Einleitung
In seinen Antworten geht Hiob immer auf den Vorredner ein, aber es ist klar, dass er in der Haltung eines jeden von ihnen etwas Gemeinsames erkennt. Er antwortet den Freunden daher immer zusammen – er spricht von „ihr“ – und nicht jedem einzeln.
Die Ähnlichkeit zwischen Hiobs erster Antwort hier und seiner Klage in Hiob 3 ist bemerkenswert. In seiner Antwort an Eliphas ist er jedoch beherrschter. Zudem geht er auf mehrere Punkte ein. Aber die Bürde ist die gleiche und auch hier drückt er seine Sehnsucht nach dem Tod aus. Es gibt keinen Hauch von Hoffnung.
Diese erste Antwort, die Hiob 6 und 7 umfasst, besteht aus zwei Teilen. In Hiob 6 wendet er sich an seine Freunde, wobei er zunächst eine allgemeine Klage vorbringt (Verse 1–13), ohne jedoch die drei Freunde direkt anzusprechen. In Hiob 7 spricht er zu Gott. Die Antwort kann wie folgt unterteilt werden:
1. Die Schwere und Realität seiner Leiden (Hiob 6,1–7).
2. Der Wunsch, von Gott getötet zu werden (Hiob 6,8–13).
3. Die Nutzlosigkeit seiner Freunde (Hiob 6,14–23).
4. Er fordert die Freunde heraus, ihn zu prüfen (Hiob 6,24–30).
5. Die Vergänglichkeit des Lebens (Hiob 7,1–11).
6. Gott ist sein Feind (Hiob 7,12–19).
7. Sein Appell im Hinblick auf die Sünde (Hiob 7,20.21).
1 - 7 Die Schwere seines Leides
1 Und Hiob antwortete und sprach:
2 O dass mein Kummer doch gewogen würde und man mein Missgeschick auf die Waagschale legte allzumal!
3 Denn dann würde es schwerer sein als der Sand der Meere; darum sind unbesonnen meine Worte.
4 Denn die Pfeile des Allmächtigen sind in mir, ihr Gift trinkt mein Geist; die Schrecken Gottes stellen sich in Schlachtordnung gegen mich auf.
5 Schreit ein Wildesel beim Gras, oder brüllt ein Rind bei seinem Futter?
6 Wird Fades, Salzloses gegessen? Oder ist Geschmack im Eiweiß?
7 Was meine Seele sich weigerte anzurühren, das ist wie meine ekle Speise.
Trotz all des Verdachts, der hinter Eliphas′ korrekten Worten stand, ließ Hiob ihn ausreden und unterbrach ihn nicht. Als Eliphas zum Ende seiner Ansprache gekommen ist und versichert, dass nichts dagegen gesagt werden kann, zeigt sich, dass Hiob alles andere als überzeugt ist. Hiobs Antwort wird mit den Worten „und Hiob antwortete“ eingeleitet (Vers 1). Mit diesen Worten beginnt Hiobs Widerlegung der Rede von jeweils einem der Freunde jedes Mal. Hiob antwortet, obwohl er Eliphas in seiner Antwort hier nicht direkt anspricht.
Eliphas hat Hiob vorgeworfen, dass er seinem Leiden erlegen ist (Hiob 4,5). Als Antwort darauf bittet Hiob darum, dass sein Kummer einmal genau abgewogen, d. h. ernst genommen werden würde (Vers 2). Eliphas sagt es so leicht, aber ihm wurde nicht das angetan, was Hiob angetan wurde. Ein schweres, nicht mit Gewichten zu bezifferndes Maß an Elend ist über ihn gekommen. Er ist darunter begraben worden. Ein Elend nach dem anderen wurde über ihn ausgeschüttet. Es war an der Zeit, alles zusammen in eine Waagschale zu legen. Das Bild hier zeigt eine Waage mit zwei Skalen. Auf einem von ihnen sind das Elend und die Leiden Hiobs aufgetürmt. Hiob repräsentiert das große gemeinsame Gewicht von ihnen.
All sein angesammeltes Elend ist schwerer als der Sand der Meere (Vers 3). Ist es da ein Wunder, dass die Schwere seines Leidens ihn zu unbedachten Äußerungen verleitet hat? Es klingt wie eine Entschuldigung, denn er hat keine falschen oder unbesonnenen Aussagen gemacht.
Aber ist es nicht so, dass dies jedem passieren kann, der großes Leid ertragen muss? Wir werden lernen müssen, solche gedankenlosen Aussagen zu verstehen und nicht unsere kalten Urteile über sie zu fällen. Gleichzeitig können wir an einen Mann denken, der ebenfalls sehr gelitten hat, aber der davon als „das schnell vorübergehende Leichte unserer Trübsal“ spricht. Er konnte dies tun, weil er als Gegenleistung „ein über jedes Maß hinausgehendes, ewiges Gewicht von Herrlichkeit“ sah (2Kor 4,17). Paulus, denn er sagt dies, sah über den Umständen den verherrlichten Herrn. Diesen kannte Hiob nicht. Für den Herrn Jesus gilt das noch mehr, dass er auf die vor Ihm liegende Freude blickte (Heb 12,2).
Es gibt etwas, das für Hiob noch schwerer wiegt als das körperliche Leiden, und das ist das Bewusstsein, dass es die Pfeile Gottes, „des Allmächtigen“, sind, die ihn treffen (Vers 4; vgl. Hiob 16,12.13). Pfeile verursachen heftige, stechende Schmerzen. Er fühlt sich als Zielscheibe des Allmächtigen, dem niemand gewachsen ist. Dies ist das erste Mal, dass Hiob in seiner Rede Gott für sein Leiden verantwortlich macht (Hiob 7,11–21; 9,13–35; 13,15–28).
Es gibt für ihn keine andere Möglichkeit, als mit seinem Geist „ihr Gift zu trinken“. So erlebt er, was Gott mit ihm macht. Gott ist sein Feind, der das Elend, das über ihn gekommen ist, wie ein geordnetes Heer gegen ihn aufstellt. Was kann er dagegen tun? Gott ist so mächtig, so geschickt im Aufstellen seiner Schrecken. Dagegen gibt es keinen Widerstand.
Wir wissen, dass diese Sicht von Gott durch Hiob nicht richtig ist, aber Hiob weiß auch nicht, was wir wissen dürfen und können (Jak 1,2; 2Kor 4,16–18). Er kennt Gott nicht als seinen liebenden Vater. Doch obwohl wir das wissen, vergessen wir es manchmal auch. Wenn unsere Umstände unser Blickfeld ausfüllen, können wir uns nicht über sie erheben. Nur wenn wir unseren Blick auf den verherrlichten Christus und das liebende Herz des Vaters richten können, ist es möglich, sich in der Trübsal zu rühmen (Röm 5,3).
In bildreicher Sprache weist Hiob darauf hin, was manche Tiere beim Fressen von sich geben, oder besser gesagt, was sie beim Fressen nicht von sich geben. Ein Tier – ein „Wildesel“ oder ein „Rind“ –, dem gutes Futter gegeben wird, ist zufrieden, man hört es nicht (Vers 5). Hiob hingegen bekommt auf dem Tisch seines Lebens Katastrophen serviert, und zwar in einer sehr vielfältigen Zusammensetzung. Wie konnte er davon zufrieden „essen“ und ruhig sein! Ekelhafte Speise isst man nicht ohne Murren. Hiob konnte weder sein Leiden noch die Worte seiner Freunde als angenehme Nahrung betrachten. Wenn es leckeres Essen wäre, würde er sich nicht beschweren.
Doch was ihm aufgetischt wird, ist ein außerordentlich geschmackloses Menü (Vers 6). „Eiweiß“ kann auch als „eklig schmeckender Schleim einer bestimmten Pflanze“ übersetzt werden. Es ist in keinster Weise angenehm. Es fehlen Zutaten, die es schmackhaft und genießbar machen würden. Er weigert sich, es anzurühren, geschweige denn, es zu essen (Vers 7). Allein der Anblick macht ihn krank. Hiob weigert sich einfach, ein solches Leben zu führen.
Hiob spricht hier nicht die Sprache des Glaubens, d. h. des Vertrauens im Glauben, wie wir es z. B. bei Paulus sehen. Paulus war zufrieden mit dem, was ihm an Schmähungen und Leiden für Christus widerfuhr (2Kor 12,10). Hiob braucht Licht und muss lernen, Gott zu vertrauen, auch dort, wo er Ihn nicht verstehen kann. Auch für uns, zumindest für die meisten von uns, gilt, dass wir dies lernen müssen.
8 - 13 Das Verlangen von Gott getötet zu werden
8 O dass doch meine Bitte einträfe und Gott mein Verlangen gewährte, 9 dass es Gott gefiele, mich zu zermalmen, dass er seine Hand losmachte und mich vernichtete! 10 So würde noch mein Trost sein, und ich würde frohlocken in schonungsloser Pein, dass ich die Worte des Heiligen nicht verleugnet habe. 11 Was ist meine Kraft, dass ich ausharren, und was mein Ende, dass ich mich gedulden sollte? 12 Ist Kraft der Steine meine Kraft, oder ist mein Fleisch aus Erz? 13 Ist es nicht so, dass keine Hilfe in mir und [jede] Kraft aus mir vertrieben ist?
Hiob hat nur eine einzige Bitte an Gott. Er hat nur einen Wunsch, den er sich von Gott erfüllen lassen möchte, und nur eine Hoffnung, die er von Gott erfüllt haben möchte (Vers 8). Es ist nicht sein Wunsch und seine Hoffnung, dass Gott ihm alles zurückgibt, was er verloren hat, sondern dass Gott ihn aus dem Leben herausholt. Für ihn hat das Leben keinen Sinn mehr. Gott kann ihm seine Güte zeigen, indem Er ihn nicht weiterleben lässt, sondern ihn zermalmt (Vers 9). Wenn Gott ihn nur loslassen würde, indem Er seine Hand von ihm zurückzieht, wäre das das Ende seines Lebens. Ein solches Handeln Gottes würde er sehr zu schätzen wissen. Aus allem geht hervor, dass Selbstmord für diesen gottesfürchtigen Mann nie eine Option war.
Wie getröstet würde er sein (Vers 10). Ja, wenn Gott ihn nicht verschonte, sondern ihm das Leben nähme, würde ihm das in all seinem Kummer so viel Kraft geben, dass er vor Freude jubeln würde. Er hat auch keine Angst vor dem Tod, denn er hat „die Worte des Heiligen nicht verleugnet“. Hiob hörte Worte von Gott. Schließlich lebte er in Gemeinschaft mit Ihm. Er lebte auch nach dem, was Gott ihm mitteilte. Er hat immer beachtet, was Er gesagt hat, und ist sich keiner Übertretung eines seiner Gebote bewusst. Dennoch erleidet er dieses Schicksal. So rechtfertigt er sich selbst, während er in verschleiernden Worten die Gerechtigkeit Gottes in Frage stellt.
Hiob sagt nicht zu viel, wenn er sagt, dass er die Worte Gottes nicht verleugnet hat. Aber es scheint, dass er es als eine Leistung von sich selbst sieht und nicht als etwas, das er aus Gnade sagen kann. Paulus sagt auch, dass er sich keiner Sache bewusst ist, aber er rühmt sich auch nicht damit. Er fügt hinzu, dass er dadurch nicht gerechtfertigt ist (1Kor 4,4).
Hiob spürt, dass Gott seinen Wunsch zu sterben nicht erfüllt. Das macht ihn kraftlos, und zwar so kraftlos, dass er keine Hoffnung mehr hat, keine Aussicht mehr (Vers 11). Indirekt ist dies eine Antwort auf die Ermahnung von Eliphas, der ihm sagte, er solle vor allem Hoffnung haben (Hiob 5,16). Aber das Leben hat für ihn absolut keinen Sinn mehr. Er hat kein Ziel mehr in seinem Leben, das ihm eine Perspektive geben würde, sich darauf zu freuen, noch ein bisschen länger zu leben.
Gott gibt Hiob nicht, wonach er sich so sehr sehnt, weil er andere Gedanken über Hiobs Leben hat. Wir sehen das auch bei Elia, der auch einmal den Wunsch äußerte, sterben zu dürfen (1Kön 19,4). Gott erfüllte Elia seinen Wunsch nicht, weil er andere, höhere Gedanken über sein Lebensende hatte (2Kön 2,1.11). In gleicher Weise hat Gott andere, höhere Gedanken über das Ende von Hiobs Leben.
Wenn Gott andere Gedanken hat, sind das immer bessere und segensreichere Gedanken. Auch wir können Gott danken, dass Er uns nicht immer das gibt, was wir uns wünschen oder gewünscht haben. Das tun wir, wenn wir sehen, dass Gottes Liebe größer ist und über die Kurzsichtigkeit hinausschaut, mit der wir die Dinge betrachten, die uns widerfahren.
Hiob kann nicht verstehen, dass Gott ihm eine so schwere Last auferlegt. Sicherlich hat er nicht „die Kraft der Steine“ (Vers 12)? Sein Geist ist gebrochen. Und sein Fleisch ist doch auch nicht „aus Erz“? Das kann man ja an seinen eiternden Wunden sehen. Er ist nur ein gewöhnlicher Mensch aus Fleisch und Blut. Nur Gott kann die Kraft geben, dieses Elend zu ertragen. Allerdings sieht er Gott nicht als Helfer in seinem Leiden, sondern als dessen Verursacher. Wir dürfen als Christen wissen, dass Gott uns mit Kraft an dem inneren Menschen stärken will. Nach dem Vorbild des Paulus dürfen wir darum beten, für uns selbst und füreinander (Eph 3,16).
Hiob sieht in sich selbst keine Hilfe mehr (Vers 13). Die innere, geistliche Kraft, die er einst hatte, hat ihn verlassen. Auch die Weisheit, die er einst besaß, ist verschwunden. An Gott kann er sich nicht wenden, denn er ist gegen ihn, zumindest empfindet er es so. Dann wird er auf sich selbst zurückgeworfen. Auch in ihm selbst gibt es nichts, woran er sich festhalten kann, etwas, das ihm den Mut zum Weiterleben geben würde. Damit bleiben seine Freunde übrig. Aber auch sie enttäuschen ihn sehr, wie wir in den folgenden Versen hören.
14 - 23 Die Nutzlosigkeit seiner Freunde
14 Dem Verzagten gebührt Milde von seinem Freund, sonst wird er die Furcht des Allmächtigen verlassen. 15 Meine Brüder haben sich trügerisch erwiesen wie ein Wildbach, wie das Bett der Wildbäche, die hinschwinden, 16 die trübe sind von Eis, in denen der Schnee sich birgt. 17 Zur Zeit, wenn sie erwärmt werden, versiegen sie; wenn es heiß wird, sind sie von ihrer Stelle verschwunden. 18 Es schlängeln sich die Pfade ihres Laufes, ziehen hinauf in die Öde und verlieren sich. 19 Es blickten hin die Karawanen Temas, die Reisezüge Schebas hofften auf sie: 20 Sie wurden beschämt, weil sie [auf sie] vertraut hatten, sie kamen hin und wurden zuschanden. 21 Denn jetzt seid ihr zu nichts geworden; ihr seht einen Schrecken und fürchtet euch. 22 Habe ich etwa gesagt: Gebt mir und macht mir ein Geschenk von eurem Vermögen 23 und befreit mich aus der Hand des Bedrängers und erlöst mich aus der Hand der Gewalttätigen?
Hiob ist in Bedrängnis und hat allen Mut verloren. Das ist eine Situation, in der er dringend die Hilfe seiner Freunde braucht. Barmherzigkeit ist eine Verpflichtung gegenüber allen, die in Not sind. Er sagt seinen Freunden, dass er verzweifelt ist und deshalb Milde (Mitleid, Treue, Loyalität) von ihnen erwartet (Vers 14). Wenn sie dies nicht tun, geben sie damit die Furcht vor dem Allmächtigen auf. Wer einem Bruder in Not nicht hilft, verachtet ihn in Wirklichkeit und sündigt (vgl. Spr 14,21a). Es ist keine brüderliche Liebe in ihm, aber auch keine Ehrfurcht vor Gott, dem Allmächtigen. Man kann nicht einmal von einer Beziehung zu Gott sprechen (vgl. 1Joh 3,17).
In Vers 14 spricht Hiob von einem „Freund“ und in Vers 15 von „meinen Brüdern“ (vgl. 2Sam 1,26). Auch in Sprüche 17 sind diese beiden Namen miteinander verbunden: „Der Freund liebt zu aller Zeit, und als Bruder für die Bedrängnis wird er geboren“ (Spr 17,17). Leider trifft dies nicht auf Hiobs Freunde zu. Hiob befindet sich in einer Phase seines Lebens, in der er herzliche Freundschaft mehr denn je gebrauchen kann. Mit einem Freund besteht ein Band des Vertrauens. Mit einem Freund kannst du die tiefsten Gefühle deines Herzens teilen, denn er wird dich verstehen oder dir zumindest keine Vorwürfe für die Dinge machen, die du mit ihm teilst.
Hiob ist in großer Not, aber die Freunde zeigen kein Zeichen der warmherzigen Verwandtschaft mit Hiob, die für brüderliche Liebe charakteristisch ist. Zwar machten sie sich die Mühe, ihn zu besuchen (Hiob 2,11), und sie schwiegen eine Woche lang, beeindruckt von Hiobs großem Leiden. Und doch zeigt Eliphas in seiner Rede wenig Verständnis für das Leiden Hiobs. Im Gegenteil: Die drei Freunde überschütten Hiob mit heftigen Vorwürfen. Das liegt daran, dass sie sein Leiden auf Sünden zurückführen, die er begangen haben muss. Sie stehen nicht neben ihm, sondern ihm gegenüber. Sie lassen ihn in jeder Hinsicht im Regen stehen und verstärken seine Pein durch ihre kaltblütige Einschätzung seiner Situation und ihre gefühllosen Mutmaßungen über seine Sünden.
Der Herr Jesus zeigte sich als der wahre Freund seiner Jünger. Seine Liebe war immer da. Er liebte sie bis ans Ende (Joh 13,1). Er bewies seine große Liebe zu seinen Freunden, indem Er sein Leben für sie hingab (Joh 15,13). Er nannte sie Freunde, weil Er ihnen alles offenbarte, was Er vom Vater gehört hatte (Joh 15,15).
Er bezeichnet seine Jünger auch als seine Brüder (Joh 20,17). Wir nennen Ihn nicht „Bruder“ – so wird Er nirgendwo in der Schrift genannt –, aber Er ist der wahre Bruder, der „seinen Brüdern in allem gleich wurde“, um ihnen in ihrer Not helfen zu können (Heb 2,17). Er verhielt sich nicht wie Hiobs Freunde, sondern nahm Anteil an der Not der Seinen (Jes 63,9).
Hiob spricht im Plural, „Brüder“, obwohl nur Eliphas gesprochen hat, und antwortet auf das, was dieser gesagt hat. Dass Hiob die Freunde gemeinsam anspricht, wird daran liegen, dass das, was Eliphas gesagt hat, sicherlich auch im Namen der anderen Freunde geschehen ist (Hiob 5,27). Vielleicht nickten sie zustimmend zu den Worten ihres Freundes oder machten zustimmende Geräusche.
Hiob ist zutiefst enttäuscht von seinen Freunden. Er hatte von ihnen etwas Erquickung erwartet, wie ein müder und durstiger Reisender von Wadis in der Wüste erwartet, die fließende Bäche mit Regen- oder Schmelzwasser sind (Vers 16). Als er erschöpft hinfällt, um diese Erfrischung zu sich zu nehmen, erweisen sie sich als vertrocknet (Vers 17). Sie haben einen anderen Lauf genommen und sind in alle Richtungen gegangen, wo die Hitze der Sonne sie verzehrt hat, ohne etwas für die Durstigen übrig zu lassen (Vers 18). Das war die enttäuschende Erfahrung der Karawanen Temas und der Reisenden Schebas (Verse 19.20). Hoffnungsvoll gingen sie zu den Bächen, aber wie beschämt wurde ihr Vertrauen. Wie enttäuschend ist ihre Feststellung, als sie zum Bach kommen, dass es kein Wasser gibt.
Der Vergleich mit dem, was er von seinen Freunden, seinen Brüdern, erwartete, ist eindeutig. Ihre Freundschaft in den Tagen seines Wohlstands schien verheißungsvoll zu sein, aber jetzt, wo er in der Hitze der Prüfung steckt, lassen sie ihn im Stich. Er beschimpft seine Freunde und sagt, dass sie für ihn wie ausgetrocknete Bäche für Reisende geworden sind (Vers 21). Er macht kein Hehl daraus, wie er sie sieht: „Denn jetzt seid ihr [für mich] zu nichts geworden!“ Er deutet ihnen an, dass sie seine Bestürzung sehen, aber nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen.
Daraus können wir sicherlich lernen, dass wir nicht einmal unseren besten Freund zwischen uns und Gott stellen sollten. Wir dürfen wissen, dass der Herr Jesus als Hoherpriester Hilfe zur rechten Zeit gibt (Heb 4,16). Doch es ist leicht reden, wenn man selbst nicht in Not ist. Aber hat der Herr uns nicht auch andere um uns herum gegeben, gerade für die Zeiten, in denen wir alleine nicht zurechtkommen? Ist es immer falsch, die Hilfe eines anderen in Anspruch zu nehmen? Nein, das ist es nicht. Was uns jedoch enttäuschen wird, ist, dass wir von der anderen Person erwarten, dass sie auf eine Weise hilft, wie es nur Gott kann. Es ist auch nicht richtig, von anderen Hilfe zu fordern.
Hiob hat keine Hilfe gefordert. Er sagte ihnen nicht, dass sie ihm etwas geben sollten, irgendetwas, um seinen Verlust, wenn auch nur geringfügig, auszugleichen (Vers 22). Er erhebt keinen Anspruch auf ein Geschenk aus ihrem Vermögen. Auch hat er sie nicht um Hilfe gebeten, um aus der Hand des Bedrängers und Gewalttäters zu entkommen (Vers 23). Hier scheint er sich auf Gott zu beziehen. Alles, was er erwartet hat, ist Mitleid und das ist nicht gekommen. Dies ist in der Tat sehr enttäuschend. Die Nichterfüllung von berechtigten Erwartungen verursacht viel Schmerz.
24 - 30 Hiob fordert dazu heraus ihn zu prüfen
24 Belehrt mich, und ich will schweigen; und gebt mir zu erkennen, worin ich geirrt habe. 25 Wie eindringlich sind richtige Worte! Aber was tadelt der Tadel, der von euch kommt? 26 Gedenkt ihr, Reden zu tadeln? Für den Wind sind ja die Worte eines Verzweifelnden! 27 Sogar den Verwaisten würdet ihr verlosen, und über euren Freund einen Handel abschließen. 28 Und nun, lasst es euch gefallen, auf mich hinzublicken: Euch ins Angesicht werde ich doch nicht etwa lügen. 29 Kehrt doch um, es geschehe kein Unrecht; ja, kehrt noch um, [denn] um meine Gerechtigkeit handelt es sich! 30 Ist Unrecht auf meiner Zunge, oder sollte mein Gaumen Frevelhaftes nicht unterscheiden?
Wenn sie ihn nur von einer Sünde überzeugen könnten, die er begangen hatte (Vers 24)! Alles, was er von ihnen wissen will, ist, ob er irgendein Fehlverhalten begangen hat und deshalb, wie sie behaupten, dieses Unglück über sich gebracht hat. Hiobs Plädoyer ist, dass er ein freies Gewissen hat und sich deshalb gegen die falschen Anschuldigungen der Freunde verteidigt.
Er bittet sie, ihm klarzumachen, was er falsch gemacht hat, denn das ist es, was sie ihm vorwerfen. Hiob präsentiert sich hier in einer offenen, transparenten und verletzlichen Weise. In neutestamentlicher Sprache ist Hiob bereit, sich von den drei Freunden die Füße waschen zu lassen. Eliphas – und durch ihn auch die beiden anderen Freunde – hat eine Reihe von Anschuldigungen erhoben, ohne jedoch etwas zu beweisen. Die sollen ihr Bestes geben, um ihre Anschuldigungen zu belegen.
Wahre Freundschaft zeigt sich auch darin, dass man auf die Sünde hinweist, sodass man sie bekennen kann und der Weg frei wird für die Gemeinschaft mit Gott und dem anderen. Die vage Anspielung auf die Sünde ist ein Trick des Teufels, mit dem er viel Unfrieden stiftet. Wir dürfen niemanden der Sünde beschuldigen, es sei denn, wir hätten klare Beweise für die Schuld.
Mit einem gewissen Sarkasmus sagt Hiob, dass die Freunde „eindringliche Worte“ sprechen, die er auch „richtig“ nennt (Vers 25). Dass sie sarkastisch gemeint sind, wird in der nächsten Zeile deutlich. Dort sagt er, dass ihre tadelnden Worte überhaupt nichts bedeuten. Sie denken sich einfach Dinge aus, ohne wirklich zu wissen, was sie sagen (Vers 26). Ihre Worte haben keine Substanz und keine Grundlage, während sie selbst denken, sie seien richtig. Andererseits betrachten sie die Worte des gequälten Hiob als Wind, als flüchtig, ohne Inhalt, während sie doch aus großer Verzweiflung gesprochen werden. Sie hörten nicht wirklich auf Hiobs klagende Worte, ignorierten seine Seelenqualen, nahmen den Schrei seines Herzens nicht ernst.
Paulus schreibt, dass auch er verzweifelt war, dass er und andere mit ihm „am Leben verzweifelten“ (2Kor 1,8). Allerdings waren die Umstände, um die es ging, anders als die, in denen sich Hiob befand. Der Hauptunterschied zwischen Hiob und Paulus ist jedoch, dass Hiob sowohl am Leben als auch an Gott verzweifelte, während dies bei Paulus nicht der Fall war. Paulus verzweifelte nicht an Gott, sondern vertraute auf den, „der die Toten auferweckt, der uns von so großem Tod errettet hat und errettet, auf den wir unsere Hoffnung gesetzt haben, dass er uns auch ferner erretten wird“ (2Kor 1,9.10).
Noch einmal wird Hiob gegen seine Freunde deutlich. Er nennt sie jetzt die unbarmherzigsten Menschen, die er sich vorstellen kann. Er sieht sie dazu imstande, ein wehrloses Waisenkind zu verlosen, um Geld zu verdienen (Vers 27). Sie würden auch nicht zögern, ihren Freund zu verkaufen. Hiob ist so enttäuscht von ihnen, dass er ihnen Dinge vorwirft, die nicht wahr sind, aber seinem Empfinden nach sind sie es. Er ist völlig frustriert von ihrer Unbarmherzigkeit und ihrem Mangel an Mitgefühl. Seinen Ausbruch kann man nicht schönreden, aber wohl verstehen, wenn man liest, was seine Freunde zu ihm sagen.
Dann besinnt er sich etwas und bittet sie, doch mal genau hinzugucken, das heißt, um wenigstens etwas Verständnis für ihn aufzubringen (Vers 28). Er hält sie doch nicht für Narren, indem er ihnen ins Gesicht lügt? Er ist wirklich mit den Nerven am Ende und kann sich keinen Grund dafür vorstellen. Er ruft sie zur Umkehr auf, womit er meint, dass sie ihre Meinung über ihn und die Ursache seines Leidens korrigieren sollen (Vers 29). Mit ihrem Urteil über ihn und die Ursache seines Leidens begehen sie Unrecht. Er ist wirklich in seinem Recht. Seine „Gerechtigkeit“ ist immer noch da. Daher sollen sie umkehren.
Hiob argumentiert, dass nicht er sich geirrt hat, sondern dass sie sich geirrt haben. Auf seiner Zunge ist kein Unrecht (Vers 30). Er hat kein einziges lügnerisches Wort gesprochen. Er suggeriert sogar, dass sein Gaumen schon sehr fein unterscheiden kann, ob er durch eigenes Verschulden in dieses Elend geraten sei. Hiob betont, dass er ehrlich und aufrichtig ist. Er behauptet, dass er immer noch gerecht und aufrichtig ist, dass er vollkommen in der Lage ist, seine eigene Situation zu beurteilen, und dass sein Gewissen vollkommen rein und unbelastet von jeder uneingestandenen Sünde ist.
Hiob rühmt sich hier fälschlicherweise, dass er in seinen Worten untadelig ist. Er vergisst, dass er nicht vollkommen ist. Es gibt nur einen, der sagen konnte: „Wer von euch überführt mich der Sünde?“ (Joh 8,46a).