1 - 4 Ruf nach Gottes Hilfe
1 wie Feuer Reisig entzündet, Feuer die Wasser wallen macht, um deinen Widersachern deinen Namen kundzutun, damit die Nationen vor deinem Angesicht erzittern, 2 wenn du furchtbare Taten vollbringst, die wir nicht erwarteten; [o dass du] herniederführest, [dass] vor deinem Angesicht die Berge erbebten! 3 [Denn] von alters her hat man nicht gehört noch vernommen, hat kein Auge einen Gott gesehen außer dir, der sich wirksam erweist für den, der auf ihn harrt. 4 Du kommst dem entgegen, der Freude daran hat, Gerechtigkeit zu üben, denen, die sich auf deinen Wegen an dich erinnern. Siehe, du ergrimmtest, und wir haben gesündigt; darin sind wir [schon] lange, so lass uns gerettet werden!
Dieses Kapitel setzt das Gebet des Propheten fort. Die Sprache (Verse 1-2) erinnert an die Art und Weise, wie der HERR seine Gegenwart und Macht am Sinai zum Ausdruck brachte. „Der HERR stieg im Feuer auf den Berg herab; Rauch stieg auf wie der Rauch eines Schmelzofens und der ganze Berg bebte sehr“ (2Mo 19,16–19). Indem Er seinen Namen dem Volk auf diese Weise offenbarte, ließ Er sie erzittern: „Und das ganze Volk, das im Lager war, zitterte“ (2Mo 19,16). Das „Feuer“ spricht vom Gericht. Dieses Feuer wird die Berge schmelzen und die Wasser steigen lassen. Der gläubige Überrest fragt hier in bildhafter Sprache, ob Gott den Feind richten wird.
Dieses Gebet basiert auf der Tatsache der Absolutheit und Einzigartigkeit Gottes und seiner Eigenschaften und der Wege der Gnade gegenüber denen, die in Furcht vor Ihm wandeln, die an Ihn denken und Ihm gefallen wollen (Verse 3.4a). Dass Er ihnen begegnet, bedeutet, dass Er ihnen entgegenkommt, um ihnen seine Gunst zu erweisen (vgl. 1Mo 32,1). Vers 3 wird von Paulus in 1. Korinther 2 zitiert (1Kor 2,9), aber er kann hinzufügen: „Uns aber hat Gott es offenbart durch seinen Geist, denn der Geist erforscht alles, auch die Tiefen Gottes“ (1Kor 2,10). Im Glauben dürfen wir schon jetzt die zukünftigen Dinge sehen, die Er denen bereitet hat, die ihn lieben. Das Gleiche gilt später für den gläubigen Überrest.
Was Gott für die Seinen vorbereitet hat, hätten wir von früheren Generationen nie erfahren können, denn „von alters her hat man nicht gehört noch vernommen“. Tradition und Überlieferung konnten es nicht vermitteln. Es wurde auch nie von uns durch eigene Beobachtung entdeckt – „hat kein Auge einen Gott gesehen“. Es wurde uns erst durch die Offenbarung Gottes durch seinen Geist bekannt gemacht.
Für einen Ungläubigen, der den Geist Gottes nicht besitzt und sich nur auf sein Denken verlassen kann, ist es undenkbar, dass der HERR für sein Volk Israel handeln würde. Israel hat den Antichristen zum König erwählt, der Tempel wird durch den Gräuel der Verwüstung entweiht, das Volk wird abgeschlachtet und das Land wird durch den Angriff des Königs des Nordens zerstört. Aber der gläubige Überrest rechnet mit der Treue Gottes in Bezug auf seine Verheißungen. Gottes Eintreten für den gläubigen Überrest sprengt den Rahmen der logischen Argumentation. Diese Ratschlüsse Gottes sind nur für diejenigen bestimmt, die Ihm im Glauben vertrauen, die Ihn lieben.
Die dreiteilige Kombination aus „Freude daran hat“, „Gerechtigkeit üben“ und „an dich erinnern“ (Vers 4a) hat eine besondere Bedeutung. Es ist möglich, in Gerechtigkeit zu wandeln, indem man streng an Regeln festhält, ohne dass wir uns im Herrn freuen. Es ist möglich, Gerechtigkeit zu üben und das moralisch Richtige zu tun, ohne wirklich uns an Gott selbst zu erinnern.
Der Herr freut sich an denen, die durch Erfahrung wissen, was Gemeinschaft mit Ihm ist. Sein Auge ist auf die gerichtet, die Ihn fürchten. Henoch wandelte mit Gott und erhielt so das Zeugnis, dass er Gott wohlgefallen habe (1Mo 5,22–24; Heb 11,5). Er hat sich an Ihm erfreut. Dadurch endete sein Leben des Zeugnisses in einer gottlosen Welt mit seinem Übergang in die direkte Gegenwart Gottes.
Die Zuversicht des gläubigen Überrestes gründet sich auf die Anerkennung, dass das Volk versagt und gesündigt hat, zuerst durch die Verwerfung Christi und dann durch die Aufnahme des Antichristen. Damit erkennt der Überrest an, dass Gott gerecht ist, wenn Er sie richtet. Gleichzeitig erwarten sie im Glauben die Erlösung durch denselben Gott, der seinen Verheißungen treu ist. Dies wird in den folgenden Versen beschrieben.
In Vers 4b anerkennt Jesaja die Schuld seines Volkes sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft. Wenn er den jahrhundertelangen Zustand ihres Glaubensabfalls in Erinnerung bringt, spricht er fragend aus (wie es auch übersetzt werden kann): „Und sollten wir gerettet werden?“ (Vers 4). Der Sinn ist am besten in dieser Frageform zu verstehen. Der Sinn bezieht sich nicht auf den Wandel, sondern auf den sündigen Zustand, in dem sich das Volk seit langer Zeit befindet, was durch die Formulierung „darin sind wir [schon] lange“ dargestellt wird. In dieser rhetorischen Frage liegt die Anerkennung, dass sie keinen Anspruch auf Befreiung haben.
5 - 6 Anerkennung von Ungerechtigkeiten
5 Und wir sind allesamt wie ein Unreiner geworden, und alle unsere Gerechtigkeiten wie ein unflätiges Kleid; und wir verwelkten allesamt wie ein Blatt, und unsere Ungerechtigkeiten rafften uns dahin wie der Wind. 6 Und da war niemand, der deinen Namen anrief, der sich aufmachte, dich zu erfassen; denn du hast dein Angesicht vor uns verborgen und uns vergehen lassen durch unsere Ungerechtigkeiten.
Sie sind alle unrein geworden (Vers 5). Was sie für sich selbst zuerst als gerechte Taten angesehen haben, nämlich ihre Orthodoxie, das anerkennen sie im Licht des HERRN nunmehr als ein unflätiges Kleid. Nur wenn sie dies anerkennen, können sie „den Mantel der Gerechtigkeit“ anziehen, den der HERR ihnen gibt (Jes 61,10). Sie sind zu der Schlussfolgerung gekommen, dass sie alle wie ein Blatt verwelkt sind und dass ihre Missetaten sie wie durch Wind vom HERRN weggetragen haben.
Dies alles ist eine ernste Warnung vor den Folgen eines hartnäckigen Abweichens von den Wegen Gottes. Bewusste Abtrünnigkeit führt zum Vergessen Gottes. So ist es in Israel. Es gibt niemanden, der es sich vorgenommen hat, seinen Namen anzurufen, „der sich aufmachte, dich zu erfassen“ (Vers 6). Unempfindlichkeit gegenüber der Sünde bewirkt Unempfindlichkeit gegenüber Gottes Rechten und seiner Barmherzigkeit. Das Ergebnis ihres Abfalls ist, dass Gott seine Barmherzigkeit von ihnen zurückzog, sein Angesicht vor ihnen verbarg und sie hat „vergehen lassen durch“ ihre „Ungerechtigkeiten“.
7 - 11 Der HERR und sein Volk
7 Und nun, HERR, du bist unser Vater; wir sind der Ton, und du bist unser Bildner, und wir alle sind das Werk deiner Hände 8 HERR, zürne nicht allzu sehr und gedenke nicht ewig der Ungerechtigkeit. Sieh, schau doch her, dein Volk sind wir alle! 9 Deine heiligen Städte sind eine Wüste geworden, Zion ist eine Wüste geworden, Jerusalem eine Einöde. 10 Unser heiliges und herrliches Haus, worin unsere Väter dich lobten, ist mit Feuer verbrannt, und alle unsere Kostbarkeiten sind verheert. 11 Willst du, HERR, dabei an dich halten? Willst du schweigen und uns ganz und gar niederbeugen?
In der Wirklichkeit und in der Kraft des Bekenntnisses in den vorangegangenen Versen erinnert der Prophet an die unverbrüchliche Verbindung, die der HERR zwischen sich und seinem Volk hergestellt hat. Er erinnert auch daran, wie Er sie als ihr „Töpfer“ oder „Bildner“ (vgl. Jer 18,1–6; Röm 9,19–21) nach seinem eigenen Ratschluss geformt hat (Vers 7). Das ist wahre Demütigung und Zerschlagenheit (Jes 57,15). Dieses Bekenntnis beinhaltet die Möglichkeit einer Wiederherstellung des verdorbenen nationalen Gefäßes. Dies wird sicherlich der Fall sein, wenn der Erlöser nach Zion kommt.
So weit ist es noch nicht. Das Volk stöhnt unter der züchtigenden Hand des HERRN, zu dem es verzweifelt ruft, um eine Erleichterung von dem Zorn zu bekommen (Vers 8). Der Überrest erinnert den HERRN auf bewegende Weise daran, dass sie doch sein Volk sind. Es geht um sein Volk, sein Land, seinen Name. Dem Feind ist es unter der vergeltenden Hand Gottes erlaubt, die Städte des Landes zur Wüste und Jerusalem zur Einöde zu machen (Vers 9). Die Wohnung Gottes in Zion, wo einst Loblieder auf die Herrlichkeit des HERRN erklangen, ist in Flammen aufgegangen (Vers 10). In Vers 11 hören wir das letzte Flehen des Propheten um Befreiung und Wiederherstellung. Die Antwort kommt in den letzten beiden Kapiteln dieses Buches.
Die damalige Zerstörung durch Babel als Folge dieser Prophezeiung war erst eine Vorerfüllung. Die volle Erfüllung dieser Prophezeiung wird in der Zukunft stattfinden, wenn Israel durch den kommenden König des Nordens zerstört wird.