Einleitung
In diesem Kapitel hören wir die Antwort von Hiob an Bildad. Der Inhalt dieses Kapitels lässt sich in vier Strophen unterteilen:
1. Erstens: Hiobs Verzweiflung über die hartnäckigen Angriffe seiner Freunde, die auf ihm herumtrampeln (Verse 2–5).
2. Dann kommt seine Verzweiflung über Gott, der ihn im Stich gelassen hat und ihn nach seinem Empfinden weiterhin ungerecht behandelt (Verse 6–12).
3. Dann seine Verzweiflung darüber, dass Gott seine Nachbarn und sogar seine Frau von ihm entfremdet hat (Verse 13–20).
4. Aber schließlich wendet er sich im Glauben an Jemanden, seinen Erlöser, der ihn am Ende erlösen wird (Verse 21–27), sodass er einen Appell an seine Freunde richtet (Vers 21) und eine Warnung ausspricht (Verse 28.29), keine falschen Anschuldigungen zu machen.
1 - 6 Wie lange machen die Freunde noch so weiter?
1 Und Hiob antwortete und sprach:
2 Wie lange wollt ihr meine Seele plagen und mich mit Worten zermalmen?
3 Schon zehnmal habt ihr mich geschmäht; ihr schämt euch nicht, mich zu verletzen.
4 Und habe ich auch wirklich geirrt, so bleibt [doch] mein Irrtum bei mir.
5 Wenn ihr wirklich gegen mich großtun und meine Schmach gegen mich darlegen wollt,
6 so wisst denn, dass Gott mich [in meinem Recht] gebeugt und mich umstellt hat mit seinem Netz.
Wie bei den vorherigen Malen antwortet Hiob auf das, was zu ihm gesagt wurde, diesmal von Bildad (Vers 1). Er fragt Bildad und mit ihm die beiden anderen Freunde, wie lange sie fortfahren werden, ihn zu beschuldigen (Vers 2). Sie plagen damit seine Seele durchdringend. Seine Gefühle werden durch die Worte von Bildad und seinen Freunden tief verletzt und zermalmt. Sie machen ihn innerlich völlig kaputt mit dem, was sie ihm sagen.
Sie haben ihn mit ihren unbegründeten Anschuldigungen bereits „zehnmal“ [ein Ausdruck, der „zig-mal“ bedeutet (1Mo 31,7; 4Mo 14,22)] „geschmäht“ (Vers 3). Immer wieder hat er sie auf ihren Irrtum hingewiesen und ihre Anschuldigungen zurückgewiesen. Sie konnten keinen einzigen ihrer Vorwürfe durch Beweise belegen. Sie gehen davon aus, dass er leidet, weil er gesündigt hat. Obwohl sie keine Beweise für ihre Anschuldigungen haben, schämen sie sich nicht, ihn so hart zu behandeln.
Ihr Vorgehen gegenüber Hiob ist geradezu schamlos. Sollte ihr Kommen ihn nicht trösten? Dazu waren sie ja zu ihm gekommen, oder?
Nehmen wir an, dass ich mich wirklich geirrt habe, sagt Hiob. Doch was habe ich euch dann damit angetan (Vers 4)? Ich habe das doch nur mir selbst angetan, oder? Dann braucht ihr euch doch nicht so viele Gedanken zu machen, oder? Ihr habt kein Recht, mich so hart zu behandeln. Ihr nehmt jetzt den Platz von Gott ein. Ihr erhebt euch über mich, durch eure Vorhaltungen über die Sünden die ich getan haben soll (Vers 5). Ihr blickt auf mich herunter und sprecht von oben herab zu mir. Ihr macht euch selbst auf meine Kosten groß. Als Beweis für eure Anschuldigungen führt ihr „meine Schmach“ an. Diese Schmach soll ich durch meine Sünden über mich gebracht haben.
Aber ich habe nicht mit euch zu tun, sondern mit Gott (Vers 6). Gott hat mich in die Schmach und Schande niedergedrückt. Wenn ihr jemanden anklagen wollt, dann klagt nicht mich an, sondern Gott! Das sollten sie sich mal gut verinnerlichen. Hiob sieht in allem die Hand Gottes. Aber er hat keine Erklärung dafür, warum Gottes Hand so schwer auf ihm lastet, während seine Freunde behaupten, dass diese Hand ihn wegen seiner Sünden gezüchtigt hat.
Hiob glaubt, dass Gott ohne Grund gegen ihn ist. Seine Freunde meinen, dass Gott allen Grund hat, gegen ihn zu sein. Keiner von beiden hat Recht, denn Gott ist für Hiob. Gottes Zorn entzündete sich in aller Heftigkeit am Kreuz gegen den Herrn Jesus, aber nicht gegen Hiob.
Hiob fühlt sich von Gottes Fangnetz aus Not und Unheil umgeben, aus dem er sich nicht befreien kann. Dies steht im Gegensatz zu Bildads Behauptungen, Hiob sei durch eigenes Verschulden in dieses Netz geraten (Hiob 18,7.8). Gleichzeitig gibt es aber auch den Aspekt, dass Gott Hiob mit seinem Netz zu sich zieht. Hiob ist noch nicht bereit, sich Gott auszuliefern, aber er ist ständig auf der Suche nach Ihm.
7 - 12 Von Gott verstoßen und verlassen
7 Siehe, ich schreie über Gewalttat und werde nicht erhört; ich rufe um Hilfe, und da ist kein Recht. 8 Er hat meinen Weg verzäunt, dass ich nicht hinüber kann, und auf meine Pfade legte er Finsternis. 9 Meine Ehre hat er mir ausgezogen und die Krone meines Hauptes weggenommen. 10 Er hat mich ringsum niedergerissen, so dass ich vergehe, und hat meine Hoffnung ausgerissen wie einen Baum. 11 Und seinen Zorn ließ er gegen mich entbrennen und achtete mich seinen Feinden gleich. 12 Miteinander kamen seine Scharen und bahnten ihren Weg gegen mich und lagerten sich rings um mein Zelt.
Hiob schreit, dass in seinem Fall dem Recht Gewalt angetan wird (Vers 7). Er sagt, dass es Gott ist, der das tut. Dennoch wendet sich Hiob an Gott und bittet um Hilfe. Sein Hilferuf findet jedoch kein Gehör bei Ihm. Er bekommt sein Recht nicht. Es gibt niemanden, der sich für ihn einsetzt, niemanden, der sagt, dass das Leid, das er erfährt, ungerecht ist und von ihm genommen werden sollte.
Ab Vers 8 beschuldigt er Gott direkt, ihm das Leben unmöglich zu machen. Sein Lebensweg ist von Gott versperrt und daher unpassierbar (Vers 8). Und die Wege, die er gegangen ist, hat Gott in Dunkelheit gehüllt, sodass er jede Orientierung verloren hat. Er kann in keine Richtung gehen. Wir würden sagen: Er sieht kein Licht am Ende des Tunnels. Nirgends ist ein Ausweg zu entdecken.
Hiob beschuldigt Gott, ihn seiner Ehre beraubt und ihm die Krone vom Haupt genommen zu haben (Vers 9). Von dem Ansehen, das er einst hatte, und dem Reichtum, den er als Krone besaß und der ihm Würde verlieh, ist nichts mehr übrig (Spr 14,24). Sein guter Name und sein Ruf sind dahin.
Hiob beschreibt den Ruin seines Lebens in Bildern. Wie ein Gebäude wird er von Gott niedergerissen, sodass nichts als eine Ruine übrig bleibt (Vers 10). Er ist ruiniert, weil Gott ihn von allen Seiten zerstört hat: materiell, in seiner Familie, in seiner Gesundheit, in seinen sozialen Kontakten und in seinen Freundschaftsbeziehungen. Er vergleicht sich auch mit einem Baum, der von einem Orkan ausgerissen wurde. Infolgedessen ist er nun ohne Hoffnung auf Leben.
Er sieht sich selbst als Zielscheibe des Zorns Gottes, der in seiner ganzen Wucht auf ihn losgelassen wurde (Vers 11). Das gibt ihm das Gefühl, dass Gott ihn behandelt, als wäre er sein Feind. Er sehnt sich nach Gott, doch Gott bringt all dieses Elend über ihn. Er versteht diese „Kriegssituation“ nicht, warum Gott sich so gegen ihn stellt. Dazu hat er Gott doch gewiss keinen Anlass gegeben?
Hiob sieht die Katastrophen, die über ihn gekommen sind, als „seine (Gottes) Scharen“ (Vers 12). Es ist, als ob Gott diese Katastrophen wie eine Armee auf ihn losstürmen ließe. Diese Armeen haben sich ihren Weg zu ihm gebahnt, was bedeutet, dass sie sich durch nichts haben aufhalten lassen. Sie taten alles, um Hiobs Zelt, seine Wohnung, zu erreichen, um sie belagern zu können. Es ist, als ob sein kleines, mickriges Zelt eine mächtige, feindliche Festung mit dicken Mauern wäre. Was macht Gott nur? Für Hiob ist es keine Frage, dass Gott dies getan hat. Seine quälende Frage ist und bleibt, warum Gott dies getan hat.
Tatsächlich ist Hiobs Argumentation genau die gleiche wie die seiner Freunde. Er glaubt auch, dass Gott Katastrophen über einen Menschen bringt, wenn er sündigt. Die Freunde schließen aus dem Unglück, das ihm widerfahren ist, dass er gesündigt haben muss. Hiob weiß, dass dies nicht der Fall ist. Das bringt ihn in großen Konflikt mit seinem Denken über Gott. Er weiß, dass er nichts getan hat, was dieses Leiden rechtfertigen würde, und doch straft Gott ihn. Das Problem liegt nicht bei ihm, also … muss Gott sich irren.
Gott erträgt Hiobs′ Anschuldigungen, bis seine Zeit gekommen ist, ihn in seine heilige Gegenwart zu bringen. Jeder, der maßloses Leid erfährt, fragt sich vielleicht eine Zeit lang, warum Gott dies zulässt. Solange wir nicht selbst ein solches Leiden erlebt haben, tun wir gut daran, unser Urteil über Hiobs Anschuldigungen zurückzustellen, bis wir Gott sprechen gehört haben.
Was wir wissen dürfen, ist, dass Gott uns nicht als seine Feinde betrachtet, wenn Leid in unser Leben tritt. Wir können Gottes Weg mit uns nicht immer verstehen, aber wir dürfen wissen, dass für diejenigen, „die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken“ (Röm 8,28). Wenn Er uns züchtigt, beweist Er außerdem seine Liebe zu uns und beweist, dass Er uns als seine Söhne ansieht (Heb 12,6). Von Feindseligkeit uns gegenüber kann keine Rede sein.
13 - 20 Von den Menschen verachtet
13 Meine Brüder hat er von mir entfernt, und meine Bekannten sind mir ganz entfremdet. 14 Meine Verwandten bleiben aus, und meine Vertrauten haben mich vergessen. 15 Meine Hausgenossen und meine Mägde achten mich für einen Fremden; ein Ausländer bin ich in ihren Augen geworden. 16 Meinem Knecht rufe ich, und er antwortet nicht; mit meinem Mund muss ich zu ihm flehen. 17 Mein Atem ist meiner Frau zuwider, und mein übler Geruch den Kindern meiner Mutter. 18 Sogar kleine Kinder verachten mich; will ich aufstehen, so reden sie über mich. 19 Alle meine Vertrauten verabscheuen mich, und die, die ich liebte, haben sich gegen mich gekehrt. 20 Mein Gebein klebt an meiner Haut und an meinem Fleisch, und [nur] mit der Haut meiner Zähne bin ich entkommen.
In diesem Abschnitt geht Hiob von der Feindseligkeit Gottes ihm gegenüber zur Abscheu der Menschen ihm gegenüber über. Nach seinem totalen Zusammenbruch fühlt er sich von allen im Stich gelassen. Auch davon sagt er, dass es etwas ist, das Gott ihm antut. Vieles von dem, was er über die Haltung der Menschen ihm gegenüber sagt, können wir auf das anwenden, was die Menschen dem Herrn Jesus antaten und wie sie Ihn betrachteten. Der Herr ist in Wahrheit von allen verlassen worden. Hiob sieht keine Erklärung für das, was die Menschen ihm antun, aber der Herr wusste sehr wohl, warum Er so behandelt wurde und warum die Menschen Ihn so betrachteten.
Es ist ein großer Kummer, dass diejenigen, von denen du Unterstützung erwarten könntest, für dich unerreichbar geworden sind, wenn du intensiv leidest. Sie kommen nicht mehr zu dir, sondern lassen dich fallen. Und wenn sie zu dir kommen, fühlst du eine große Distanz, weil sie dich nicht verstehen, kein Mitgefühl für dich haben oder dir sogar Ratschläge geben, die dich verletzen. Gott lässt zu, dass wir in unseren Beziehungen enttäuscht werden, selbst in den engsten, um uns zu lehren, unser Vertrauen allein auf Ihn zu setzen. Wenn Er dieses Ziel erreicht hat, offenbart Er sich uns.
Brüder oder Geschwister, die immer für dich da waren, auf die du besonders in Zeiten der Not zählen konntest, lassen dich im Stich (Vers 13). Seine Freunde, „meine Bekannten“, tun so, als wäre er ein Fremder für sie (vgl. Ps 69,9). Diese Brüder und Freunde haben nichts von dem Bruder und Freund, von dem Salomo sagt: „Der Freund liebt zu aller Zeit, und als Bruder für die Bedrängnis wird er geboren“ (Spr 17,17). Ein wahrer Freund liebt nicht nur, wenn es dir gut geht, sondern auch, wenn es dir schlecht geht. In Zeiten der Not wird dieser Freund zu einem Bruder, der wie ein Familienmitglied hilft, die Last zu tragen (vgl. Gal 6,2). Das vollkommene Beispiel dafür ist der Herr Jesus. So ist Er für uns und enttäuscht uns nie.
Hiob ist völlig abgewrackt. Deshalb suchen ihn seine engsten Verwandten nicht mehr auf (Vers 14). Sie wollen nicht in der Gesellschaft eines solchen Mannes gesehen werden. Sie schämen sich für ihn. Seine Bekannten denken nicht einmal mehr an ihn und vergessen ihn. Es gibt wichtigere Dinge zu tun, als sich mit jemandem zu beschäftigen, der sich selbst in einen solchen Schlamassel gebracht hat. Solange es jemandem gut geht und es eine gewisse Ehre oder einen Nutzen hat, ihn zu besuchen, tun wir das. Aber wenn so etwas wie Mitgefühl gefragt ist, tun wir es nicht. Wir sind nicht gut darin, mit dem Leid anderer umzugehen.
Für seine Hausgenossen und Sklaven war Hiob ein Fremder, jemand, der nicht zu ihnen gehörte (Vers 15). Sie haben ihm nicht nur nicht geholfen, sondern auch die Beziehung zu ihm abgebrochen. Dies sind die Menschen, die ihm in der Zeit des Wohlstands im täglichen Leben nahe standen. Jetzt starren sie ihn an, als hätten sie ihn noch nie gesehen, als jemanden, der aus einem anderen Land kommt, mit einer anderen Sprache und anderen Sitten.
Der Knecht, der früher bereitwillig und treu seine Arbeit verrichtete, ist nun taub für Hiobs Stimme, wenn dieser ihn ruft (Vers 16). Er antwortet nicht und tut so, als sei Hiob für ihn Luft. Warum sollte er Hiob noch dienen? Hiob kann ihm nichts mehr geben, weder Lohn noch Strafe. Früher genügte eine Hand- oder Kopfbewegung, um den Knecht zum Handeln zu bewegen. Jetzt muss Hiob seinen Mund benutzen, um seinen Knecht zu etwas zu bewegen. Und anstatt ihm zu befehlen, demütigt sich Hiob und fleht seinen Knecht an.
Hiobs Frau ist anscheinend bei ihm geblieben, obwohl sie nicht, wie es sich für eine Ehefrau gehört, eine Hilfe für ihren Mann ist (Vers 17). Auch sie sieht ihn als Objekt des Unmuts Gottes und lässt ihn in seinem Leiden allein. Sie bleibt auf Abstand, damit sie seinen Atem nicht riechen muss. Die Liebe, die zwischen ihr und Hiob bestand, ist abgekühlt. Es ist äußerst tragisch, wenn in einer Ehe eine Tragödie, die einen der beiden Ehegatten trifft, zur Trennung führt. Not sollte zu einer stärkeren Einheit zwischen Mann und Frau führen.
„Die Kinder meiner Mutter“ sind seine Brüder und Schwestern. Sie halten sich die Nase zu, weil er wegen der eiternden Wunden, die seinen Körper bedecken, so stinkt.
Kleine Kinder verachten ihn (Vers 18). Kleine Kinder neigen dazu, behinderte Menschen anzustarren und einen Bogen um sie zu machen. Dies geschieht eher aus Angst als aus Verachtung. Kleine Kinder können jemanden wegen seines Aussehens verachten und respektlos behandeln (vgl. 2Kön 2,23). Hiob muss schrecklich und abstoßend ausgesehen haben. Als er aufstand, zollten sie ihm keinen Respekt, sondern fingen an, ihm zu widersprechen, ihn vielleicht sogar auszubuhen. Kleine Kinder können gegenüber den Schwachen und Verletzlichen in der Gesellschaft gnadenlos hart sein. Wie wichtig ist es, dass die Eltern ihre Kinder lehren, jeden Menschen als Geschöpf Gottes zu achten, gemäß dem Gebot: „Erweist allen Ehre“ (1Pet 2,17; vgl. Jak 3,8–11).
Auch all die Menschen, zu denen Hiob ein vertrauliches Verhältnis hatte, denen er vertraulich Dinge mitteilte, um zu hören, was sie dachten, wandten ihm angewidert den Rücken zu (Vers 19). Mit einigen Menschen verband ihn ein besonderes Band, ein Band der Liebe. Dies geht über eine vertrauliche Beziehung hinaus. Die Menschen, die er liebte, sind jetzt seine Gegner. Sie haben sich gegen ihn gewandt. Liebe wird mit Widerstand beantwortet (vgl. Ps 109,4). Das ist wirklich äußerst schmerzhaft.
Hiob ist so abgemagert, dass er nur noch „Haut und Knochen“ ist (Vers 20; vgl. Klgl 4,8). Seine Knochen bohren sich durch seine Haut und sein Fleisch. Teile seiner Haut und seines Fleisches sind abgefressen worden. Er ist nur noch ein Skelett. Das Einzige, was ihm bleibt, ist sein Zahnfleisch. Darauf kann er wenigstens noch etwas herumkauen.
21 - 24 Die flehentliche Bitte um Mitleid
21 Erbarmt euch meiner, erbarmt euch meiner, ihr meine Freunde, denn die Hand Gottes hat mich angetastet! 22 Warum verfolgt ihr mich wie Gott und werdet meines Fleisches nicht satt? 23 O dass doch meine Worte aufgeschrieben würden, dass sie in ein Buch gezeichnet würden, 24 mit eisernem Griffel und Blei in den Felsen eingehauen auf ewig!
Hiob ist am Tiefpunkt der Beschreibung seiner Situation angelangt. Er richtet einen herzzerreißenden Appell an diejenigen, die er ausdrücklich „meine Freunde“ nennt, sich seiner zu erbarmen (Vers 21; vgl. Hiob 6,14). Er braucht ihre Hilfe besonders jetzt, wo Gottes Hand ihn so hart getroffen hat (Hiob 1.2). Diese Hand lastet immer noch schwer auf ihm, ohne dass er einen Grund dafür erfährt. Er sehnt sich danach, dass sie ihm helfen, das Leid zu ertragen.
Für Hiob ist es jetzt noch so, dass sie ihn verfolgen und sich ihm gegenüber so verhalten, wie Gott sich ihm gegenüber verhält (Vers 22). Wann werden sie seines Fleisches satt sein? Wenn sie ihn sehen, muss ihnen doch klar werden, wie sehr er leidet. Ist das nicht Grund genug, ihn nicht länger mit ihren Anschuldigungen zu quälen, die sein Leiden noch vergrößern?
Hiob ist sich so sicher, dass er unschuldig leidet, dass er sich wünscht, seine Worte würden aufgeschrieben und aufgezeichnet (Vers 23). Dann können künftige Generationen seine Verteidigung lesen. Er ist überzeugt, dass sie zu dem Schluss kommen werden, dass seine Ankläger sich irren und er wirklich unschuldig ist.
Er will auch, dass sie nicht nur in einer Schriftrolle niedergeschrieben werden, sondern auch „mit einem eisernen Griffel und Blei auf ewig in einen Felsen eingehauen werden“ (Vers 24). Schließlich kann eine Schriftrolle verderben oder verloren gehen, aber was in einen Felsen gehauen und mit Blei gefüllt wird, ist sehr haltbar und bleibt lange lesbar. Auf diese Weise will er sein „Recht“, das Zeugnis über seine Unschuld und das ihm angetane Unrecht, über seinen Tod hinaus feststellen.
Was Hiob sich wünscht, ist eingetreten, und zwar auf weitaus überzeugendere Weise, als er vorschlägt. Seine Worte sind von Gott in seinem Wort, dem ewigen Wort, aufgezeichnet worden. Nur geschah es nicht so, wie er es beabsichtigt hatte, um seine Unschuld für immer festzustellen, sondern um uns zu lehren, wie Gott mit einem Menschen umgeht, dem Er sich offenbaren will.
Die Worte Hiobs entspringen dem Wunsch, seine Aufrichtigkeit zu verteidigen. Auf diese Weise hat er seine Worte schon früher verteidigt (Hiob 7,7–11; 10,1; 13,3.13.14). Sie sind auch eine direkte Antwort auf die harschen Worte Bildads, dass sein Andenken von der Erde verschwinden und sein Name aussterben wird (Hiob 18,17). Sowohl Hiob als auch Bildad kennen die Wahrheit der Worte der Weisheit: „Das Andenken an den Gerechten ist zum Segen, aber der Name der Gottlosen verwest“ (Spr 10,7). Hiob klammert sich an den ersten Teil, Bildad wendet den zweiten Teil auf Hiob an.
25 - 27 Der Triumph des Glaubens
25 Und ich, ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er auf der Erde stehen; 26 und ist nach meiner Haut dies da zerstört, so werde ich aus meinem Fleisch Gott anschauen, 27 den ich selbst mir anschauen und den meine Augen sehen werden, und kein anderer: Meine Nieren verschmachten in meinem Innern.
In diesen Versen sehen wir plötzlich einen weiteren Lichtstrahl von Hiobs Glauben. Statt in einem Felsen auf der Erde eingehauen zu sein, sucht Hiob nun weiter oben im lebendigen Felsen. Er spricht von einem Erlöser, den er ganz persönlich „mein Erlöser“ nennt (Vers 25). Sein Fels (Vers 24) ist sein Erlöser. Im Hebräischen wird das Wort „ich“ am Anfang des Verses betont. Es zeigt Hiobs feste Überzeugung: „Ich, ja ich, weiß.“
Das Wort „lebt“ bedeutet mehr als „am Leben sein“. Es bedeutet, dass der Erlöser sein Werk fortsetzen wird, um Hiobs Aufrichtigkeit festzustellen und ihn von den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen zu entlasten. Dies geht auch aus den Worten Hiobs in den letzten Versen dieses Kapitels hervor.
In zwei früheren Kapiteln (Hiob 9; 16), in denen Hiob seine tiefe Verbitterung gegenüber Gott zum Ausdruck bringt, hat er auch von der Person gesprochen, die er hier „Erlöser“ nennt. In Hiob 9 stellt er das Fehlen dieser Person fest: „Es gibt zwischen uns keinen Schiedsmann“ (Hiob 9,33), mit dem impliziten Seufzer: „Wenn es nur Einen geben würde.“ In Hiob 16 bringt er zum Ausdruck, dass es sich bei dieser Person um denjenigen handelt, der seine Sache kennt und für sie eintritt: „Sogar jetzt, siehe, im Himmel ist mein Zeuge, und der mir Zeugnis gibt, ist in den Höhen“ (Hiob 16,19). Hier in Hiob 19 wächst dies zu der Überzeugung, dass er ein lebendiger Erlöser ist, der ihm alles gibt, was ihm gehört: „Und ich, ich weiß, dass mein Erlöser lebt.“
Hiob hat hier mehr im Sinn als nur jemanden, der seine Aufrichtigkeit bezeugen wird. In Hiob 16 sieht er sich selbst als Opfer eines Mordes, wenn er ausruft: „Erde, bedecke nicht mein Blut!“ (Hiob 16,18). Er zählt auf seinen Erlöser, seinen „Go′el“, dass er für ihn Zeugnis ablegt, aber auch, dass er ihm zu seinem Recht verhilft. Er weiß, dass Gott dies nach seinem Tod tun wird. Dass Gott ihm schon auf der Erde Gerechtigkeit widerfahren lassen wird, weiß er noch nicht. Das macht seine Aussagen zu Glaubensaussagen.
Das hebräische Wort für „Erlöser“ oder „Löser“ ist go′el. Je nach Kontext wird dieses Wort auch mit „Bluträcher“ übersetzt. Das Wort ist in der alttestamentlichen Rechtsprechung von Bedeutung. Sie hat einen strafrechtlichen und einen zivilrechtlichen Aspekt. Als „Bluträcher“ hatte der Go′el die Aufgabe, das Blut eines getöteten Familienmitglieds zu rächen (4Mo 35,12–28). Er suchte nicht nach Rache, sondern nach Gerechtigkeit. Der Erlöser oder Löser, der Go′el, sorgt auch für die Wiederherstellung verlorener Rechte oder Besitztümer. Er hält das Recht aufrecht (3Mo 25,25–34).
Was den zivilrechtlichen Aspekt anbelangt, so war der Go′el dafür verantwortlich, das verlorene Erbe eines verstorbenen Verwandten „zurückzukaufen“ und damit zu erlösen. Dies konnte geschehen, indem man aus der Sklaverei freikaufte oder die Witwe heiratete, um für einen Erben zu sorgen. Als solcher war er der Verteidiger der Unterdrückten, so wie wir im Buch Ruth sehen (Rt 4,1–10; Spr 23,10.11). Beim Auszug und in der Verbannung ist Gott der Go′el seines unterdrückten Volkes (2Mo 6,6; Jes 43,1). Als der Go′el befreit der HERR Personen vom Tod (Ps 103,4).
Weil sein Erlöser lebt, weiß Hiob auch, dass dieser Erlöser „als der Letzte ... auf der Erde [wörtlich: dem Staub] stehen“ wird. Das heißt, er wird seine Herrschaft über alle materiellen Dinge ausüben, inklusive des Menschen, der Staub ist. „Stehen“ meint, bereitzustehen, um in Aktion zu treten. Der Erlöser wird sich erheben und auf die Erde kommen, um alles wiederherzustellen und überall für Gerechtigkeit zu sorgen.
Hiob rechnet damit, dass er sterben wird und dass von seinem Leichnam im Grab nichts übrig bleiben wird (Vers 26). Zum Zeitpunkt seines Todes wird er seiner Haut beraubt worden sein. Auch wenn er keine Haut mehr hat, wird er Gott aus seinem Fleisch heraus sehen. Hier zeigt sich Hiobs Glaube an die Auferstehung. Er drückt hier als seine Überzeugung die Wahrheit einer buchstäblichen, leiblichen Auferstehung aus. Mit seiner Aussage über die Auferstehung pflanzt Hiob „die Fahne des Sieges auf sein eigenes Grab“. David hat auch von der Auferstehung gesprochen (Apg 2,31). Die Gläubigen des Alten Testaments wissen, dass es eine Auferstehung gibt (Ps 17,15; Jes 38,11–19).
Außer dem Glauben an die Auferstehung glaubt er auch, dass er dann Gott anschauen wird. Er wird nicht aus der Ferne hören, wie Gott seine Entscheidung zu seinen Gunsten verkündet, sondern er wird Gott von Angesicht zu Angesicht in einem verherrlichten Körper gegenüberstehen. Er wird Gott im Antlitz Jesu Christi sehen, der das Ebenbild Gottes ist. Die Krankheit und das Grab werden seinen Körper verzehren, aber das ist nicht das Ende seiner Existenz. Er sagt gewissermaßen, was David später sagt: „Ich aber werde dein Angesicht schauen in Gerechtigkeit, werde gesättigt werden, wenn ich erwache, mit deinem Bild“ (Ps 17,15).
Er selbst wird Gott mit seinen eigenen Augen anschauen (Vers 27). Es ist dieser Gott, den er jetzt noch als jemanden erlebt, der gegen ihn ist. Zugleich weiß er von diesem Gott, dass Er sein Gott ist. Es gibt keinen anderen Gott. Gott ist der Gott, auf den er immer vertraut hat, auch wenn er an seinem Umgang mit Ihm verzweifelt ist. Er kennt Gott und Gott kennt ihn. Hiob wird nicht ein anderer Mensch sein, ein Fremder, jemand, den man auf Distanz hält, weil er keine Beziehung zu Gott hat. Und Gott ist auch kein anderer als der Gott, dem er auf der Erde gedient hat.
Er sehnt sich nicht nach der Wiederherstellung seiner Gesundheit, nach der Befreiung von all seinen Sorgen, nach der Rückkehr zu seinem früheren Wohlstand und Wohlergehen, zu all dem, was Gott ihm jemals gegeben hat. Er weiß, dass dies unerreichbar ist, er glaubt nicht daran. Er sehnt sich nach etwas, das größer ist als aller irdische Wohlstand, und das ist Gott selbst. Diese Sehnsucht ist so groß, dass sie seine Nieren verschmachten lässt. Es verweist auf die intensive und totale Sehnsucht von allem, was in ihm ist. Am Ende des Buches ist diese Sehnsucht in gewissem Sinn bereits erfüllt, denn er erhält, um was er nicht gebeten hat.
28 - 29 Eine ernste Warnung
28 Wenn ihr sagt: Wie wollen wir ihn verfolgen? – und dass die Wurzel der Sache sich in mir befinde, 29 so fürchtet euch vor dem Schwert! Denn das Schwert ist der Grimm über die Ungerechtigkeiten; damit ihr wisst, dass es ein Gericht gibt.
Hiob leugnet, dass er gesündigt hat, aber er leugnet nicht, dass Gott über Sünden richtet. Ihr sagt, sagt Hiob, dass die Wurzel dessen, was mir widerfahren ist, in mir selbst liegt. „Passt auf“, fährt er fort, „wenn ihr mich weiterhin verurteilt und davon ausgeht, dass ich für mein eigenes Leid verantwortlich bin. Wenn ihr so weitermacht, wird das Schwert der Gerechtigkeit kommen und wird offenbaren, dass ihr selbst schuldig geworden seid“ (Vers 29).
Deshalb müssen sie auch selbst das Schwert der Gerechtigkeit Gottes fürchten. Sie sprachen mit ihm im Zorn und nicht in Barmherzigkeit. Die schweren Anschuldigungen, die sie Hiob an den Kopf geworfen haben, waren kein Freundschaftsdienst, sondern ein Verbrechen. Dafür werden sie sich vor Gott verantworten müssen.