Einleitung
Trotz seiner Rede über die Sinnlosigkeit, gegen Gott zu argumentieren, wird Hiob durch sein schreckliches Leiden gezwungen, seine Klage fortzusetzen. Die Sprache, die Hiob in diesem Abschnitt gegen Gott verwendet, ist nicht das Ergebnis seines körperlichen Leidens, sondern des Kampfes seines Glaubens an die Güte Gottes. Er kann nicht anders, als in all dem Leid, das ihm widerfährt, die Hand Gottes zu sehen.
Zugleich kann er nicht verstehen, warum Gott ihm dieses Leid zufügt. Das führt dazu, dass er Aussagen oder besser gesagt Ausrufe über Gott macht, die nicht wahr sind. Gott zieht ihn dafür nicht zur Rechenschaft. Seine Freunde schon. Aber auch sie sprechen nicht von Gott, wie Er ist. Hiobs innerer Konflikt mit seiner Situation wird also immer größer. Die Bitterkeit davon schmecken wir in den folgenden Versen.
1 - 17 Hiobs weitere Klagen gegen Gott
1 Meine Seele verachtet mein Leben; ich will meiner Klage in mir freien Lauf lassen, will reden in der Bitterkeit meiner Seele. 2 Ich will zu Gott sagen: Verdamme mich nicht! Lass mich wissen, worüber du mit mir rechtest. 3 Hältst du es für gut, dass du bedrückst, dass du die Arbeit deiner Hände verwirfst und über den Rat der Gottlosen [dein Licht] leuchten lässt? 4 Hast du Augen des Fleisches, oder siehst du, wie ein Mensch sieht? 5 Sind deine Tage wie die Tage eines Menschen, oder deine Jahre wie die Tage eines Mannes, 6 dass du nach meiner Ungerechtigkeit suchst und nach meiner Sünde forschst, 7 obwohl du weißt, dass ich nicht schuldig bin und dass niemand [da] ist, der aus deiner Hand errettet? 8 Deine Hände haben mich ganz gebildet und gestaltet um und um, und du verschlingst mich! 9 Gedenke doch, dass du mich wie Ton gestaltet hast – und zum Staub willst du mich zurückkehren lassen! 10 Hast du mich nicht hingegossen wie Milch, und wie Käse mich gerinnen lassen? 11 Mit Haut und Fleisch hast du mich bekleidet und mit Knochen und Sehnen mich durchflochten. 12 Leben und Huld hast du mir gewährt, und deine Obhut bewahrte meinen Geist. 13 Doch solches bargst du in deinem Herzen; ich weiß, dass du dies im Sinn hattest: 14 Wenn ich sündigte, so würdest du mich beobachten und mich von meiner Ungerechtigkeit nicht freisprechen. 15 Wenn ich schuldig wäre, wehe mir! Und wäre ich gerecht, so dürfte ich mein Haupt nicht erheben, gesättigt von Schande und mein Elend schauend. 16 Und richtete es sich empor, wie ein Löwe würdest du mich jagen und immer wieder deine Wunderkraft an mir erweisen. 17 Du würdest deine Zeugen mir gegenüber erneuern und deinen Zorn gegen mich mehren, stets frische Scharen und ein Heer gegen mich [aufbieten].
Hiob setzt seine Antwort an Bildad fort. Er verachtet sein Leben (Vers 1). Die Last ist unerträglich groß. Er kann sich nicht zurückhalten, er muss sich äußern. Er lässt seiner Klage freien Lauf und spricht aus der Bitterkeit seiner Seele. Die Äußerung einer Klage ist ein Mittel, um auf die Situation aufmerksam zu machen, in der sich jemand befindet. Es gibt auch Menschen, die sich ständig beschweren, weil sie mit ihrer Situation unzufrieden sind. Sie finden, dass sie es im Vergleich mit anderen schlecht getroffen haben. Diese „mit ihrem Los Unzufriedenen“ (Jud 1,16) beklagen sich, weil sie sich ungerecht behandelt fühlen und weil ihre Wünsche nicht erfüllt werden. So eine Art von Jammerlappen ist Hiob nicht. Er hat wirklich etwas zu beklagen.
Seine Klage richtet sich gegen Gott (Vers 2). Gott muss ihn für „nicht schuldig“ erklären oder ihn wissen lassen, warum Er ihm das antut. Hiob ist noch nicht bereit, sich mit seinem Schicksal abzufinden, geschweige denn, sich mit seinem Schicksal Gott hinzugeben. Vielmehr stellt er Gott zur Rede. Wenn Gott ihn dann nicht wissen lässt, warum Er ihn angreift, wird er Gott eben seine Fragen stellen.
Es ist natürlich unangebracht, Gott zur Rechenschaft zu ziehen. Der Unglaube tut dies in großer Anmaßung, weil er nichts von einem souveränen Gott wissen will. Paulus sagt zu solchen Leuten: „Wer bist du denn, o Mensch, der du das Wort nimmst gegen Gott?“ (Röm 9,20). So ein Mensch ist Hiob nicht. Er ringt mit Gott und schleudert aus größter Verzweiflung seine Fragen zum Himmel. Gott macht ihm keine Vorwürfe, weil Er ihm gegenüber den Mund aufgemacht hat. Er kennt Hiob und lässt ihn wüten, bis Hiob ihm Auge in Auge gegenübertritt (Hiob 42,5.6).
Hiob lässt Gott nicht und nirgends los. Es sind gerade seine großen Schwierigkeiten mit Gottes Handeln, die ihn zu Gott treiben. In seinem Bemühen, Gott zu verstehen, wirft er Gott eine Reihe von Fragen entgegen. Er will von Ihm wissen, ob Er einen Nutzen davon hat, ihn zu quälen (Vers 3). Was hat Er davon, wenn Er seine Macht dazu nutzt, ihn zu bedrängen? Der Glaube antwortet: „Denn nicht von Herzen plagt und betrübt er die Menschenkinder“ (Klgl 3,33). An diesem Punkt ist Hiob noch nicht angelangt.
Er weiß, dass Gottes Hände ihn gemacht haben, dass Gott an ihm „gearbeitet“ hat. Aber was macht Gott mit ihm, dem Werk seiner Hände? Er verwirft ihn. Wie lässt sich das miteinander vereinbaren? Liebt Gott nicht sein eigenes Werk? Davon ist bei der Behandlung Hiobs jedoch nichts zu spüren. Er behandelt Hiob, der ihm so treu gedient hat, als ein Geschöpf ohne Wert. Und was noch seltsamer ist, ist, dass Er es den Bösen so gut gehen lässt. Sie leben glücklich im Licht, während er in der Finsternis ist.
Sollte Gott dies alles entgehen? Deshalb fragt Hiob Gott, ob Er vielleicht die Augen eines Geschöpfes hat und wie ein Mensch sieht, sodass Er Hiobs Leiden übersehen hat. Ein Lebewesen kann nicht über seinen eigenen Horizont hinaussehen. Ein Mensch kann gewiss nicht in die Herzen anderer sehen (Vers 4), aber Gott kann es doch wohl?, so lautet Hiobs verzweifelter Grundgedanke. Aber dann kann er Gottes Wege nicht mehr verstehen, für ihn sind sie alle nebulös und unverständlich.
Gott ist auch nicht an die Zeit gebunden. Das bringt Hiob dazu, seine dritte Frage zu stellen: Warum ist Er so sehr wie ein Mensch, der seine Tage zählt, und ein Mann, der seine Jahre vergehen sieht (Vers 5)? Hiob weiß, dass Gott viel weiter und tiefer sieht als ein Mensch und dass Er nicht an Zeit und Raum gebunden ist. Für Gott gibt es weder Vergangenheit noch Zukunft. Für Ihn sind Vergangenheit und Zukunft immer gegenwärtig.
Aber warum handelt Er dann so, als sei Er wie ein Mensch, sowohl in seiner Einsicht als auch in Zeit und Raum begrenzt? Das schließt Hiob aus der Art und Weise, wie Gott mit ihm umgeht. Er erlebt es, als ob Gott seine Ungerechtigkeit gründlich prüft, als ob Er sich nicht bewusst ist, dass er Ihm treu gedient hat (Vers 6). Warum forscht Er dann nach seiner Sünde? Warum wartet Gott nicht geduldig, bis die Sünde für jedermann klar ersichtlich ist? Warum hat Er es so eilig, wie ein Mensch, dass er Hiob foltern muss, um ein Geständnis zu erzwingen?
Natürlich weißt Du, sagt Hiob zu Gott, „dass ich nicht schuldig bin“ (Vers 7), aber das sagt Dir nichts. Du zerbrichst mich immer weiter. Und ich kann mich nicht dagegen wehren. Es gibt auch niemanden, der für mich gegen dich eintritt, um mich aus deiner Hand zu retten. Wer sollte das auch sein? Keiner ist Dir gleich.
Hiob kann auch nicht verstehen, dass der Schöpfer und der Zerstörer ein und dieselbe Person sind. Gottes Hände haben ihn zuerst kunstvoll „gebildet und gestaltet“ und ihn beschützt, aber jetzt sind diese beiden Hände um ihn herum, um ihn zu verschlingen (Vers 8). Hiob ist kein Evolutionist; er glaubt fest an Gott als seinen Gestalter und Schöpfer. Er kann einfach nicht verstehen, was Gott mit dem macht, was Er gebildet und gestaltet hat. Gott hat sie zuerst mit großer Weisheit, Geschicklichkeit, Mühe und Sorgfalt gebildet. Und dann zerschlägt er plötzlich und ohne Grund sein Werkstück, Hiob, mit denselben Händen. Wer würde eine schöne Vase herstellen und sie dann in Stücke schmeißen?
Er erinnert Gott daran, dass Er ihn als zerbrechlichen, verletzlichen Ton geschaffen hat (Vers 9). Er weiß, dass Gott den Menschen, Adam, „aus dem Staub der Erde“ (1Mo 2,7) geformt hat. Er weiß auch, dass der Mensch „zum Staub zurückkehren“ wird (1Mo 3,19). Dies setzt voraus, dass Hiob um den Sündenfall und seine Folgen für den Menschen weiß. Er erkennt auch das Urteil Gottes über die Sünde an, dass dadurch der Tod in die Welt gekommen ist.
Nach dem Bild des Töpfers verwendet Hiob nun das Bild des Käsemachers (Vers 10). Aus der flüssigen Milch entsteht nach der Gerinnung eine feste Substanz, der Käse. Dies ist ein schönes Bild für die Erschaffung des Menschen und sein Wachstum. Auch dies ist Gottes Werk.
Er legt die Haut und das Fleisch wie ein Kleid an und so entsteht eine Gestalt (Vers 11). Er setzt auch die Knochen und Sehnen ein, durch die sich der Körper bewegen und fortbewegen kann. So webt er den Menschen zu einem Ganzen zusammen. David sagt, dass er im Schoß seiner Mutter „gewebt“ wurde und dass er „gewirkt“ wurde wie ein Stickwerk in den untersten Örtern der Erde (Ps 139,13.15). Der Mensch ist ein Kunstwerk, das Produkt eines Künstlers.
Hiob spricht nun von dem Leben, das er als Geschenk erhalten hat (Vers 12). Es ist ihm von Gott geschenkt worden, sowohl bei der Empfängnis als auch bei der Geburt. Er erkennt auch an, dass Gott sich seiner erbarmt hat, indem Er ihm das Leben geschenkt hat. Das Leben ist ein Geschenk der Huld Gottes. Sein Geist, mit dem er mit Gott in Kontakt treten kann, ist auch das Objekt von Gottes Fürsorge, sagt Hiob hier. Gott hat Hiobs Geist in seiner Obhut bewahrt. Dass Hiob Gott nicht losgelassen hat, ist das Ergebnis der Fürsorge Gottes für seinen Geist.
Diese schöne Beschreibung seines Lebens als ein Erzeugnis Gottes ist ein Vorspiel zu einer neuen Klage über Gottes Umgang mit ihm. Gott hat sich so eindeutig um ihn gekümmert. Doch seine Absicht ist ganz anders als Hiob erwartet hatte. Jetzt zeigt sich, sagt Hiob sozusagen zu Gott, dass Du andere, verborgene Pläne für meine Geburt hattest (Vers 13). Hiob sagt es so kräftig, dass er wohl weiß, dass Gott dies von Anfang an für ihn geplant hat.
Hiob spürt Gottes durchdringendes Auge ständig auf sich gerichtet, aber jetzt nicht nur, um sich um ihn zu kümmern (Vers 12), sondern um ihn zu beobachten und ihn bei einer Sünde zu erwischen (Vers 14). Ihm entgeht nicht die kleinste Sünde. Natürlich, wenn er schuldig ist, dann muss er Gottes Zorn fürchten (Vers 15). Dann muss er schreien: „Wehe mir!“ Aber selbst wenn er gerecht ist – und er hält sich selbst für gerecht –, wird er sein Haupt nicht erheben können. Gott hat es eben auf ihn abgesehen. Deshalb ist er von Schande gesättigt und kann in seinem Elend nur den Kopf senken.
Er schreit zu Gott, dass Er sein Elend schaut. Er sagt damit: Kannst Du Dir mein Elend ansehen und davon unberührt bleiben? Es scheint so, als ob Du Dich nicht um mein Elend kümmerst. Wenn ich versuche, mich aus meinem Elend zu erheben, dann „jagst du mich wie ein Löwe“ (Vers 16). Wenn es den Anschein hat, dass Du mich für einen Moment in Ruhe lässt, täusche ich mich, denn Du kehrst zu mir zurück, um mich weiter zu quälen. Du verhältst Dich mir gegenüber sehr seltsam; ich verstehe es nicht. Erst hast Du mich mit Sorgfalt erschaffen, und dann gibst Du dir alle Mühe, mich zu demütigen und zu zerstören.
Hiob beklagt sich, dass Gott, anstatt ihn zu rechtfertigen, neue Zeugen gegen ihn aufbringt (Vers 17). Es kann sein, dass Hiob damit seine Freunde meint. Sie treten wie Gottes Anwälte auf. Sie verteidigen die Interessen Gottes, oder zumindest erwecken sie diesen Eindruck. Sie tun dies auf eine Weise, die Hiob spüren lässt, dass Gottes Zorn gegen ihn immer größer wird. Jedes neue Argument der Freunde, das sie meinen, zugunsten Gottes vorbringen zu müssen, und mit dem sie Hiob anklagen, ist gleichsam eine neue Armee, die sich gegen Hiob erhebt. Es ist eine Armee, die ihn abwechselnd mit Worten bombardiert. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Hiob in eine neue Reihe von Klagen ausbricht.
18 - 22 Hiobs Verlangen nach dem Tod
18 Warum hast du mich doch aus dem Mutterleib hervorgehen lassen? Ich hätte verscheiden, und kein Auge hätte mich sehen sollen! 19 Als ob ich nicht gewesen wäre, [so] hätte ich sein sollen, vom Mutterschoß zu Grabe getragen! 20 Sind meiner Tage nicht wenige? Er lasse ab, wende sich von mir, dass ich ein wenig mich erheitere, 21 ehe ich hingehe (und nicht wiederkomme) in das Land der Finsternis und des Todesschattens, 22 in das Land, düster wie das Dunkel, [das Land] des Todesschattens und der Unordnung und wo das Hellwerden dem Dunkel gleich ist!
Was Hiob in den Versen 18 und 19 sagt, bekräftigt, was er in Hiob 3 gesagt hat. Hier schreibt er seine Geburt mit Nachdruck – und natürlich zu Recht – Gott zu (Vers 18; vgl. Ps 22,10a). Doch er ist Gott nicht dankbar für diese Tat, sondern beschwert sich bei Ihm darüber. Er hätte seine Geburt niemals zulassen dürfen. Wäre er nur im Mutterleib gestorben, hätte ihn kein Auge jemals in der erbärmlichen Lage gesehen, in der er sich jetzt befindet. Es wäre so, als wäre er nie da gewesen (Vers 19). Er wäre namenlos vom Mutterleib zum Grab gebracht und begraben worden. Dann hätte er nie von den Qualen erfahren, die er jetzt erleidet (vgl. Pred 4,2.3).
Aber er lebt noch, und er erlebt dieses Leben als einen langen Leidensweg, auf den er von Gott bewusst gesetzt wurde. Ihm bleiben nur noch wenige Tage, dann ist sein Leben vorbei (Vers 20; Ps 39,5). Er wünscht sich, dass Gott aufhört, ihn zu quälen, dass Er damit nicht bis zum letzten Augenblick seines Lebens weitermacht. Er möchte in den wenigen verbleibenden Tagen, bevor er dieses Leben für immer verlässt, etwas Frieden und Freude erleben (vgl. Ps 39,13).
Wenn er dieses Leben verlässt, wird er im Grab sein und nie mehr auf die Erde zurückkehren (Vers 21). Das Grab befindet sich in einem „Land der Finsternis und des Todesschattens“. Es ist ein „Land, düster wie das Dunkel“, in dem Todesschatten und Unordnung herrschen und wo das Hellwerden dem Dunkel gleich ist (Vers 22).
In dieser Finsternis herrscht keine Ordnung, so wie vor den Schöpfungstagen (1Mo 1,2). Es gibt keine Ordnung von Tag und Nacht, Sommer und Winter oder Hitze und Kälte. Es gibt auch keine Reihenfolge nach Alter, Geschlecht, Rang oder Stellung. Die Gebeine der Toten werden zusammengefegt, und niemand weiß, zu wem sie gehören, außer der allwissende Gott.
Die Dunkelheit leuchtet dort, als ob sie Licht wäre. Wenn das Licht Finsternis ist, wie groß ist dann die Finsternis! Das Licht offenbart alles, aber wenn das Licht die Dunkelheit ist, dann ist die Dunkelheit selbst äußerst dunkel. Die Dunkelheit ist undurchdringlich. Nichts ist darin zu sehen, nicht einmal ein vager Umriss ist zu erkennen, an dem man etwas erkennen könnte.