Einleitung
Hiobs Ausbruch in Kapitel 3 gibt Anlass zu den folgenden drei Gesprächsrunden zwischen Hiob und seinen Freunden. Die Freunde sprechen immer in der gleichen Reihenfolge, möglicherweise nach dem Alter: zuerst Eliphas, dann Bildad und schließlich Zophar. Es handelt sich jedes Mal um Wort und Gegenwort:
1. zunächst eine Beurteilung und Verurteilung seitens der Freunde,
2. worauf eine Selbstrechtfertigung von Seiten Hiobs folgt,
und das in immer stärkeren Aussagen.
In all dem steckt etwas wahrhaft Menschliches. Wir müssen lernen, wie viel Weisheit und Vorsicht wir brauchen, wenn wir Menschen auf etwas ansprechen wollen, das wir wahrnehmen. Die Freunde haben nicht das, was der Herr Jesus hat – und was auch Hiob nach dem Zeugnis von Eliphas hatte (Hiob 4,3.4) –, nämlich die Fähigkeit, „den Müden durch ein Wort aufzurichten“ (Jes 50,4). Im Gegenteil, sie machen Hiobs Kummer nur noch größer. Sie wissen nicht, „wie gut … ein Wort zu seiner Zeit“ ist (Spr 15,23b).
Es ist auch klar, dass die Freunde Hiob nicht so ansehen, wie Gott ihn ansieht. Immerhin hat Gott wiederholt von Hiobs Vollkommenheit gesprochen. Die Freunde betrachten Hiob als Menschen, die nur das ansehen, was vor ihren Augen ist, und das mit ihrem Wissen über Gott verbinden, also mit ihrer eigenen „Theologie“ darüber, wie Gott ist. Sie beurteilen die Situation nicht aus ihrer Beziehung zu Gott heraus.
Ihre Einschätzung zeigt, dass sie Hiob nicht kennen und dass sie Gott nicht kennen. Sie suchen nach der Ursache des Leidens ohne Kenntnis von Gott und Hiob. Sie sehen hinter dem Leid nur die strafende Hand Gottes. Die erziehende Hand Gottes kennen sie nicht. Es zeigt auch, dass sie sich selbst nicht kennen. Durch all ihre Unwissenheit fügen sie Hiobs Leiden noch weiteren Schmerz hinzu, anstatt ihn in seinem Leiden zu trösten.
Worum es in den Disputen immer wieder geht, ist die Frage der drei Freunde, ob Hiob wirklich ein aufrichtiger Mann ist oder ob er doch ein Heuchler ist. Es ist in der Tat die gleiche Frage, die Satan Gott in Hiob 1 und Hiob 2 stellt (Hiob 1,9; 2,4.5).
Allgemein lässt sich zu den Diskussionsrunden noch folgendes sagen:
1. In der ersten Gesprächsrunde (Hiob 4–14) belehren die Freunde Hiob über den strafenden Charakter des Leidens; Hiob antwortet darauf in Verzweiflung.
--a. Eliphas beschreibt seine eigene Erfahrung mit der Größe und Gerechtigkeit Gottes.
--b. Bildad hält Hiob die Tradition vor, dass Leiden eine Vergeltung ist.
--c. Zophar hält an dem Dogma fest, dass Leiden die Folge von begangenen Sünden ist.
Obwohl die Freunde vom gleichen Prinzip ausgehen, haben sie jeweils unterschiedliche Merkmale:
--1. Eliphas zeichnet sich durch Würde, seine Berufung auf Gott und die eindringliche Bitte aus, dass man ihm zuhört.
--2. Bildad appelliert an den gesunden Menschenverstand und die Lektionen der Geschichte.
--3. Zophar zeichnet sich durch dogmatische Strenge und Ungestüm aus, mit denen er die (angeblichen) Sünden Hiobs anprangert und die Verkündung des sicheren Gerichts, das darüber kommen wird.
2. In der zweiten Gesprächsrunde (Hiob 15–21) äußern die Freunde Verdächtigungen und Anschuldigungen; Hiob geht von Verzweiflung zu Hoffnung.
3. In der dritten Gesprächsrunde (Hiob 22–26), bringt Hiob seine Freunde zum Schweigen. Aber das Rätsel des Leidens bleibt.
Eine Hauptursache für den Unterschied zwischen den Reden der Freunde und Hiobs Reden ist der Unterschied in ihrer Beziehung zu Gott. Hiob ist entschlossen, absolut ehrlich gegenüber Gott zu sein. Er erzählt Gott alles, jede Träne, jede Verzweiflung. Es geht ihm um die Aufrechterhaltung seiner Beziehung zu Gott. Die Freunde hingegen erzählen Gott nichts. Sie sprechen nur über Ihn, nie mit Ihm. Sie sprechen nicht aus einer Beziehung zu Gott heraus, sondern bringen ihre Theorien über Gott zum Ausdruck, Theorien, an denen sie krampfhaft als an einem starren Dogma festhalten. Hiob bittet auch nirgends um die Wiederherstellung seines Wohlstandes. Was für ihn zählt, ist seine Beziehung zu Gott und die Beziehung Gottes zu ihm.
In den Streitigkeiten, die die drei Freunde mit Hiob führen, sehen wir, dass sie auf demselben Prinzip beruhen, nämlich dass alles Leiden immer einen strafenden und niemals einen erzieherischen Charakter hat und dass das Leiden mit der Gerechtigkeit Gottes zu tun hat. In ihrem Denken gibt es keinen Platz für die Liebe Gottes im Zusammenhang mit dem Leiden. Sie verkennen, dass beides – Gerechtigkeit und Liebe – auf seinen Wegen immer zusammengehört. Wenn man das Leiden so betrachtet wie sie das tun, wird der Unterschied zwischen dem Leiden, das der Gerechte erleidet, und dem Leiden, das das Teil der Gottlosen ist, nicht beachtet.
Einteilung der ersten Ansprache von Eliphas (Hiob 4–5)
1. Hiobs Verzweiflung wird ihm vorgeworfen (Hiob 4,1–5)
2. Gottes Gunst für die Gerechten (Hiob 4,6–11)
3. Vision von Gottes Größe und Heiligkeit (Hiob 4,12–21)
4. Erfahrung von Wegen Gottes (Hiob 5,1–5)
5. Ermahnung an Hiob, Gott zu suchen (Hiob 5,6–11)
6. Gottes Triumph über das Böse (Hiob 5,12–16)
7. Die Anwendung der Züchtigung (Hiob 5,17–27)
1 - 5 Eliphas wirft Hiob seine Verzweiflung vor
1 Und Eliphas, der Temaniter, antwortete und sprach:
2 Wenn man ein Wort an dich versucht, wird es dich verdrießen? Doch die Worte zurückhalten, wer könnte es?
3 Siehe, du hast viele unterwiesen, und erschlaffte Hände stärktest du;
4 den Strauchelnden richteten deine Worte auf, und sinkende Knie hast du befestigt.
5 Doch nun kommt es an dich, und es verdrießt dich; es erreicht dich, und du bist bestürzt.
Eliphas, der Temaniter, glaubt nach dem, was Hiob gesagt hat, nicht mehr länger schweigen zu können und verpflichtet zu sein, zu sprechen (Vers 1). Er fühlt sich veranlasst, das Wort zu ergreifen und Hiob zu antworten, überrascht von dessen heftiger Reaktion auf sein Leiden. Er ist der Hauptwortführer der drei Freunde. In jeder Gesprächsrunde ist er der Erste, der die Initiative ergreift und spricht. Wir sehen am Ende des Buches, dass der HERR ihn als Hauptverantwortlichen anspricht und sein Zorn gegen ihn entbrennt (Hiob 42,7).
Mit Eliphas′ Antwort beginnt eine Reihe von Dialogen, in denen auf immer schmerzhaftere Weise auf die Wunden gedrückt wird, die in Hiobs Inneren geschlagen sind. Die Freunde meinen, immer auf Hiobs Klagen eingehen zu müssen, was wiederum eine Reaktion bei Hiob hervorruft.
Eliphas meint, für die Ehre Gottes eintreten zu müssen, weil sie in seinen Augen durch das, was Hiob sagt, verletzt wird. Allerdings bringt sein Reden Hiob nicht dazu, dass er von Gott beeindruckt wird. Warum ist das so? Eliphas hat eine zu enge Sicht der Ehre Gottes, als ob sie nur durch die Ausübung absoluter Gerechtigkeit im Angesicht des Bösen aufrechterhalten werden kann, wobei er auch glaubt, dass Ursache und Wirkung von Menschen berechnet werden können.
Die ersten Worte, die Eliphas spricht, zeigen, dass er sich bewusst ist, dass seine Worte und die seiner beiden Freunde Hiob verletzen werden, und zwar so sehr, dass er annimmt, dass sie Hiob verdrießen werden (Vers 2). Es ist ein merkwürdiger Anfang für einen, der doch gekommen ist, um zu trösten (Hiob 2,11). Aber, so rechtfertigt er sich selbst, er kann es nicht anders. Er muss wohl sprechen.
Er beginnt sofort damit, dass er Hiob darauf hinweist, dass er zuvor andere, die mit Widrigkeiten konfrontiert waren, gelehrt hatte, wie sie damit umzugehen hatten (Vers 3). Durch diese Ermutigungen gab er denen, die litten, Kraft; er stärkte ihre „erschlafften Hände“. Seine Worte haben „den Strauchelnden“ wieder aufgerichtet (Vers 4). Hiob – anders als seine Freunde, wie wir sehen werden – wusste, wie man zur rechten Zeit ein Wort zu den Müden spricht. Dies ermöglichte es den Müden, wieder weiterzuziehen.
Aber nun schaue dir Hiob an, jetzt, wo er selbst im Elend steckt (Vers 5). Jetzt ist von all den Ratschlägen, die er anderen gegeben hat, nichts mehr übrig. Er bricht unter dem Unglück zusammen, das über ihn hereingebrochen ist. Jetzt, wo ihn das Schicksal ereilt hat, ist er ganz klein. Wo sind denn nun die aufbauenden Worte, die er für andere hatte? Eliphas meint, dass man erwarten könnte, dass Hiob, der in der Vergangenheit andere, die in Bedrängnis waren, zu ermutigen wusste, nun die Worte, die er einst sprach, an sich selbst richten würde (vgl. Lk 4,23).
Was Eliphas sagt, ist teilweise wahr, aber der Grund liegt nicht nur in den Katastrophen, die Hiob heimsuchten. Die Ursache liegt tiefer, nämlich in Hiobs Annahme, dass Gott sein Widersacher ist (Hiob 3,20.23). In dem, was Eliphas sagt, ist auch ein Vorwurf enthalten. Der Vorwurf lautet, dass Hiob, nachdem er einen anderen gelehrt hat, sich selbst nicht lehrt (Röm 2,21).
Wir vermissen ein Wort des Trostes in den Worten dieses Freundes. Die Gnade lehrt uns, mit denen zu weinen, die weinen, und mit den Betrübten mitzufühlen (Röm 12,15). Hiob tat in diesen Fällen, wozu der Schreiber des Hebräerbriefs die hebräischen Gläubigen auffordert (Heb 12,12.13). Hierin können wir Hiob nachfolgen. Er nahm sich Zeit dafür, obwohl er ein vielbeschäftigter Mann gewesen sein muss.
6 - 11 Gottes Gunst für den Gerechten
6 Ist nicht deine Gottesfurcht deine Zuversicht und die Vollkommenheit deiner Wege deine Hoffnung? 7 Erinnere dich doch: Wer ist als Unschuldiger umgekommen, und wo sind Rechtschaffene vertilgt worden? 8 So wie ich es gesehen habe: Die Unheil pflügen und Mühsal säen, ernten es. 9 Durch den Odem Gottes kommen sie um, und durch den Hauch seiner Nase vergehen sie. 10 Das Brüllen des Löwen und die Stimme des Brüllers [sind verstummt], und die Zähne der jungen Löwen sind ausgebrochen; 11 der Löwe kommt um aus Mangel an Raub, und die Jungen der Löwin werden zerstreut.
Eliphas spricht Hiob auf seine Gottesfurcht an (Vers 6). War das nicht seine „Zuversicht“, sein Vertrauen? Wo ist dieses Vertrauen jetzt? Er deutet an, dass mit diesem Vertrauen in Gott etwas nicht stimmt, denn sonst würde Hiob nicht so in Sack und Asche sitzen. Er weiß, dass Hiob Gott fürchtete, aber davon ist in seiner Reaktion auf die Katastrophen, die ihn trafen, nichts zu sehen, so urteilt er. Tatsächlich sagt Eliphas das Gleiche wie Satan, der ebenfalls behauptet hat, dass Hiob Gott nur fürchtet wegen seines Wohlstands (Hiob 1,9).
Und dann die Aufrichtigkeit von Hiobs Wegen. Basierte seine Hoffnung nicht auch darauf, dass ihm nichts Schlimmes zustoßen würde? Auch hier sehen wir eine verschleierte Anschuldigung, dass mit Hiob nicht alles in Ordnung ist. Er fürchtete Gott und war ehrlich im Umgang mit den Menschen, und doch passierte ihm all dieses Böse.
Ohne Hiob direkt eines Mangels an Gottesfurcht zu beschuldigen, gibt Eliphas Hiob etwas zu bedenken, das eine Unterstellung in diese Richtung beinhaltet. In jeder seiner Reden spricht Eliphas von Hiobs Gottesfurcht (Hiob 4,6; 15,4; 22,4), die er verdeckt in Frage stellt. Aber Hiob ringt nicht mit der Frage: „Bin ich gottesfürchtig und vollkommen?“ Die Frage, mit der er ringt, ist diese: „Warum handelt Gott auf diese Weise mit einem so gottesfürchtigen und vollkommenen Menschen, wie ich es doch bin?“
Eliphas sieht das jedoch nicht. Für ihn ist die Sache viel einfacher. Hiob sollte mal untersuchen, ob jemals ein Unschuldiger umgekommen ist und ob die Gerechten jemals ausgerottet worden sind (Vers 7). Er lehrt Hiob die Lektion, dass Gott keine Katastrophe über die Gerechten kommen lässt und dass das Böse nur den Bösen trifft, egal wie mächtig er ist. Aber Eliphas vergisst zum Beispiel Abel. Abel wurde gerade deshalb ermordet, weil er wegen des Opfers, das er brachte, besser war als sein Bruder (1Mo 4,3–8; vgl. Jes 57,1; Pred 9,2; Mt 23,35; Hiob 11,36–38). Auch widerspricht das Urteil von Eliphas über Hiob dem Urteil, das Gott über Hiob gesprochen hat (Hiob 1,8; 2,3).
Der Maßstab, den Eliphas bei seiner Beurteilung von Hiobs Situation anlegt, ist der seiner eigenen Erfahrung und Wahrnehmung und nicht der der göttlichen Offenbarung, dessen, was Gott zeigt. Gott kann sich ihm auch nicht offenbaren, denn er hat seine eigene Vorstellung davon, wer Gott ist. Dieser Maßstab – die eigene Vorstellung davon, wer Gott ist – wird auch vom modernen Menschen angelegt. Für den Menschen, auch den sogenannten christlichen Menschen, ist nicht das, was Gott in seinem Wort offenbart, normativ und bestimmend, sondern das, was er „fühlt“ und „sieht“. Hier sehen wir ein Beispiel für Religion anstelle einer Relation mit Gott, für Theologie, oder auch „Gottesgelehrtheit“ anstelle von „von Gott gelehrt zu sein“ (Jes 54,13).
Die Grundlage für Eliphas′ Argumentation ist das Gesetz von Säen und Ernten (Vers 8; Gal 6,8 ; Spr 22,8a ; Hos 8,7a). Das kann er beobachten und beurteilen. Sein Urteil stützt sich nicht auf die Schrift, sondern auf seine eigene Erfahrung. Die Gesetzmäßigkeit, die er beobachtet, ist vorhanden, funktioniert aber nicht immer auf eine für uns logisch erklärbare Weise. Das ist jedoch die Art, wie Eliphas damit umgeht. Er macht es zu einer starren, absoluten Gesetzmäßigkeit ohne Ausnahme. Dabei stützt er sich auf das, was er beobachtet hat.
Er sieht, dass Menschen leiden, weil sie sündigen. Was sie ernten, wird durch das bestimmt, was sie säen. Hiob erntet Leid, dann muss er Sünde gesät haben. In der Tat ist die Prämisse des Arguments der drei Freunde: Wer ist jemals unschuldig umgekommen? Wir sehen dies in Eliphas′ weiterer Anschuldigung in der dritten Gesprächsrunde verstärkt, wo er diesen Ausgangspunkt mit eiserner Logik ausführt (Hiob 22,1–11).
Er stellt fest, dass Hiob „durch den Odem Gottes … und durch den Hauch seiner Nase“ umkommt (Vers 9). Mit „dem Odem Gottes“ ist sein Gericht gemeint. Der Odem kann mit einem heißen, brennenden Wind verglichen werden, der über ein Kornfeld zieht und die Ernte verdorren und verloren gehen lässt (vgl. 2Thes 2,8). „Den Hauch seiner Nase“ deutet auf Gottes Zorn und Grimm über die Sünde hin (vgl. 2Sam 22,16; Apg 9,1).
In den Versen 10 und 11 gibt Eliphas eine Illustration eines Ungerechten. Er vergleicht ihn mit einem brüllenden Löwen und seine Stimme mit der eines jungen Löwen. Aber der gemachte Eindruck hat keine Wirkung, wenn es darum geht, eine Katastrophe abzuwenden. Wenn die Katastrophe eintritt, ist von seinem imposanten Brüllen und Knurren nichts mehr übrig. Von den ehemals so imposanten Ungerechten ist nichts mehr übrig.
Im Hebräischen werden acht verschiedene Namen für Löwen verwendet. Sie werden alle verwendet, um das Mächtige dieses Tieres anzuzeigen. Hier wird beschrieben, dass ihnen auch die zerstörende und zerreißende Kraft, die sie besitzen, irgendwann genommen wird, sodass sie jede Bedrohung verlieren. Auch für die Zukunft bleibt keine Bedrohung, denn der Löwe kommt um und die Jungen werden zerstreut. So geht der Ungerechte zugrunde und ebenso seine Kinder. Laut Eliphas ist dies eine wichtige Lektion für Hiob.
12 - 21 Vision von Gottes Größe und Heiligkeit
12 Und zu mir gelangte verstohlen ein Wort, und mein Ohr vernahm ein Geflüster davon. 13 In Gedanken, die Nachtgesichte hervorrufen, wenn tiefer Schlaf die Menschen befällt, 14 kam Schauer über mich und Beben und durchschauerte alle meine Gebeine; 15 und ein Geist zog vor meinem Angesicht vorüber, das Haar meines Leibes starrte empor. 16 Da stand einer – ich erkannte sein Aussehen nicht –, eine Gestalt war vor meinen Augen, ein Säuseln und eine Stimme hörte ich: 17 Sollte ein Mensch gerechter sein als Gott, oder ein Mann reiner als der, der ihn gemacht hat? 18 Siehe, auf seine Knechte vertraut er nicht, und seinen Engeln legt er Irrtum zur Last: 19 wie viel mehr denen, die in Lehmhäusern wohnen, deren Grund im Staub ist! Wie Motten werden sie zertreten. 20 Vom Morgen bis zum Abend werden sie zerschmettert; ohne dass man es beachtet, kommen sie um für immer. 21 Ist es nicht so? Wird ihr Zeltstrick an ihnen weggerissen, so sterben sie, und nicht in Weisheit.
Um seine Behauptungen aus Vers 6 weiter zu untermauern – dass der Segen auf Gottesfurcht und Aufrichtigkeit folgt – kommt Eliphas mit einem Wort, das ihm in einer Vision gebracht wurde (Vers 12). Es ist wieder ein Appell an seine eigene Erfahrung und Wahrnehmung. In Vers 8 spricht er von dem Auge, was er gesehen hat; jetzt spricht er von „meinem Ohr“, was er gehört hat. Die Art und Weise, wie er dies tut, hat etwas Geheimnisvolles oder gar Mystisches. Es erinnert ein wenig an die Arbeitsweise falscher Propheten und Irrlehrer und an das Vorgehen Satans, der sich „als Engel des Lichts“ (2Kor 11,14) präsentiert. Es ist ihm „verstohlen“ gebracht worden und sein Ohr hat „ein Geflüster“ davon vernommen. Es ist vage und für andere nicht überprüfbar.
Eliphas will Hiob noch mehr mit dem Gehörten beeindrucken, indem er ihm erzählt, wie beeindruckt er selbst von dem Wort ist, das ihm zugetragen wurde (Vers 13). Es ist eine Anmerkung, die der Manipulation gleichkommt. Wenn jemand etwas aus dem Wort Gottes weitergeben will, ist es nicht notwendig, dass er zuerst darauf hinweist, was es bei ihm bewirkt hat. Wenn der Redner dies mit großem Nachdruck tut, besteht eine große Chance, dass er und seine Erfahrungen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Dann hat sich die Aufmerksamkeit auf subtile Weise von Gottes Wort auf den Sprecher verlagert.
Solche vagen Botschaften werden auch in der Christenheit zu Gehör gebracht. In manchen Kreisen hört man regelmäßig die Aussage „So spricht der Herr“, und dann folgt etwas, was die Hörer nicht in Zweifel ziehen dürfen. Oder es wird etwas weitergegeben, was der Herr angeblich jemandem klargemacht hat und was jeder im guten Glauben an den Redner – und nicht an das Wort Gottes! – annehmen und akzeptieren muss. Wir haben das ganze Wort Gottes als Prüfstein, und durch ihn muss die Wahrheit einer Aussage bestätigt werden, und wenn nicht, muss sie verworfen werden.
Eliphas verwendet Ausdrücke, die von großer Beredsamkeit zeugen, die aber keinen einzigen Beweis für die Wahrheit seiner Behauptungen liefern. Er spricht von beängstigenden Gedanken an die Visionen in der Nacht. Es ist die Zeit, „wenn tiefer Schlaf die Menschen befällt“. Der Ausdruck „tiefer Schlaf“ wird manchmal mit übernatürlichen Erfahrungen in Verbindung gebracht (1Mo 15,12; Hiob 33,15).
Er spricht auch von „Schauer“ und „Beben“, das über ihn kam und alle seine Gebeine durchschauerte (Vers 14). Auch dies deutet auf eine übernatürliche Erfahrung hin. Er scheint zu sagen: „Hiob, was bei mir Ehrfurcht hervorgerufen hat, soll es auch bei dir tun. Du kannst das nicht einfach so ignorieren.“
Nachdem Eliphas so sein Erleben und seine Gefühle geschildert hat, erzählt er, was er gesehen hat: „Ein Geist zog vor meinem Angesicht vorüber“ (Vers 15). Wieder erzählt er von den Gefühlen, die dies bei ihm auslöste: „das Haar meines Leibes starrte empor“, d. h., er hatte eine Gänsehaut vor lauter Angst oder wegen des übernatürlichen Charakters des Gesehenen. Dann blieb der Geist stehen (Vers 16). Eliphas sah nichts Vertrautes in der Gestalt des Geistes. Er sah nur seine Umrisse vor seinen Augen. Dann herrscht für einige Zeit Stille, so als ob erst das richtige geistige Klima vorhanden sein muss, um die Botschaft zu hören und zu verstehen. Wir dürfen in solchen Fällen wohl zu Gott beten, um die Gabe der Unterscheidung der Geister zu erhalten (1Kor 12,10; 1Joh 4,1). Die hat Eliphas nicht ...
Der Geist stellt die Frage, ob ein (sterblicher) Mensch – und das wird Eliphas in seinen Gedanken auf Hiob anwenden – gerechter sein kann als Gott (Vers 17). Dann stellt er die Frage, ob ein Mann – das wendet er gedanklich wieder auf Hiob an – reiner als sein Schöpfer sein könne. Bei beiden Fragen handelt es sich um Fragen, bei denen die Antwort in der Frage enthalten ist. Natürlich ist ein sterblicher Mensch nicht gerechter als Gott, und natürlich ist ein Mann nicht reiner als sein Schöpfer.
Eliphas spricht hier unwiderlegbare Wahrheiten aus, aber was nützt das Hiob? In jedem Fall wird es den Bedürfnissen des leidenden Hiob nicht gerecht. Es liegt keinerlei Trost für Hiob darin. Übrigens, wenn es wahr ist, dass alle Menschen vor Gott unrein sind und es keinen Gerechten vor Ihm gibt – und es ist wahr! –, dann würde Eliphas neben Hiob vor Gott Platz nehmen müssen. So weit wird er nicht kommen.
Übrigens wird diese Frage im Neuen Testament beantwortet. Im Brief an die Römer lesen wir über die Grundlage, auf der ein Mensch vor Gott gerecht und vor seinem Schöpfer rein sein kann. Diese Grundlage, so lehrt uns der Brief, liegt im Glauben an Christus und sein vollbrachtes Werk am Kreuz.
In diesem Gesicht wird der Mensch – und er meint Hiob – dann mit Gottes „Knechten“ und „seinen Engeln“ verglichen (Vers 18). Seine Knechte sind Menschen, die Ihn kennen und Ihm dienen und sein Wort an andere weitergeben. Seine Engel sind heilige Wesen, die immer in Gottes Gegenwart sind. Aber auch sie sind nicht vollkommen. Seine Knechte haben zuweilen gesündigt, und Gott hat auch bei dem erhabensten Engel Irrtum gefunden (Hes 28,15) und ihn und seine Anhänger dafür gerichtet. Ihm entgeht nichts, was an Ungerechtigkeit bei denen ist, die im Himmel wohnen.
Das Gleiche gilt in noch stärkerem Maße für diejenigen, die mit der Erde verbunden sind (Vers 19). Eliphas sagt bildlich, dass der Mensch in einem hinfälligen, leicht zerbrechlichen Lehmhaus wohnt, dessen Fundament in völlig kraftlosen Staub ist. Mit dem Lehmhaus meint er den Körper des Menschen (1Mo 2,7). Paulus nennt den Körper „ein irdenes Gefäß“ (2Kor 4,7).
Seine Instabilität und Zerbrechlichkeit wird durch den Vergleich mit dem Zertreten einer Motte anschaulich dargestellt. Wie Motten zertreten werden, so werden die Menschen „vom Morgen bis zum Abend … zerschmettert“ (Vers 20). Es deutet auf die Kürze des menschlichen Lebens hin. Er wird sozusagen am Morgen geboren und am Abend ist er nicht mehr da. Es ist so alltäglich, dass es von der breiten Masse unbemerkt bleibt, wenn ein Mensch stirbt.
Wenn ein Mensch stirbt, wird der Zeltstrick seines Lebens, mit dem er an die Erde gebunden war, „weggerissen“ (Vers 21; vgl. Pred 12,6.7a). Auch hier hören wir eine schöne Bildsprache, nämlich die des Abbruchs eines Zeltes, das mit Zeltschnüren am Boden befestigt wurde (vgl. Jes 38,12). Paulus vergleicht den physischen Tod mit dem „Abbruch“ „unseres irdischen Zeltes, in dem wir wohnen“ (2Kor 5,1).
So stirbt ein Mensch, „und nicht in Weisheit“, womit Eliphas meint, dass er als gottloser Mensch stirbt und das vor seiner Zeit. Wenn ein Leben plötzlich abgeschnitten wird, ist das für ihn der Beweis, dass es ein gottloses Leben gewesen sein muss. Ein solcher Mensch ist einer, der in seinem vergänglichen und kurzen Leben keine Weisheit erworben hat. Auch hier hören wir einen Vorwurf an Hiob, dass es ihm an Weisheit über Gott mangelt.