1 - 5 Die Freunde sind falsche Zeugen für Gott
1 Siehe, das alles hat mein Auge gesehen, mein Ohr gehört und sich gemerkt. 2 So viel ihr wisst, weiß auch ich; ich stehe nicht hinter euch zurück. 3 Doch zu dem Allmächtigen will ich reden, und vor Gott begehre ich mich zu rechtfertigen; 4 ihr hingegen seid Lügenschmiede, nichtige Ärzte ihr alle! 5 O dass ihr doch still schwieget! Das würde euch zur Weisheit gereichen.
Hiobs Antwort an Zophar geht hier weiter. In den Versen 1 und 2 antwortet Hiob seinen Freunden. Sein Auge sieht wie das von Eliphas (Hiob 4,8), sein Ohr hört wie das von Bildad (Hiob 8,8), er weiß oder hat ein Herz wie Zophar (Hiob 12,3). Er macht deutlich, dass er ihnen in der Kenntnis Gottes nicht nachsteht (Hiob 12,14–25). Und sicherlich wird er ihnen nicht nachgeben, d. h. sich von ihnen von der Richtigkeit ihrer Einschätzung überzeugen lassen. Die Freunde haben von den Dingen gesprochen, die sie beobachtet haben und die von weisen Menschen beobachtet worden sind. Nun, so kann Hiob auch sprechen. Seine Weisheit und seine Beobachtungen sind ebenso gut wie die ihrigen.
Daraus können wir eine Lektion ziehen. Wenn wir in geistlichen Dingen Menschen aufgrund von Weisheit, Erfahrung und Beobachtung überzeugen wollen, haben sie das Recht, mit ihrer eigenen Weisheit, Erfahrung und Beobachtung zu antworten. Selbst wenn wir die Wahrheit lehren, könnten sie sie ablehnen, wenn wir den Eindruck erwecken, dass wir ein bisschen schlauer sind als sie selbst. Aber wenn wir Gottes Wort zitieren, steht das Gewicht des göttlichen Beweises hinter unseren Worten. Die Menschen können sie immer noch ablehnen, aber wenn sie das tun, verwerfen sie Gott, nicht uns.
Aus Hiobs Erwiderung können wir ersehen, dass seine Freunde das sagen, was er auch gesagt hätte, bevor er sich in diesem Elend befand. Er sah sein Leben in Wohlstand als eine Belohnung Gottes für seine Treue, denn auch für ihn galt, dass Gott Treue belohnt und Böses bestraft. Nun, da das Böse über ihn gekommen ist, bricht diese Sichtweise von Gott zusammen. Die Freunde halten an ihrer Theologie fest, ohne eine Beziehung zu Gott zu haben. Hiob hat seine „Theologie“ verloren und ringt in seiner Beziehung zu Gott mit der Frage, warum Gott so mit ihm umgeht. Wie sollte er denn Gott sehen?
Deshalb wendet sich Hiob an Gott, von dem Er als „dem Allmächtigen“ spricht (Vers 3). Seine Freunde haben ihm Sünden unterstellt. Von ihnen braucht er kein Verständnis zu erwarten. Sie tun ihm mit ihren unbegründeten Anschuldigungen großes Unrecht. Sie kennen weder seine Gefühle noch seine Motive und dennoch urteilen sie hart über ihn und behandeln ihn wie einen Heuchler. Das liegt an ihrer begrenzten Sichtweise von Gott. Sie tun auch Gott Unrecht, wenn sie Ihn Hiob gegenüber auf diese Weise darstellen.
Hiob bleibt nichts anderes übrig, als sich an den Allmächtigen zu wenden und Ihm seinen Fall darzulegen, wie er es in Hiob 9 und 10 getan hat. In Hiob 9 sieht er keinen Nutzen darin, mit Gott vor Gericht zu gehen, weil er dabei immer verliert. Aber jetzt will er doch einen Prozess, weil er immer noch ein gerechtes Urteil von Gott erwartet.
Die Freunde sind Werkzeuge in Gottes Hand, um Hiob zu unterweisen und ihn zu sich zu ziehen. Gott will alles, was uns widerfährt, dazu benutzen, dass wir zu Ihm gehen. Dazu nutzt Er auch das Unverständnis, das wir bei den Menschen antreffen. Nicht, dass Hiob bereits dort ist, wo Gott ihn haben will. Was wir hier von Hiob hören, ist sein tiefes Verlangen nach Kontakt mit Gott. Gott wird Hiob auf besondere Weise antworten, wenn Er sein Werk an ihm vollendet hat. Im Moment ist Hiob noch zu sehr davon überzeugt, dass er im Recht ist.
Hiob beschuldigt seine Freunde unverblümt, falsche Zeugen für Gott zu sein (Vers 4). Was sind das für tolle Helfer, die einen Fall wie den seinen so behandeln? Das bedeutet nicht, dass sie absichtlich lügen, aber sie sagen nicht die Wahrheit und nehmen keine Rücksicht auf Hiobs Kampf. Was sie als „theologische Wahrheit“ bezeichnen, ist keine Wahrheit, weil sie zur falschen Zeit auf die falsche Person angewendet wird.
Sie sind allesamt „nichtige Ärzte“. Sie sind Quacksalber. Der Grund dafür ist, dass sie falsch denken und gleichzeitig denken, dass sie alle Weisheit besitzen, während sie die Mühen von Hiob wegdiskutieren. Sie sagen, dass Hiob gesündigt hat und dass er wieder gesund werden wird, wenn er seine Sünden bekennt. Hiob sagt, dass er nicht gesündigt hat und dass sie deshalb als Ärzte wertlos sind. Sie machen ihn nicht gesund, sondern im Gegenteil noch kränker. Was sie sagen, lindert sein Leid in keiner Weise. Im Gegenteil, es verschlimmert sein Leiden.
Er hätte es vorgezogen, dass sie schweigen (Vers 5). Das haben sie auch in den ersten sieben Tagen getan, als sie schweigend bei ihm saßen. Hätten sie nur nie ihr Schweigen gebrochen, denn aus ihrem Mund kam nichts, was ihm Trost gebracht hätte. Das hat ihn nur noch tiefer ins Elend gestürzt. Wenn sie diese Haltung wieder einnehmen würden, wäre das ein Zeichen ihrer Weisheit. „Auch ein Narr, der schweigt, wird für weise gehalten, für verständig, wer seine Lippen verschließt“ (Spr 17,28).
6 - 12 Die Freunde sind nicht unparteiisch
6 Hört doch meine Rechtfertigung, und horcht auf die Beweisgründe meiner Lippen! 7 Wollt ihr für Gott Unrecht reden und für ihn Trug reden? 8 Wollt ihr für ihn Partei ergreifen, oder wollt ihr für Gott rechten? 9 Ist es gut [für euch], dass er euch erforscht, oder werdet ihr ihn täuschen, wie man einen Menschen täuscht? 10 Strafen wird er euch, wenn ihr im Geheimen die Person anseht. 11 Wird nicht seine Hoheit euch bestürzen und sein Schrecken auf euch fallen? 12 Eure Denksprüche sind Sprüche von Asche, eure Schutzwehren erweisen sich als Schutzwehren von Lehm.
Hiob fordert seine Freunde auf, nicht mehr zu reden und sich einmal seine Verteidigung anzuhören (Vers 6). Er bittet sie, seiner Verteidigung aufrichtige Aufmerksamkeit zu schenken. Er leidet sehr, hat aber nicht den Verstand verloren. Er weiß, was er sagt, und kann sich mit vernünftigen Argumenten gegen ihre Anschuldigungen verteidigen. Jemandem zuzuhören erfordert ein hohes Maß an Selbstverleugnung, wenn man glaubt, die Antwort schon zu kennen. Wirklich zuzuhören und zu versuchen, die andere Person zu verstehen, ist eine Aufgabe und ein Auftrag. Sie verhindert ein vorschnelles Urteil und gibt dem anderen das Gefühl der Akzeptanz. Hiob fühlt sich von seinen Freunden abgelehnt und nicht ernst genommen.
Hiob warnt sie vor der Ungerechtigkeit ihres Handelns (Vers 7). Sie tun so, als ob sie das Recht hätten, für Gott zu sprechen. In Wirklichkeit sprechen sie ungerecht von Gott. Sie stellen ihn als jemanden dar, der nur schlechte Menschen bestraft. Hiob wird bestraft, also hält Gott Hiob für einen schlechten Menschen. Sie sprechen auch betrügerisch vor Gott, indem sie Hiob in seinem Licht als Heuchler, als hinterhältigen Sünder behandeln. Das ist Hiob nicht.
Er sieht seine Freunde als „Komplizen Gottes“, weil sie sich auf die Seite Gottes stellen (Vers 8). Gott ist gegen ihn, und seine Freunde sind es auch. Gott straft ihn zu schwer, denkt er. Das Elend, in das Gott ihn stürzt, stehe nicht im Verhältnis zu seinen Verfehlungen, meint er. Seine Freunde, so erfährt er, stellen sich auf die Seite Gottes und sind taub für seine Verteidigung. Sie gehen davon aus, dass er im Unrecht ist und dass Gott ihn völlig zu Recht straft. Ihrer Ansicht nach lässt Gott zu, dass der Mensch genau nach dem Maß leidet, das er verdient hat. Was auch immer Hiob dagegen vorbringt, es ist so, wie sie es sehen. Der Schmerz, den sie zu Hiobs Leiden hinzufügen, ist der Beweis dafür, dass sie Gott nicht auf die richtige Weise „verteidigen“.
Gott wartet, in aller Ehrfurcht gesagt, nicht darauf, dass jemand für Ihn Partei ergreift und seinen Rechtsstreit führt. Gott verbietet die Parteilichkeit in seinem Wort (5Mo 10,17). Zur Führung seiner Rechtssache braucht und will Er keine Hilfe. Wer meint, Gott helfen zu müssen, muss eine hohe Meinung von sich selbst haben. Ihn zu bezeugen ist etwas ganz anderes, als Ihn „vorzuladen“ um unser Recht zu kriegen.
Auf diese Weise sprechen die Freunde mit Hiob über Gott. Sie denken, sie wüssten genau, wie Gott Hiob sieht. Wenn er ihnen nur zustimmen würde, denken sie, könnte Gott ihn wieder segnen. Was sie nicht wissen, ist, dass sie Hiob Gott auf eine völlig falsche Weise präsentieren. Gottes Urteil über ihr Reden lautet daher, dass sie nicht geziemend über Ihn gesprochen haben (Hiob 42,8).
Wie wichtig ist es doch, dass wir in der richtigen Weise über Gott sprechen! Unsere Gotteserkenntnis muss sich nicht darin beweisen, dass wir theologisch korrekte Aussagen machen, sondern dass wir aus einer lebendigen Beziehung zu Ihm leben. Wir dürfen und müssen Ihn in alle Dinge des Lebens einbeziehen. Dies kann nur auf gesunde und ausgewogene Weise geschehen, wenn wir die Heilige Schrift als Maßstab nehmen und nicht unsere eigene Meinung. Wir werden dann auch in der Lage sein, uns korrigieren zu lassen, wenn wir etwas missverstanden haben. Die Erkenntnis, dass Gott wirklich Gott ist, wird uns davor bewahren, uns aus theologischem Wissen ein Bild von Gott zu machen und Gott in diesem Bild zu präsentieren. Dies wird uns helfen, in der richtigen Weise über Gott zu sprechen.
Hiob weist seine Freunde darauf hin, dass Gott nicht nur ihn, sondern auch sie kennt (Vers 9). Er weist sie auf ihre eigenen Versäumnisse hin, wofür sie offenbar keinen Blick haben. Sie meinen doch nicht etwa, dass Gott, wenn Er sie prüft, nichts bei ihnen finden wird, was zu verurteilen wäre? Sie können Ihn nicht täuschen, wie sie die Menschen, ihre sterblichen Artgenossen, täuschen. Vor den Menschen können wir unsere Gedanken und Beweggründe verbergen, aber nicht vor Gott. Die Freunde sind zu Hiob gekommen, um ihn in das Licht Gottes zu stellen. Dabei haben sie vergessen, dass sie selbst dann auch in dieses Licht kommen. Sie walzen breit aus, was bei Hiob fehlt, aber ignorieren, dass sie „auf sich selbst schauen“ sollen (Gal 6,1).
Nach Hiobs Worten müssen die Freunde damit rechnen, dass Gott sie dafür bestraft, dass sie heimlich Partei ergreifen (Vers 10). Sie sagen es nicht mit so vielen Worten, aber ihre Worte zeigen, dass sie Partei für Gott ergreifen. Es ist immer falsch, Partei zu ergreifen, ganz gleich, um welche Seite es sich handelt. Partei zu ergreifen, geschieht immer aus Eigeninteresse. Gott ist keine Partei, der man den Vorzug geben kann. Wer für Ihn Partei ergreift in dem Glauben, dass es ihm in irgendeiner Weise nützt, kann nicht mit seiner Zustimmung rechnen, wohl aber mit seiner Strafe (vgl. Hiob 42,7). Gott sieht es auch, wenn es im Geheimen oder mit verborgenen Absichten geschieht. Er handelt immer ohne Ansehen der Person.
Hiob konfrontiert seine Freunde mit der „Hoheit“ oder Erhabenheit Gottes (Vers 11). Gott steht über aller Parteilichkeit, über alles und jeden. Wenn die Freunde mal so über Gott denken, jagt ihnen das nicht Angst ein und lässt sie das Ihn nicht fürchten? Dieser Gedanke an Ihn muss sie davor zurückschrecken lassen, unwahre Dinge über Ihn zu sagen.
Das ist übrigens etwas, was jeder Prediger des Wortes Gottes beachten soll. Es ist eine große Verantwortung, Gottes Gedanken weiterzugeben. Wer etwas mündlich oder schriftlich, wie in diesem Kommentar, als Gottes Gedanken oder Absichten weitergibt, soll beten, dass er davor bewahrt wird, seine eigene Interpretation davon zu geben. Wir können es auch nicht gutheißen, wenn jemand unsere Worte missbraucht, falsch zitiert oder falsch interpretiert. Wenn es um Gottes Worte geht, gehen wir manchmal „flexibel“ mit ihnen um. Das sollte nicht der Fall sein. Es kann sein, dass wir etwas nicht verstehen (vgl. 2Pet 3,16). Lasst es uns dann auch ehrlich sagen.
Die Freunde haben ihre Meinung gegeben. Sie haben damit nichts Neues gesagt. Für Hiob sind sie eine Erinnerung an das, was er bereits wusste (Vers 12). Das spricht ihn alles überhaupt nicht an. Alle ihre Sprüche sind Worte, die so viel Grundlage oder Nutzen haben wie „Asche“, d. h. überhaupt keinen. Solche Worte haben keine Auswirkung, sie bewirken nichts. Ihre Widerlegung dessen, was er selbst gesagt hat, ist ebenfalls bedeutungslos. Es ist so leicht umstürzen wie etwas, das aus „Lehm“ gemacht ist. Es hält nicht stand, wenn man darauf schlägt, sondern zerspringt.
13 - 19 Hiob wird seine Sache bei Gott vorbringen
13 Schweigt, lasst mich, und ich will reden, was auch über mich ergehen möge. 14 Warum sollte ich mein Fleisch zwischen meine Zähne nehmen und mein Leben in meine Hand legen? 15 Siehe, tötet er mich – ich werde auf ihn warten; nur will ich meine Wege ihm ins Angesicht rechtfertigen. 16 Auch das wird mir zur Rettung sein, dass ein Ruchloser nicht vor sein Angesicht kommen darf. 17 Hört, hört meine Rede, und meine Erklärung [dringe] in eure Ohren! 18 Sieh doch, ich habe die Rechtssache gerüstet! Ich weiß, dass ich Recht behalten werde. 19 Wer ist es, der mit mir rechten könnte? Denn dann wollte ich schweigen und verscheiden.
Wenn die Freunde den Mund halten, wird er reden (Vers 13). Er wird sich nicht zurückhalten. Er wird vor Gott ausschütten, was ihn bedrückt. Er kümmert sich nicht um die Konsequenzen. Es komme, was da wolle. Wenn er sagt, „Warum sollte ich mein Fleisch zwischen meine Zähne nehmen“ (Vers 14), will er damit sagen, dass er ein Risiko eingeht, denn das kann man nicht lange durchhalten. „Mein Leben in meine Hand legen“, heißt, er riskiert sein Leben (vgl. Ri 12,3; 1Sam 19,5; 28,21), um sein Recht bei Gott zu bekommen. Er wird reden, auch wenn die Gefahr groß ist, dass er wegen seiner eigenen Worte verschlungen wird und umkommt.
In Vers 15 bringt Hiob ein großartiges Paradoxon zum Ausdruck, einen scheinbaren Widerspruch, der nur durch den Glauben verstanden werden kann. Gott zerschmettert sein Leben, doch er hält daran fest, dass Gott gut ist. Er strahlt Hoffnung und Gottvertrauen aus. Er versteht nicht, warum er so leiden muss. Gott soll es ihm sagen, auch wenn das bedeutet, dass Gott ihn töten muss. Aber sein Tod ändert nichts an seiner Hoffnung auf Gott. Er wird sich vor Gott verteidigen. Er empfindet Gott als seinen Ankläger, aber auch als seinen Anwalt, als jemanden, der für ihn eintritt. Hiob erwartet seine Rettung von Ihm (Vers 16). Er wagt es, in die Gegenwart Gottes zu kommen, etwas, das für einen Heuchler nicht möglich ist. Hiob ist ja auch kein Heuchler, wie seine Freunde, unter der Hand, von ihm behaupten.
In Vers 17 fordert er seine Freunde erneut auf, ihm zuzuhören (Verse 6.13). Er hat seinen Fall klar dargelegt. Sie sollen sich das von ihm Gesagte mal zu Herzen nehmen. Hiob sieht sich in einem Gerichtssaal, wo er als Angeklagter seinen Fall dargelegt hat (Vers 18). Am Ergebnis hat er keinen Zweifel: Er ist „gerecht“, d. h. er sieht sich von allen Vorwürfen freigesprochen. Es gibt keinen Beweis dafür, dass er gesündigt hat. Alles, was die Freunde gesagt haben und was sie ihm vorgeworfen haben, gründet sich auf bloße Unterstellungen. Seine Verteidigung ist nach seiner eigenen Meinung überzeugend.
Die Frage Hiobs, ob es noch jemanden gibt, der es wagt, mit ihm vor Gericht zu treten, klingt fast trotzig (Vers 19). Sollen sie doch kommen, die Ankläger. Er ist sich sicher, dass gegen seine Verteidigung nichts einzuwenden ist. Er hat keinerlei Angst, dass Gott seinen Anklägern Recht geben könnte, so sicher ist er sich eines guten Ausgangs. Er musste sprechen, er konnte sich nicht zurückhalten. Hätte er geschwiegen, hätte dies seinen Tod bedeutet. Er konnte nicht weiterleben, ohne auf so viele ungerechtfertigte Anschuldigungen zu reagieren. Seine Verteidigung machte ihm sein Leben lebenswert.
20 - 23 Hiob bittet Gott, seine Einstellung zu ändern
20 Nur zweierlei tu mir nicht; dann werde ich mich nicht vor deinem Angesicht verbergen. 21 Deine Hand entferne von mir, und dein Schrecken ängstige mich nicht. 22 So rufe denn, und ich will antworten, oder ich will reden, und erwidere mir! 23 Wie viele Ungerechtigkeiten und Sünden habe ich? Lass mich meine Übertretung und meine Sünde wissen!
Hiob wendet sich nun mit einer Frage an Gott. Alles, was er will, ist, dass Gott ihm zwei Dinge nicht tut (Vers 20). Wenn Gott das tut, wird Hiob nicht mehr aus einer Haltung der Angst heraus mit Gott umgehen. Er wird kein Hindernis mehr spüren, zu Gott zu gehen, und kann dann auf gleicher Augenhöhe mit Ihm sprechen. Dann wird er nicht mehr von der Größe und Majestät Gottes überwältigt werden. Er möchte frei sein, um seine Sache vor Gott zu vertreten, ohne die Hindernisse, die eine schwerwiegende und schmerzhafte Krankheit mit sich bringt. Er fühlt sich nun durch Krankheit geschwächt und nicht mehr in der Lage, sich so für seine Sache einzusetzen, wie er es in den Tagen seines Wohlstandes konnte.
Hiob bittet um zwei Dinge (Vers 21). Erstens, dass Gott seine schwer auf ihm lastende Hand von ihm wegnehmen würde, und zweitens, dass der Schrecken Gottes ihn nicht mehr ängstigen würde. Hiob empfindet das Elend und das Leid als die drückende Hand Gottes – nicht des Satans. Wenn Gott nur diese Hand entfernen würde, könnte er aufatmen und sich darauf vorbereiten, als würdige Partei zu Gott zu sprechen.
Hiob möchte auch frei sein von dem, was von Gott für ihn an Schrecken ausgeht. Er sieht Gott als seinen unnahbaren Widersacher, der ihn bei der kleinsten Verfehlung wieder ins Unglück stürzen wird. Wenn Gott dies nicht ändert, wird er nicht in der Lage sein, seinen Fall in aller Ruhe vor Ihm vorzutragen. Dann bleibt die Angst, dass er gegen Gott, der so viel größer und höher ist als er, immer verlieren wird, stets im Hintergrund. Später geht Elihu in seiner Rede ausführlich auf diese Argumente ein (Hiob 33,7).
In Vers 22 fordert er Gott eindringlich auf, ihn zur Rechenschaft zu ziehen, damit er antworten kann. Er sieht jetzt Gott nicht als Richter, sondern als eine Partei in dem Rechtsstreit. Wenn Gott seiner Forderung nicht nachkommt, dann soll Er ihm die Möglichkeit geben, zu sprechen, und Gott soll ihm antworten. In Hiobs Vorstellung ist es ein Rechtsstreit.
Gott macht da nicht mit. Deshalb nimmt Hiob seine Klage in Vers 24 wieder auf. Er weiß es hier noch nicht, aber Gott wird ganz sicher eines Tages zu ihm sprechen. Dann wird Hiob nichts mehr zu antworten wissen (Hiob 40,1–5). Gott spricht, aber zu seiner Zeit und nicht zu der von Hiob bestimmten Zeit.
In Vers 23 eröffnet Hiob den Rechtsstreit. Er fordert Gott auf, seine Ungerechtigkeiten und Sünden aufzulisten. Damit verlangt Hiob von Gott, dass Er für das große Unglück, das Er über ihn gebracht hat, Rechenschaft ablegt. Wenn diese Katastrophen wirklich das Ergebnis seiner Ungerechtigkeiten und Sünden sind – wie die Freunde behaupten – dann soll Gott eine ganze Liste aufzählen können. Er möge es doch bitte aufdecken. Was Hiob hier sagt, ist nicht die Frage eines Gewissens, das überzeugt werden und zur Buße kommen will. Hiob fordert Gott mit der Einstellung heraus, dass man ihm nichts vorwerfen kann.
24 - 28 Hiob nimmt seine Klage wieder auf
24 Warum verbirgst du dein Angesicht und hältst mich für deinen Feind? 25 Willst du ein verwehtes Blatt wegschrecken und die dürre Stoppel verfolgen? 26 Denn Bitteres verhängst du über mich und lässt mich erben die Ungerechtigkeiten meiner Jugend; 27 und meine Füße legst du in den Stock und beobachtest alle meine Pfade, grenzest dir ein die Sohlen meiner Füße; 28 da ich doch zerfalle wie Moder, wie ein Kleid, das die Motte zerfressen hat.
Da Gott auf seine Fragen in den vorangegangenen Versen keine Antwort gibt, nimmt Hiob seine Klage wieder auf. Es gibt keine Antwort, denn er ist noch nicht bereit, sich seiner eigenen Gerechtigkeit zu entledigen. Er sieht Gott als einen, der ihn nicht anschaut, sondern sein Antlitz vor ihm im Zorn verbirgt (Ps 104,29) und sich ihm gegenüber als unnahbarer Gott aufstellt (Vers 24). Hiob erlebt Gott als seinen Widersacher. Gott hat ihn mit Elend überladen, obwohl er Ihm immer so treu gedient hat.
Warum verfolgt Gott eigentlich einen „Niemand“ wie ihn? Er fühlt sich Gottes Willkür völlig ausgeliefert, so wie ein totes Blatt dem Wind nichts entgegenzusetzen hat und wie trockene Stoppeln vom Wind in alle Richtungen geweht werden (Vers 25). Warum beschäftigt er sich mit jemandem, der nicht mehr ist als ein totes Blatt?
Hiob mag dies negativ erleben, aber wir können darin Gottes Fürsorge für Hiob erkennen. Hiob ist für Gott kein „Niemand“, sondern ein „Jemand“, dem sein ganzes Interesse gilt. In seinem Umgang mit Hiob zeigt sich seine Fürsorge für ihn.
Die Fürsorge Gottes entgeht Hiob noch immer völlig. Gott ist für ihn jemand, der gegen ihn wütet und bittere Dinge gegen ihn verhängt (Vers 26). Es scheint, als ob Gott einen Haftbefehl gegen einen Schurken ausgestellt hat, der alle möglichen Sünden begangen hat. Das ist wirklich sehr bitter. Seine Schuld steht von vornherein fest. Nach Hiob muss es sich um Jugendsünden handeln (vgl. Ps 25,7), denn er ist sich in letzter Zeit keiner Sünden bewusst. Versucht Gott nicht immer noch, alte Geschichten wieder aufzuwärmen, indem Er ihm Sünden zur Last legt, die längst vergessen sind?
Er fühlt sich wie ein Gefangener Gottes, der seine Füße in den Stock legt, sodass er in seinen Bewegungen behindert wird (Vers 27; Jer 20,2). Außerdem hat Gott ein wachsames Auge auf ihn und beobachtet alle seine Wege, damit er nicht versucht zu entkommen. Gott hat auch ein Zeichen in seine Fußsohlen gezeichnet. Sollte er entkommen, würde seine Fußspur leicht erkannt und er könnte leicht wieder gefasst werden. Hiob beschreibt, wie Gott es ihm unmöglich macht, auch nur zu versuchen, seinem Elend zu entkommen. Er steckt bis über den Kopf im Leid und ist dazu gezwungen, darin zu bleiben.
Wie ist es möglich, dass Gott jemandem wie ihm so etwas antut, fragt sich Hiob verzweifelt. Gott sieht doch sicher, dass sein von Krankheiten geplagter Körper altert und verfault (Vers 28)? Sein Leib, der mit Maden bedeckt ist (Hiob 7,5; 21,26), ist wie ein Kleid, das die Motten fressen (vgl. Jes 50,9b). Motten verrichten ihr zerstörerisches Werk langsam, aber auch gründlich (vgl. Hes 5,12). So zerfällt der Körper von Hiob langsam und stirbt Stück für Stück ab. Welchen Sinn hat es, dass Gott noch mehr Elend darüber kommen lässt?