hat. Hier sehen wir den Messias, der seinen Weg auf der Erde in Demütigung geht. Er identifiziert sich wieder mit seinem Volk, das sich auf dem Weg, den es gehen muss, machtlos fühlt.
Er wurde nicht nur kraftlos (vgl. 2Kor 13,4a), sondern auch die Tage seines Aufenthalts auf der Erde wurden verkürzt. Er war nicht in der Lage, sie voll zu machen. Deshalb beklagt Er sich bei seinem Gott und sagt zu Ihm: „Mein Gott, nimm mich nicht weg in der Hälfte meiner Tage!“ (Vers 25a; vgl. Jes 38,2.3). Er war 33 Jahre alt, als Er starb, und damit in der Blüte seines Lebens als Mensch. Wenn Er von sich selbst als „dem grünen Holz“ spricht (Lk 23,31), hören wir darin die gleichen Empfindungen. Der Kontrast besteht hier zwischen dem ewig thronenden Gott (Vers 13) und seinem eigenen verkürzten Leben, das in der Mitte des normalen menschlichen Alters von siebzig Jahren (Ps 90,10) beendet wurde.
Als gottesfürchtiger Israelit hat Er, wenn Er gehorsam ist, die Verheißung eines langen Lebens in dem Land. Durch sein untadeliges Leben hat Er es sich verdient. Und nun wird Er aus dem Leben weggenommen. Als Mensch ist dies eine schreckliche Aussicht für Ihn. Noch nie war jemand so gehorsam und Gott ergeben, und doch wird Er ausgelöscht, aus dem Leben weggenommen.
In der Mitte von Vers 25 wechselt der Sprecher und der Messias erhält von Gott eine Antwort auf seine Fragen. Der Beweis, dass es hier um den Messias geht, findet sich in Hebräer 1, wo die Verse 26–28 dieses Psalms zitiert werden, um zu beweisen, dass der Herr Jesus der HERR, Jahwe, selbst ist (Heb 1,10–12). Deshalb sagt Gott zu Ihm, dass seine Jahre „von Geschlecht zu Geschlecht“ andauern. Er wird in der Hälfte seiner Tage weggenommen werden, aber Er wird von den Toten auferstehen. Hier finden wir einen der vielen Hinweise darauf, dass Christus sterben und dann von den Toten auferstehen musste (Mt 16,21; 17,22.23; 20,17–19).
Dann sagt sein Gott zu Ihm, dass Er der Schöpfer der Erde und des Himmels ist (Vers 26; Joh 1,3; Kol 1,16.17; Heb 1,2). Wie gedemütigt Er auch als Mensch auf der Erde sein mag, Er hat „einst die Erde gegründet“ und „die Himmel“ sind seiner „Hände Werk“. Er steht am Anfang aller Dinge. Alle Dinge verdanken ihren Ursprung dem, der selbst nicht entstanden ist, sondern der Ewige ist.
Hier finden wir einen der vielen Hinweise darauf, dass Christus sowohl der Menschensohn als auch der ewige Gott ist. Christus ist der Immanuel (Jes 7,14; 8,8; Mt 1,23), der „Gott mit uns“. Er, der in der Hälfte seiner Tage auf der Erde weggenommen wurde (Verse 24.25a), ist der Ewige (Verse 25b–28), der Schöpfer von Himmel und Erde (Verse 26.27).
Er hat auch kein Ende, während seine Werke ein Ende haben, denn „sie werden untergehen“ (Vers 27). Spötter mögen sagen, dass alles so bleibt, wie es von Anfang der Schöpfung an war (2Pet 3,3.4), aber sie werden sich täuschen. Die materielle Welt hat kein Leben in sich selbst, noch ist sie ewig wie ihr Schöpfer. Der Übergang von Vers 26 zu Vers 27 ist der Übergang von der Entstehung zum Untergang, von 1. Mose 1 zu Offenbarung 21 (1Mo 1,1; Off 21,1). Es weist auf den gewaltigen Gegensatz hin, der zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung besteht.
Mit der Schöpfung wird es sein wie mit einem „Kleid“. Ein Kleid nutzt sich durch Gebrauch ab. Er wird mit der Schöpfung umgehen wie mit einem „Gewand“. Er wird mit ihr tun, was ein Mensch tut, wenn er einen neuen Mantel anzieht. Dann zieht er den alten aus und zieht den neuen an. In beiden Fällen verschwindet das, was am Anfang da war. Das Alte verschwindet nach einem Prozess der Abnutzung, das Neue erscheint durch einen kurzen Akt. So handelt auch der Sohn mit der Schöpfung. Die alte Schöpfung verschwindet als alt. Er tauscht sie gegen eine neue Schöpfung aus. Er schafft einen neuen Himmel und eine neue Erde (Off 20,11; 21,1).
Aber der Sohn ändert sich nicht. Er ist „derselbe“ für immer (Vers 28; Heb 13,8). Seine „Jahre enden nicht“. Seine Jahre werden endlos weitergehen, auch jetzt, da Er Mensch geworden ist, denn auch als Mensch kennt Er kein Ende. Die Schöpfung wird sich verändern, regenerieren (Mt 19,28) und erneuern (Off 21,1), aber Er selbst ist der Ewige und Unveränderliche. Er ist am Anfang aller Dinge und am Ende aller Dinge ist Er immer noch da.
Dies ist auch eine große Ermutigung im Hinblick auf die kommenden Generationen (Vers 29). Wir mögen uns manchmal fragen, wie es ihnen ergehen wird. Dann können wir auf Ihn schauen. Er ist für jede Generation das, was Er für frühere Generationen gewesen ist. Generationen und Umstände ändern sich, aber Er ändert sich nicht.
Deshalb werden die Söhne sicher wohnen und „ihre Nachkommen werden“ vor Gott feststehen“. Das bedeutet, dass die Nachkommen des gläubigen Überrestes im Glauben standhaft bleiben werden (Jes 59,21). Sie werden nicht mehr aus ihrem Erbe und aus ihrem Land vertrieben oder weggenommen werden. Das garantiert die Verheißung Jahwes. Himmel und Erde werden vergehen, aber seine Worte werden nicht vergehen (Mt 5,18; 24,35).