Einleitung
Im vorangegangenen Kapitel erinnerte sich Hiob an seinen vergangenen und nun verschwundenen Wohlstand. Nun ist er gezwungen, in die Realität des Jetzt zurückzukehren. In diesem Kapitel befasst er sich erneut mit seinem derzeitigen Elend. Er beginnt die Beschreibung mit „und nun“ (Vers 1; vgl. Vers 9), was den Kontrast zum vorherigen Kapitel unterstreicht.
Dramatischer als in diesen beiden Kapiteln lässt sich der Wandel vom Wohlstand zur Katastrophe nicht beschreiben. Wenn wir ein bisschen Gefühl dafür bekommen, können wir uns vorstellen, wie sehr Hiobs Seele von dieser Veränderung überwältigt ist. Früher wurde er von den angesehensten und bedeutendsten Menschen geehrt, heute wird er vom Abschaum der Gesellschaft verachtet. Früher wurde er gepriesen, heute ist er zum Gespött geworden. Früher hat Gott ihn beschützt, jetzt ist Gott ein Grausamer für ihn geworden.
1 - 8 Seine schrecklichen Spötter
1 Und nun lachen über mich Jüngere als ich an Jahren, deren Väter ich verschmähte, den Hunden meiner Herde beizugesellen. 2 Wozu sollte mir auch die Kraft ihrer Hände [nützen]? Die Rüstigkeit ist bei ihnen verschwunden. 3 Durch Mangel und Hunger abgezehrt, nagen sie das dürre Land ab, das längst öde und verödet ist; 4 sie pflücken Salzkraut bei den Gesträuchen, und die Wurzel der Ginster ist ihre Speise. 5 Aus der Mitte [der Menschen] werden sie vertrieben; man schreit über sie wie über einen Dieb. 6 In grausigen Klüften müssen sie wohnen, in Erdlöchern und Felsenhöhlen. 7 Zwischen Gesträuchen kreischen sie, unter Dorngestrüpp sind sie hingestreckt. 8 Kinder von Verworfenen, ja, Kinder von Ehrlosen, sind sie hinausgepeitscht aus dem Land!
In diesen Versen beginnt Hiob seine Beschreibung des Ausmaßes seines Unglücks, indem er auf die Art von Menschen hinweist, die ihn jetzt schmähen. Sie sind der Abschaum der Menschheit. In verächtlichen Worten äußert sich Hiob über die Menschen, denen er früher Gutes tat, die sich aber jetzt über ihn stellen.
Wie oben bereits erwähnt, deutet das Wort „und nun“ auf eine Veränderung gegenüber dem vorangegangenen Kapitel hin (Vers 1). Das Wort „nun“ in diesem Kapitel steht im Gegensatz zu „den Monaten der Vorzeit“ am Anfang des vorangegangenen Kapitels (Hiob 29,2). Hiob wird nun verspottet. Und von wem? Von Menschen, die jünger sind als er (Hiob 19,18). Früher hatten sich die jungen Leute versteckt, wenn er zum Tor ging (Hiob 29,8), aber jetzt lachen sie über ihn, sie machen sich über ihn lustig, indem sie Witze über ihn machen.
Leider kommt es in unserer Zeit immer häufiger vor, dass sich junge Menschen abfällig über ältere Menschen äußern oder sie negativ kritisieren. Eine solche Haltung steht im Widerspruch zu Gottes Wort. Wer das tut, bekommt es mit Gott selbst zu tun (3Mo 19,32). Junge Menschen werden aufgerufen, sich den Älteren unterzuordnen (1Pet 5,5a). Die Älteren sollten sich aber fragen, ob sie sich so verhalten, dass es für die Jüngeren nicht so schwierig ist.
Hiob sagt von diesen spöttischen Jugendlichen, sie seien die Nachkommen minderwertiger Väter. Wie kann man von solchen Vätern erwarten, dass sie ihren Kindern Anstand beibringen? Er würde diesen Vätern nicht einmal einen Platz unter den (Hirten-)Hunden geben wollen – das einzige Mal, dass in der Bibel diese Hunde erwähnt werden. Ein Platz unter Hunden bedeutet große Verachtung, denn im Osten waren Hunde verachtete Tiere (2Sam 16,9).
Hiob wollte diese Menschen nicht gebrauchen, sie waren aber auch untauglich, um gebraucht zu werden (Vers 2). Sie konnten und wollten nichts leisten. Sie hatten nie gelernt, anzupacken, weil sie es nicht wollten. Als sie alt und kraftlos wurden, war von ihnen erst recht nichts mehr zu erwarten. Und die Nachkommen dieser Sorte Menschen haben die Frechheit, Hiob zu verspotten.
Die Väter litten Mangel und Hunger und waren deshalb „abgezehrt“, d. h., aus ihren Händen kam nichts, was anderen von Nutzen war (Vers 3). Sie wurden auch nirgendwo geduldet. Deshalb „nagen sie das dürre Land ab“. Ihr unfruchtbares Leben passte perfekt zu einem dürren Land, das auch von Unfruchtbarkeit spricht. Sie blieben in dunklen Höhlen inmitten von Verwüstung und Verödung. Ihr ganzes Lebensumfeld zeugt von Leere, Dunkelheit und Trostlosigkeit.
Sie lebten von Kräutern, die sie pflücken konnten, und von den Blättern der Sträucher (Vers 4). So schienen sie ein tierähnliches Leben zu führen. Aus der „Wurzel des Ginsters“ wurde die beste Holzkohle hergestellt, die tagelang brennen konnte. Zu Hiobs Zeiten war dies eine Arbeit für die unterste Schicht der Menschen.
Die Gesellschaft wollte sie nicht dabei haben. Wenn sie an die Tür klopften, wurden sie wie Bettler weggejagt, und die Leute schrien ihnen nach, dass sie gemeine Diebe seien (Vers 5). Es waren keine bedauernswerten Menschen, die man bemitleiden musste, sondern Menschen, die in keinster Weise ein anständiges Leben führen wollten. Sie hatten diese Art von Leben gewählt.
Sie zogen es vor, an den Hängen der Täler zu leben, wo sonst niemand leben wollte (Vers 6). Wie Kaninchen gruben sie Löcher in den Staub oder zogen in solche, die sich in den Felsen befanden.
Ihre gegenseitige Kommunikation erfolgte durch Kreischen (Vers 7). Das gleiche Wort wird für die Laute eines Esels verwendet (Hiob 6,5). „Unter Dorngestrüpp“ kauerten sie zusammen, um sich zu wärmen, aber auch, um ihren sexuellen Trieben zu frönen. Sie waren völlig schamlos. Vielleicht hat auch das ungenierte Kreischen im Gebüsch damit zu tun. Sie lebten in jeder Hinsicht wie die Tiere.
Diese Väter waren selbst auch „Kinder von Verworfenen“, das heißt von Vätern, die ohne Gott und ohne Gebot gelebt hatten (Vers 8). Sie kamen aus einem Milieu, das wir heute als asozial bezeichnen, und zwar von der schlimmsten Sorte. Sie waren ehrlos und unbedeutend. Es gibt wenig, was die Würde eines Menschen so sehr beeinträchtigt, wie so zu tun, als gäbe es ihn nicht, als wäre er Luft. Die Menschen, von denen Hiob spricht, sind solche Menschen, die keine Existenzberechtigung haben, weil sie keinerlei Verantwortung übernommen haben. Deshalb wurden sie „hinausgepeitscht aus dem Land“.
Und es sind die Nachkommen dieser Nichtsnutze ohne Anstand und ohne Ehre, die nun zu Hiob kommen, um ihre Verachtung für ihn auszudrücken. Die Frage ist, ob wir in der Lage sind auch nur ansatzweise zu begreifen, was für einen Kummer das für ihn bedeuten muss. In jedem Fall erfordert es von uns ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen. Wenn wir uns im Geist neben Hiob setzen, werden wir etwas von der Bitterkeit des Leids spüren, das ihm damit angetan wird.
9 - 15 Ihre Verachtung
9 Und nun bin ich ihr Spottlied geworden und wurde ihnen zum Gerede. 10 Sie verabscheuen mich, treten fern von mir weg, und sie verschonen mein Angesicht nicht mit Speichel. 11 Denn er hat meinen Strick gelöst und mich gebeugt; so lassen sie vor mir den Zügel schießen. 12 Zu meiner Rechten erhebt sich die Brut; sie stoßen meine Füße weg und bahnen gegen mich ihre Wege des Unheils. 13 Sie zerstören meinen Pfad, befördern meinen Untergang, sie, die selbst hilflos sind. 14 Sie kommen wie durch einen weiten Riss, unter Gekrach wälzen sie sich heran. – 15 Schrecknisse haben sich gegen mich gekehrt; man verfolgt wie der Wind meine Würde, und meine Rettung ist vorübergezogen wie eine Wolke.
In den vorangegangenen Versen hat Hiob das verdorbene Milieu beschrieben, aus dem der Abschaum kam, der verächtlich auf ihn herabsah. In den Versen 9–15 spricht Hiob darüber, wie der Abschaum, den er in den vorangegangenen Versen in seiner Herkunft beschrieben hat, ihn schmäht (Verse 9–12) und ihn belagert (Verse 13–15).
In Vers 9 sagt Hiob zum zweiten Mal „und nun“ (vgl. Vers 1) als Einleitung zu einer Beschreibung der Situation, in der er sich jetzt befindet, die im Gegensatz zu seiner früheren Situation steht. Er wird nun vom Abschaum der Gesellschaft verspottet, von Menschen, für die niemand Respekt, sondern nur Verachtung übrig hat. Sie singen Spottlieder über ihn und machen sich über ihn lustig, indem sie ihn verhöhnen. Sie amüsieren sich über ihn.
Sogar diese Art von Menschen schauen mit Abscheu auf ihn herab (Vers 10). Sie halten sich weit von ihm entfernt. Manchmal laufen sie schnell auf ihn zu, um ihm ins Gesicht zu spucken und dann wieder schnell wegzulaufen. Sie tun dies nicht aus Angst, sondern weil er stinkt. Auf den Boden zu spucken, wenn man jemanden sieht, ist ein Zeichen der Verachtung, aber jemandem ins Gesicht zu spucken ist weitaus schlimmer. Wie tief muss sein Elend sein!
Was Hiob in den Versen 10 und 11 sagt, erinnert sehr an das, was die Menschen dem Herrn Jesus angetan haben. Wir lesen davon zum Beispiel in den Psalmen 22, 69 und 102. Er hat auch den tiefen Schmerz gespürt, Er litt zwar, aber drohte nicht. In allen Dingen übergab Er sich dem, „der gerecht richtet“ (1Pet 2,23). Wenn jemand von dem Unterschied zwischen vergangener Herrlichkeit und gegenwärtigem Leiden sprechen kann, dann ist es der Herr Jesus während seines Lebens auf der Erde. Er tauschte freiwillig die Herrlichkeit beim Vater gegen den größten Hohn und Spott der Welt.
Angesichts all des Elends, das ihm die Menschen angetan haben, weiß Hiob, dass er letztlich von Gott kraftlos gemacht und gedemütigt worden ist (Vers 11). Sein Strick, seine „Zeltschnur“ ist der Faden, der ihn an das Leben bindet. Petrus spricht von seinem Tod als dem „Ablegen meiner Hütte“ (2Pet 1,14). Hiob dachte, er hätte den Faden seines Lebens in der Hand und würde alles gut bewältigen. Aber Gott hat ihn aus seiner gesellschaftlich starken und ehrenvollen Position verstoßen.
Jetzt ist jeglicher Respekt vor ihm verschwunden. Der Abschaum nutzt sein Elend und seine Wehrlosigkeit aus, um ihn noch mehr zu erniedrigen. Alles, was sie im Zaum gehalten hat, als er im Wohlstand war, werfen sie beiseite, und jetzt richten sie ihren beißenden Spott auf ihn. Sie halten ihre Zunge nicht im Zaum, sondern lassen ihr freien Lauf, um ihn lächerlich zu machen und zu verschmähen (vgl. Ps 39,2; 141,3).
In Vers 12 scheint Hiob über eine andere Gruppe von Gegnern zu sprechen. Sie sind auf dem gleichen niedrigen Niveau, denn er nennt sie „Brut“. Sie belassen es jedoch nicht beim Spott, sondern klagen ihn auch an und greifen ihn an. Die rechte Seite ist die Stelle des Anklägers (Sach 3,1; Ps 109,6). Möglicherweise meint er mit diesem Pöbel und diesen Anklägern die Katastrophen und Bedrängnisse, die über ihn gekommen sind. Schließlich werden diese zum Anlass genommen, ihn des Bösen zu bezichtigen.
Die schweren Vorwürfe treiben ihn in die Flucht. Er vergleicht sich selbst mit einer belagerten Stadt. An der Mauer dieser Stadt werden Belagerungswälle errichtet, um sie einzunehmen. Hiob empfindet die Katastrophen als Wege, die zu ihm gebahnt werden, um ihn ins Verderben führen.
Sein Weg, oder auch Fluchtweg, ist also abgeschnitten (Vers 13). Es gibt kein Entkommen mehr. Sie alle streben nach seinem Untergang. Alle und alles sind gegen ihn. In seiner Umgebung gibt es niemanden, der ihm hilft, es gibt „keinen Helfer“ (vgl. Hiob 29,12; Ps 22,12; 72,12). Alle belagern ihn. Er ist von Gott und den Menschen verlassen.
Nach dem Spott kommt das Signal zum Angriff (Vers 14). Die Angreifer haben eine Bresche in die Mauer seiner Verteidigung geschlagen. Und es ist ein „weiter Riss“. In den Katastrophen und Anklagen wogt die Zerstörung heran. Hiob droht im Meer der Leiden unterzugehen.
Als Hiob die hereinbrechende Flut des Leidens sieht, spürt er, dass sich die Schrecken gegen ihn gewendet haben (Vers 15). Wie durch einen Windstoß wird ihm seine Würde genommen. Sein ganzes Glück hat sich verflüchtigt, ist weggefegt, wie eine Wolke, die vorbeigezogen ist und sich aufgelöst hat (vgl. Hes 6,4 ; 13,3).
16 - 19 Seine Leiden
16 Und nun ergießt sich in mir meine Seele; Tage des Elends haben mich ergriffen. 17 Die Nacht durchbohrt meine Gebeine [und löst sie] von mir ab, und die an mir nagenden [Schmerzen] ruhen nicht. 18 Durch [die] Größe [ihrer] Kraft verändert sich mein Gewand, es umschließt mich wie der Halssaum meines Untergewandes. 19 Er hat mich in den Schmutz geworfen, und ich bin wie Staub und Asche geworden.
Hiobs Seele ergießt sich in ihm, was bedeutet, dass er sich seinem Elend hingibt (Vers 16). Er bricht sozusagen zusammen. Er hat das Gefühl, dass das letzte bisschen Leben aus ihm herausfließt. Die Tage seines Elends ergreifen ihn, als hätten sie Hände und würden ihn kraftvoll packen, sie überwältigen ihn. Sein ganzes Leben und seine Gefühle werden davon beherrscht. Jeder Tag ist voller Elend, und die Tage reihen sich aneinander, ohne dass es irgendeine Erleichterung oder auch nur den Anschein einer Erleichterung gibt.
Die Nacht ist nicht besser als der Tag (Vers 17). Es scheint, als ob die Pein in der Nacht noch zunimmt. Der Schmerz schießt ihm durch Mark und Bein. Der Schmerz in den Knochen ist der tiefste Schmerz. Wir sagen manchmal, dass wir bis auf die Knochen durchgefroren sind und meinen damit, dass uns durch und durch kalt ist. So hatte Hiob die an ihm nagenden Schmerzen, sodass er die ganze Nacht durch und durch litt und auch nachts keine Ruhe hatte (vgl. Hiob 33,19).
Nachdem Hiob von den unsichtbaren Knochen in seinem Körper gesprochen hat, spricht er von „meinem Gewand“, das sein Äußeres darstellt. Er ist durch die zerstörerische Kraft seiner Krankheit und seiner Geschwüre unkenntlich geworden (Vers 18). Er fühlt sich von Gott mit „großer Kraft“ an der Kehle gepackt, so wie ein Hemdkragen, so eng um den Hals sein kann, dass man das Gefühl hat zu ersticken.
Hiob fühlt sich dann von Gott in den Sumpf von Unglück und Elend geworfen (Vers 19). Das hat dazu geführt, dass er in eine fürchterliche Situation geraten ist und von allen gemieden wird. Was ihn selbst betrifft, so sind alle Kraft und alles Leben aus ihm gewichen. Er drückt dies aus, indem er sagt, er sei „wie Staub und Asche geworden“ (vgl. 1Mo 18,27). Von Anfang an war er „mitten in der Asche“ (Hiob 2,8), und nun hat er das Gefühl, dass er durch Gottes Eingreifen so niedrig und wertlos wie Staub und Asche geworden ist.
20 - 23 Keine Hilfe von Gott
20 Ich schreie zu dir, und du antwortest mir nicht; ich stehe da, und du starrst mich an. 21 In einen Grausamen verwandelst du dich mir, mit der Stärke deiner Hand befeindest du mich. 22 Du hebst mich empor auf den Wind, du lässt mich dahinfahren und zerrinnen im Sturmgetöse. 23 Denn ich weiß es, du willst mich in den Tod zurückführen und in das Versammlungshaus aller Lebendigen.
Mehrmals hat Hiob von Gott gesprochen und Ihm vorgeworfen, ungerecht gehandelt zu haben. Nun ist es so weit, dass er sich direkt an Gott selbst wendet (Vers 20). Aber es gibt keine Antwort. Das konnte im wahrsten Sinne des Wortes nur der Herr Jesus sagen (Ps 22,2–4). Und wie groß ist der Unterschied zwischen Ihm und Hiob. Der Herr hat sein Vertrauen in Gott und seine Gerechtigkeit nie aufgegeben, während Hiob an der Gerechtigkeit Gottes zweifelt. Hiob erhält (noch) keine Antwort, weil er noch nicht so weit ist. Der Herr Jesus wurde von Gott verlassen und erhielt keine Antwort, weil Gott die Sünden aller, die an Ihn glauben, auf Ihn legte und Ihn dafür richtete. Dabei hat Er Gott nichts Ungereimtes zugeschrieben.
Hiob hingegen schreibt Gott ungereimte Dinge zu. Sein Leiden ist nach wie vor groß und wird sogar von Tag zu Tag größer. Er steht aufrecht vor Gott, aber er stellt fest, dass Gott ihn nicht beachtet. Das ist wohl die größte Qual. Er weiß, dass Gott da ist und ihn sieht. Doch Gott tut so, als sei Er nicht an ihm interessiert. Hiob hat den Eindruck, dass es Gott gleichgültig ist, wie es ihm geht.
Dies veranlasst Hiob, Gott „einen Grausamen“ zu nennen (Vers 21). Das ist wahrlich eine sehr starke Anschuldigung. Gleichzeitig bedeutet dies, dass Gott zwar auf Hiob achtet, aber kein Mitleid mit seiner Situation zeigt. Im Gegenteil. Gott hat sich von jemandem, der ihn mit Segen überschüttet hat, in jemanden verwandelt, der ihn jetzt grausam behandelt. Die veränderte Haltung der Menschen, die er in den vorhergehenden Versen beschrieben hat, ist auch bei Gott vorhanden, sagt Hiob. Gott hat sich mit seiner mächtigen Hand und seinen mächtigen Taten gegen ihn gewandt.
Hiob fühlt sich als Spielball Gottes, wie ein Blatt ein Spielball des Windes ist (Vers 22). Wegen der Katastrophen, die wie ein Wind sein Leben weggeweht haben, hat er jeden Halt verloren. Er ist wehrlos dem Lauf der Dinge ausgeliefert, auf den er keinen Einfluss hat, wie der Wind, den man nicht fassen kann. Das Elend ist wie ein Wagen, auf dem er sitzt und der ihn mitnimmt, ohne dass er aussteigen kann. Wie könnte er auch, wenn Gott der „Wagenlenker“ ist? So schmilzt seine Existenz dahin und verliert jede Festigkeit.
Er „weiß“, dass Gott ihn auf seinem „Windwagen“ unaufhaltsam dem Tod entgegenführt (Vers 23). Dann landet er an dem Ort, an dem schließlich alle Lebenden ausnahmslos landen, im Grab – außer Henoch und Elia. Dass er dies „weiß“, steht nicht im Widerspruch zu dem, was er zuvor gesagt hat: „Und ich, ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ (Hiob 19,25). Das ist Teil des Hin und Her und Auf und Ab seiner Gefühle. Hier ist er wieder völlig von seinen Katastrophen und Plagen überwältigt und sieht keine Perspektive.
24 - 27 Der Triumpf des Elenden
24 Doch streckt man beim Sturz nicht die Hand aus, oder erhebt man bei seinem Untergang nicht deswegen einen Hilferuf? 25 Weinte ich denn nicht über den, der harte Tage hatte? War meine Seele nicht um den Armen bekümmert? 26 Denn ich erwartete Gutes, und es kam Böses; und ich harrte auf Licht, und es kam Finsternis. 27 Meine Eingeweide wallen und ruhen nicht; Tage des Elends sind mir entgegengetreten.
Hiob fragt sich, ob Gott wirklich nicht seine Hand nach jemandem ausstreckt, der im Schlamassel steckt, wenn er zu Ihm schreit, weil er sich nicht selbst aus diesem Elend befreien kann (Vers 24). Wer in seiner Bedrängnis zu Gott um Hilfe schreit, den wird Er doch wohl daraus erlösen? Gott wird doch nicht still bleiben, wenn Er angerufen wird?
Hiob bezieht sich wieder auf seine frühere Handlungsweise (Vers 25; Hiob 29,1–25). Damals hatte er sich mit Leib und Seele für die Leiden anderer eingesetzt und Mitgefühl und Trost gezeigt. Er hatte über den geweint, „der harte Tage hatte“ (vgl. Ps 35,13; Röm 12,15). Er hatte dies aus echtem Mitleid und mit Trauer in der Seele getan (vgl. Jes 58,7.10).
Aber für ihn gibt es keinen Tröster und keine innere Ruhe. Dies ist eine große Enttäuschung und Beschämung. Er versteht nicht, warum er das alles ertragen muss, und das macht sein Leid so schwer. Das erinnert wieder an den Herrn Jesus, der ebenfalls klagte: „Der Hohn hat mein Herz gebrochen, und ich bin ganz elend; und ich habe auf Mitleid gewartet, und da war keins, und auf Tröster, und ich habe keine gefunden“ (Ps 69,21).
Hiob hatte Gutes erwartet, weil er Gutes getan hatte (Vers 26). Er bringt seine tiefe Enttäuschung darüber zum Ausdruck, dass statt des erwarteten Guten das Böse gekommen war. Er sitzt in der Dunkelheit des Elends, das in sein Leben getreten ist und sich über sein Leben ausbreitet, während er auf Licht hoffte.
Er kann nicht verstehen, warum die Dinge für ihn so gelaufen sind und ist deswegen in größter Not (Vers 27). Die „Eingeweide“ stehen auch für die inneren Gefühle (vgl. Jes 16,11). Es kocht und brodelt in ihm, es herrscht Unruhe in seiner Seele und fiebrige Hitze in seinem Körper. Er kann sich nicht mit seinem Elend und seinem Schmerz abfinden. Es ist unmöglich für ihn, darüber schweigend hinwegzusehen. Unerwartet sind die Tage des Elends über ihn hereingebrochen. Sie haben gedroht, seine Pläne und Hoffnungen für die Zukunft in Grund und Boden zu stampfen, und es ist ihnen gelungen. Das macht ihn völlig hoffnungslos, wie er im letzten Teil dieses Kapitels offenbart.
28 - 31 Ganz unten
28 Trauernd gehe ich umher, ohne Sonne; ich stehe auf in der Versammlung [und] schreie. 29 Ich bin ein Bruder geworden den Schakalen und ein Genosse den Straußen. 30 Meine Haut ist schwarz geworden [und löst sich] von mir ab, und mein Gebein ist brennend vor Glut. 31 Und so ist meine Laute zur Trauerklage geworden und meine Schalmei zur Stimme der Weinenden.
Hiob kann keinen einzigen Lichtstrahl mehr erkennen. Seine Haut ist „schwarz geworden“ (Vers 28). Nicht wegen der Sonne, sondern wegen der Krankheiten, die ihn so schwer und umfassend beeinträchtigt haben. So geht er, so lebt er, von Sekunde zu Sekunde, so vergeht sein Leben. Hiob fühlt sich wie ein einsamer Wanderer in der Finsternis, obwohl er von einem Kreis von Menschen umgeben ist, wenn auch auf Abstand. Wenn er aufsteht und um Hilfe ruft, ist sein Hilferuf nicht an sie gerichtet. Es ist ein allgemeiner Hilferuf aus größter Not heraus, von jemandem, der früher selbst bereit war, Menschen in Not zu helfen.
Er ist „ein Bruder geworden den Schakalen und ein Genosse den Straußen“, Tiere, die die Gesellschaft der Menschen meiden und von den Menschen verabscheut werden (Vers 29). In den Lauten, die sie von sich geben, den Heulen der Schakale und dem Stöhnen der Strauße, drücken sie Hiobs Kummer und Klage aus (Mich 1,8). Hiob fühlt sich aus der Gemeinschaft der Menschen ausgestoßen und zu diesen Tieren verbannt.
Seine Haut hat sich geschwärzt und ist im Begriff, abzufallen (Vers 30; vgl. Klgl 4,8). Sein Körper eitert von Geschwüren und seine Knochen sind von einem brennenden Fieber zerfressen. Alle Freude ist dahin (Vers 31). „Laute“ und „Schalmei“ werden für den Ausdruck von Freude verwendet, aber Hiob kann damit nur Trauer- und Klagelieder anstimmen (Klgl 5,15). Seine Stimme wird vom Schluchzen eines Weinenden erstickt.