1 - 9 Es gibt niemanden, der Recht übt
1 Durchstreift die Gassen Jerusalems, und seht doch und erkundet und sucht auf ihren Plätzen, ob ihr jemand findet, ob einer da ist, der Recht übt, der Treue sucht – so will ich ihr vergeben. 2 Und wenn sie sprechen: „[So wahr] der HERR lebt!“, so schwören sie darum doch falsch. 3 HERR, sind deine Augen nicht auf die Treue gerichtet? Du hast sie geschlagen, aber es hat sie nicht geschmerzt. Du hast sie vernichtet – sie haben sich geweigert, Zucht anzunehmen; sie haben ihre Angesichter härter gemacht als Fels, sie haben sich geweigert umzukehren. 4 Und ich sprach: Nur Geringe sind es; die sind betört, weil sie den Weg des HERRN, das Recht ihres Gottes, nicht kennen. 5 Ich will doch zu den Großen gehen und mit ihnen reden; denn sie kennen den Weg des HERRN, das Recht ihres Gottes. Doch sie haben allesamt das Joch zerbrochen, die Fesseln zerrissen. 6 Darum schlägt sie ein Löwe aus dem Wald, ein Wolf der Steppen vertilgt sie, ein Leopard belauert ihre Städte: Jeder, der aus ihnen hinausgeht, wird zerrissen; denn ihre Übertretungen sind viele, zahlreich ihre Abtrünnigkeiten. 7 Weshalb sollte ich dir vergeben? Deine Söhne haben mich verlassen und schwören bei Nicht-Göttern. Obwohl ich sie schwören ließ, haben sie Ehebruch getrieben und laufen scharenweise ins Hurenhaus. 8 Wie wohlgenährte Pferde schweifen sie umher; sie wiehern jeder nach der Frau seines Nächsten. 9 Sollte ich dies nicht heimsuchen, spricht der HERR, oder sollte an einer Nation wie dieser meine Seele sich nicht rächen?
Der HERR fordert dazu auf, die ganze Stadt zu durchstreifen und zu sehen, ob sich jemand findet, der ehrlich und vertrauenswürdig ist oder nach Wahrheit sucht (Vers 1). Sie sollen ihre Augen offen halten. Es geht um eine gründliche Suche. Sie sollen „sehen“, „erkunden“, „suchen“, um zu sehen, ob sich nur einer findet, „der Recht übt, der Treue sucht“. Recht üben bedeutet die Anerkennung und Handhabung des Gesetzes des HERRN im gemeinschaftlichen Leben und in der Rechtsprechung. Treue suchen bedeutet, aufrichtig und wahrhaftig zu sein.
Wenn es auch nur einen gäbe, würde der HERR das Gericht über den Rest nicht ausführen und Jerusalem würde verschont (vgl. Hes 22,30). Er würde dann „vergeben“. Dieses Wort kommt an dieser Stelle zum ersten Mal in diesem Buch vor. Es ist eine Handlung Gottes, die Er vornimmt unter der Voraussetzung der Buße eines Menschen.
Hier sehen wir deutlich die Gnade Gottes. Er sucht immer nach einer Möglichkeit, um vergeben zu können. Was wir hier lesen, erinnert an sein Versprechen an Abraham, dass Er Sodom verschonen wird, wenn Er nur zehn Gerechte findet (1Mo 18,23–32). Er findet sie nicht (vgl. Mich 7,1.2; Ps 12,2).
In Jerusalem ist es noch schlimmer: Es ist kein Einziger zu finden. Das sollte Jeremia überzeugen, dass der HERR gerecht ist in seiner Entscheidung, sein Volk zu richten. Es bestätigt ihn auch in seinem Auftrag, den der HERR ihm gegeben hat, dieses Gericht anzukündigen.
Sie wagen es, den Namen des HERRN auszusprechen und in diesem Namen einen falschen Eid abzulegen (Vers 2; vgl. Mt 5,33–37). Das wird gemacht, um andere zu täuschen. Sie brechen schamlos Versprechen, die sie im Namen des HERRN gegeben haben. Sowohl Elisa als auch Gehasi verwenden den Satz: „So wahr der HERR lebt“ (2Kön 5,16.20), der eine in Wahrheit, der andere in Verlogenheit. Dieser unwahrhaftige Gebrauch des Namens des HERRN ist ein eitler Gebrauch seines Namens und durch das Gesetz verboten (2Mo 20,7).
Jeremia weiß, dass der HERR nach jemandem Ausschau hält, der treu ist (Vers 3). In Vers 1 spricht der HERR von einer solchen Person, hier tut es Jeremia. Er weiß, wonach der HERR Ausschau hält. Er weiß, dass der HERR alles getan hat, um sein Volk wieder zu einem vertrauenswürdigen Volk zu machen. Er hat sie auf jede erdenkliche Weise gezüchtigt, aber niemand hat es zu Herzen genommen. Anstatt sich unter der Züchtigung zu beugen, verhärten sie ihr Gesicht und offenbaren ihre absolute Weigerung, Buße zu tun.
Dann geht Jeremia erneut unter das Volk, um zu sehen, ob wirklich niemand zu finden ist, der den HERRN fürchtet. Damit bezeugt er aufs Neue eine große Liebe zu seinem Volk. Zuvor war er bei den Geringen gewesen, den armen, einfachen Leuten, die sich wie Törichte verhalten (Vers 4). Ihr Verhalten rührt von ihrer Unwissenheit über den Weg des HERR. Sie kennen das Recht ihres Gottes nicht. Deshalb findet er dort auch keinen, der vertrauenswürdig ist.
Nun will er zu den Großen gehen, den Leuten von Rang (Vers 5). Sicherlich wird er dort mehr Erfolg haben. Sie müssen den Weg des HERRN und sein Recht kennen. Aber auch dort gibt es niemanden, der Vertrauenswürdigkeit anstrebt, denn diese Leute haben das Joch des HERRN abgeworfen. Sie wollen sich Ihm in keinerlei Weise unterordnen.
Das Ergebnis ist, dass es niemanden gibt, der Gutes tut, nicht unter den Geringen und nicht unter den Leuten von Rang und den Reichen, nicht unter dem einfachen Volk und nicht unter den Führern. Es gibt niemanden, der Gott sucht, es gibt nicht einmal einen (vgl. Röm 3,10–12). Wir wissen nun, dass es doch einen gibt, einen, der absolut vertrauenswürdig ist und das ist unser Herr Jesus.
Weil sie so hartnäckig sind in ihrer Abweichung vom HERRN und ihre Übertretungen „viele“ geworden sind und ihre Abtrünnigkeiten „zahlreich“ sind, wird Er sie strafen (Vers 6). Seine Werkzeuge sind die wilden Tiere, die ohne jedes Erbarmen töten und zerreißen. Abgesehen davon, dass wir an buchstäbliche wilde Tiere denken, können wir in dem „Löwen“, dem „Wolf“ und dem „Leoparden“ nacheinander die Macht, die Raubgier und die Schnelligkeit der Babylonier sehen. Sie sind die Zuchtrute Gottes für sein Volk wegen dessen vieler Übertretungen und zahlreicher Abtrünnigkeiten.
Wie kann der HERR ihnen vergeben, wenn sie so sündigen (Vers 7)? Er kann nicht vergeben, wenn sie ihre Schuld nicht bekennen und keine Buße vorhanden ist. Sie haben Ihn verlassen und haben auch ihre Kinder gelehrt, Ihn zu verlassen. Nun schwören diese Kinder bei etwas, was keine Götter sind, um davon Rettung zu erwarten.
Selbst die Gunstbeweise, die Er ihnen reichlich gewährt hat, missbrauchen sie. Sie deuten sie als Anerkennung ihres sündigen Weges. Sie haben sie mit äußerster Untreue beantwortet, mit abscheulichem und häufigem Ehebruch. Das Haus Israel ist ein Haus der Huren geworden, ein Haus der Götzen, wo massenhaft Ehebruch begangen wird, das heißt, wo massenhaft Götzen gedient wird.
Israel ist auch im wörtlichen Sinn zu einem Haus der Hure verkommen. Götzendienst öffnet immer die Tür zu unmoralischem Verhalten. Götzendienst beinhaltet immer sexuelles Übel (1Kor 10,7.8; Off 2,20). Götzendienst und Hurerei stehen in einem gottlosen Zusammenhang. Das Volk ist in der Befriedigung ihrer Lüste wie Pferde, die ihrem Paarungstrieb hemmungslos folgen (Vers 8). So wiehert ein jeder Mann und begehrt hemmungslos die Frau seines Nächsten. Die Sünde des Ehebruchs ist weit verbreitet; jeder scheint sich daran zu beteiligen.
Kann der HERR etwas anderes tun, als sie zu strafen und sich an einem solchen Volk zu rächen, das Er so gesegnet hat (Vers 9; vgl. 1Thes 4,3–6)? Darin spiegelt sich seine Empörung und Gerechtigkeit wider.
10 - 13 Verleugnung des Werkes des HERRN
10 Ersteigt seine Mauern und zerstört, doch richtet ihn nicht völlig zugrunde; nehmt seine Ranken weg, denn sie sind nicht des HERRN. 11 Denn das Haus Israel und das Haus Juda haben sehr treulos gegen mich gehandelt, spricht der HERR. 12 Sie haben den HERRN verleugnet und gesagt: Er ist nicht; und kein Unglück wird über uns kommen, und Schwert und Hunger werden wir nicht sehen; 13 und die Propheten werden zu Wind werden, und der da redet, ist nicht in ihnen: So wird ihnen geschehen.
Das Gericht muss kommen, aber der HERR wird nicht das ganze Land zugrunde richten (Vers 10). Er ruft die Feinde auf, die Mauern Israels zu ersteigen und sie zu vernichten, aber Er setzt diesem Zerstörungswerk eine Grenze (vgl. Hiob 1,12; 2,6). Ein Überrest muss übrig bleiben. Die Zerstörung betrifft die Ranken, die keine Frucht tragen, das ist die gottlose Masse des Volkes. Es sind Ranken, die keine Verbindung mit dem wahren Weinstock haben (Joh 15,1–6). Statt guter Frucht haben sie schlechte Frucht hervorgebracht (Jes 5,1–7).
Sie haben „sehr treulos gegen“ den HERRN gehandelt (Vers 11). Sie haben nicht nur einmal oder in einem bestimmten Aspekt treulos gehandelt, sondern kontinuierlich und in allen Aspekten ihres Lebens. Es sind auch nicht nur ein paar, die das tun, sondern das ganze Volk, „das Haus Israel und das Haus Juda“.
Das Volk ist blind dafür. Sie sind blind für die Warnungen vor der Züchtigung durch den HERRN. Sie erwarten nicht, dass Er sie züchtigt, und leugnen das Unglück, das ihnen vorausgesagt wird (Vers 12; vgl. Zeph 1,12). Sie urteilen, dass Jeremias Worte von ihm selbst sind und nicht vom HERRN. Für sie ist Jeremia einer, der behauptet, durch den Geist zu reden, dessen Worte aber nichts weiter als Wind sind (Vers 13) [Im Hebräischen bedeutet das Wort ruah sowohl „Geist“ als auch „Wind“.]
Damit leugnet das Volk, dass Jeremia Gottes Worte spricht. Außerdem zeigt es, dass es nicht zwischen Wind und dem wahren Geist der Prophetie unterscheiden kann. Sie sind sogar so dreist zu sagen, dass das Wort des HERRN nicht in Propheten wie Jeremia ist. Sie fügen hinzu, dass die Gerichte, die Propheten wie Jeremia verkünden, auf diese Propheten selbst fallen werden. Sie wünschen sich, dass die Weltuntergangsprediger so umkommen, wie sie predigen, was bedeutet, dass Unglück, Schwert und Hungersnot die Propheten des HERRN treffen werden.
14 - 19 Beschreibung des Gerichts
14 Darum, so spricht der HERR, der Gott der Heerscharen: Weil ihr dieses Wort redet, siehe, so will ich meine Worte in deinem Mund zu Feuer machen und dieses Volk zu Holz, und es soll sie verzehren. 15 Siehe, ich bringe über euch eine Nation aus der Ferne, Haus Israel, spricht der HERR; es ist eine starke Nation, es ist eine Nation von alters her, eine Nation, deren Sprache du nicht kennst und deren Rede du nicht verstehst. 16 Ihr Köcher ist wie ein offenes Grab; sie sind allesamt Helden. 17 Und sie wird deine Ernte verzehren und dein Brot, sie wird deine Söhne und deine Töchter verzehren, sie wird verzehren dein Kleinvieh und deine Rinder, verzehren deinen Weinstock und deinen Feigenbaum; deine festen Städte, auf die du dich verlässt, wird sie mit dem Schwert zerstören. 18 Aber auch in jenen Tagen, spricht der HERR, werde ich euch nicht den Garaus machen. 19 Und es soll geschehen, wenn ihr sagen werdet: „Weshalb hat der HERR, unser Gott, uns dies alles getan?“, so sprich zu ihnen: Wie ihr mich verlassen und fremden Göttern gedient habt in eurem Land, so sollt ihr Fremden dienen in einem Land, das euch nicht gehört.
Der HERR tritt für seinen Knecht ein. Die Worte Jeremias, die sie als Worte des HERRN verleugnen und von denen sie sagen, sie seien nur Wind (Vers 13), werden zu einem Feuer in Jeremias Mund werden (Vers 14). Auch wird Er das Volk zu Holz machen, und sie werden von dem Feuer aus Jeremias Mund verzehrt werden. Was sie für nichts anderes als Wind halten, wird von Gott die Kraft des Feuers erhalten. Der HERR wird seine Worte erfüllen, die durch seine Propheten gesprochen wurden. Er spricht dies als „der Gott der Heerscharen“. Hier sehen wir Ihn wieder in seiner Erhabenheit als Herrscher über alle Heerscharen des Himmels und der Erde.
Er wird „über euch“, das heißt das ganze Volk, einen Feind bringen (Vers 15). Dieser Feind ist „eine Nation aus der Ferne“ (5Mo 28,49a), es ist „eine starke Nation“, „eine Nation von alters her“, die von alters her existiert. Das viermal wiederkehrende Wort „Nation“ weist auf seine Unwiderstehlichkeit hin. Dies bezieht sich auf das babylonische Volk, das von Nimrod gegründet wurde (1Mo 10,10; 11,31). Dieses Volk spricht eine Sprache, die sie nicht verstehen. Sie können nicht mit diesem Volk kommunizieren (5Mo 28,49b; Jes 28,11).
Dieses Volk wird Tod und Verderben über sie bringen (Vers 16; 5Mo 28,50). Gegen ihre Pfeile wird nichts standhalten. Jeder Pfeil, der den Köcher verlässt, wird treffen. Ihr Köcher ist wie ein offenes Grab. „Sie allesamt“, die die Pfeile abschießen, sind „Helden“, durch und durch ausgebildete Soldaten und keine rekrutierten Zivilisten.
Nach dieser Beschreibung der Macht des Feindes schildert Jeremia die Verwüstung, die dieser Feind im Land anrichten wird (Vers 17). Viermal benutzt er das Wort „verzehren“. Es unterstreicht das unausweichliche, schreckliche Schicksal, das Juda erwartet. Nacheinander werden ihnen ihre „Ernte“ und ihr „Brot“, ihre Kinder, „Söhne“ und „Töchter“, ihr „Kleinvieh“ und ihre „Rinder“ sowie ihre Früchte, „Weinstock“ und „Feigenbaum“, genommen (vgl. Jer 3,24). Ihre „festen Städte“, auf die sie sich verlassen, werden mit dem Schwert zerstört. Das Gericht ist total; es kommt über alles und jeden.
Doch die Zerstörung wird nicht vollständig sein (Vers 18; Vers 10; Jer 4,27). Der HERR wird einen Rest übrig lassen. Dieser Überrest wird sich fragen, weshalb der HERR das alles getan hat (Vers 19). Auch sie werden durch Jeremia eine Antwort auf diese Frage erhalten. Er wird ihnen sagen, dass der HERR dies alles über sie gebracht hat, weil sie Ihn verlassen haben und gegangen sind, um fremden Göttern in ihrem Land zu dienen, das Er ihnen gegeben hat. Dadurch haben sie das Land entweiht und es dem HERRN weggenommen.
Es ist eine doppelte Sünde. Die Strafe ist auch doppelt. Der HERR wird dafür sorgen, dass sie auch weggenommen werden und dass sie Fremden dienen müssen. Das Wort „dienen“ beinhaltet völlige Unterwerfung. Sie werden aus ihrem Land in die Gefangenschaft geführt. Im Land der Gefangenschaft werden sie als Sklaven Fremden gehorchen müssen.
20 - 31 Bewusster Aufstand Israels
20 Verkündet dies im Haus Jakob und lasst es hören in Juda und sprecht: 21 Hört doch dies, törichtes Volk ohne Verstand, die Augen haben und nicht sehen, die Ohren haben und nicht hören. 22 Wollt ihr mich nicht fürchten, spricht der HERR, und vor mir nicht zittern? Der ich dem Meer Sand zur Grenze gesetzt habe, eine ewige Schranke, die es nicht überschreiten wird; und es regen sich seine Wogen, aber sie vermögen nichts, und sie brausen, aber überschreiten sie nicht. 23 Aber dieses Volk hat ein störriges und widerspenstiges Herz; sie sind abgewichen und weggegangen. 24 Und sie sprachen nicht in ihrem Herzen: Lasst uns doch den HERRN, unseren Gott, fürchten, der Regen gibt, sowohl Frühregen als Spätregen zu seiner Zeit; der uns die bestimmten Wochen der Ernte einhält. 25 Eure Ungerechtigkeiten haben dies weggewendet und eure Sünden das Gute von euch abgehalten. 26 Denn unter meinem Volk finden sich Gottlose; sie lauern, wie Vogelfänger sich ducken; sie stellen Fallen, fangen Menschen. 27 Wie ein Käfig voll Vögel, so sind ihre Häuser voll Betrug; darum sind sie groß und reich geworden. 28 Sie sind fett, sie sind glatt; ja, sie überschreiten das Maß der Bosheit. Die Rechtssache richten sie nicht, die Rechtssache der Waisen, so dass es ihnen gelingen könnte; und das Recht der Armen entscheiden sie nicht. 29 Sollte ich dies nicht heimsuchen, spricht der HERR, oder sollte an einer Nation wie dieser meine Seele sich nicht rächen? 30 Entsetzliches und Schauderhaftes ist im Land geschehen: 31 Die Propheten weissagen falsch, und die Priester herrschen unter ihrer Leitung, und mein Volk liebt es so. Was aber werdet ihr tun am Ende von [all] dem?
Jeremia soll „im Haus Jakob“ und „in Juda“ verkünden, wie der HERR sie sieht (Vers 20). Der HERR ruft sie auf, die Er ein „törichtes Volk ohne Verstand“ nennt, zu hören (Vers 21). Sie sind ein „törichtes Volk“, weil sie nicht mit Ihm rechnen. Infolgedessen sind sie auch „ohne Verstand“. Sie haben jeglichen Sinn für Vernunft verloren und können sich nicht mehr orientieren, um zu entdecken, was gut und richtig ist.
Der HERR hat ihnen „die Form der Erkenntnis und der Wahrheit in dem Gesetz“ gegeben (Röm 2,20b). Aber sie handeln in jeder Hinsicht dem Gesetz zuwider (Röm 2,17–23). Sie kümmern sich nicht um das, was der HERR von ihnen verlangt. Das liegt nicht an Ihm. Er hat ihnen Augen und Ohren gegeben. Weil sie die nicht benutzt haben, um Ihn anzuschauen und auf Ihn zu hören, sind sie blind und taub geworden (vgl. Hes 12,2). Er ruft sie zwar, um zu ihm zurückzukehren, aber sie hören nicht (vgl. Jes 6,9.10; Mt 13,13–15). Damit sind sie ihren Götzen gleich geworden, denen sie anstelle von Ihm dienen, Götzen, die kein Lebenszeichen von sich geben (Ps 115,5–8).
Der HERR fragt sich erstaunt, warum sie Ihn nicht fürchten und warum sie nicht vor Ihm zittern (Vers 22). Wo ist die Ehrfurcht vor Ihm (vgl. Mal 1,6a)? Schließlich ist Er doch der Ehrfurcht gebietende große Gott? Ihm gegenüber sind sie völlig hilflos.
Doch das Volk hat jeden Sinn für die Größe des HERRN verloren. Er bändigt das Meer und es gehorcht Ihm (Mk 4,37–41; Hiob 38,8–11; Ps 104,9). Er setzt dem Meer eine Grenze. Wie sehr das Meer auch wühlt und tobt, seine mächtige Hand hält es im Zaum, sodass es nichts ausrichten kann und die von ihm gesetzte Grenze nicht überschreiten wird. Das Volk aber lässt sich nicht zügeln und kümmert sich nicht um die Grenzen, die der HERR ihnen in seinem Bund gesetzt hat.
Die Ursache ist „ein störriges und widerspenstiges Herz“ (Vers 23). Infolgedessen überschreiten sie eklatant die moralischen Grenzen Gottes. Sie sind abgewichen von dem guten Weg und haben ihren eigenen verderbten Weg des Götzendienstes eingeschlagen. Der gläubige Überrest wird dies in der Zukunft als ihre Sünde bekennen und darf gleichzeitig feststellen, dass der Herr Jesus dafür die Strafe vonseiten Gottes getragen hat (Jes 53,6).
Es kommt nicht in ihrem Herzen auf, den HERRN, ihren Gott, zu fürchten (Vers 24). Das Herz ist das Zentrum des inneren Lebens und umfasst Gefühl, Wille und Verstand. Deshalb müssen wir unser Herz behüten, indem wir es Ihm übergeben (Spr 4,23; 23,26a). Der HERR nimmt es ihnen übel, dass sie nicht daran denken, Ihn zu fürchten, obwohl es neben den bereits erwähnten Beweisen seiner Allmacht auch so viele Beweise seiner Güte gibt.
Jedes Mal, wenn sie die Erntefeste feiern, sehen sie diese Güte. Er hat den Regen gegeben, „sowohl Frühregen als Spätregen“, sodass die Ernte nicht ausbleibt. Es ist selbst so, dass Er „bestimmte Wochen der Ernte“ (vgl. 2Mo 34,22; 3Mo 23,10.15) eingesetzt und erhalten hat. So ist Er ständig mit ihnen beschäftigt (vgl. Apg 14,17). Doch sie erkennen Ihn nicht als die Quelle des Segens, sondern schreiben seinen Segen den Götzen zu. Was ist das für eine schamlose Beleidigung?
Deshalb kann Er sie nicht weiter segnen. Ihre Ungerechtigkeiten und Sünden blockieren Ihn, dem Volk all diese guten Dinge noch länger zu geben (Vers 25). Es liegt an ihnen selbst und nicht an Ihm. Immer sind es die Ungerechtigkeiten und Sünden des Menschen, die Gott daran hindern, den Segen zu geben, den Er gerne geben möchte. Ungerechtigkeit ist das Verlassen des Weges, den Gott mit dem Menschen gehen will, und Sünde ist das Verfehlen des Ziels, das Gott für den Menschen vorgesehen hat.
Deshalb tut Er alles in seiner Macht Stehende, um diese Blockade zu beseitigen, damit Er segnen kann. In Christus bietet Gott dem Menschen die Möglichkeit, von seinen Ungerechtigkeiten und Sünden befreit zu werden und den Segen zu empfangen, den Er geben will. Die Voraussetzung ist aber, dass sie ihre Sünden bereuen und sich Ihm zuwenden.
Alle Bemühungen des HERRN, sein Volk wieder auf den Weg des Segens zu bringen, wurden von dem Volk mit noch größerer Treulosigkeit beantwortet. Unter seinem Volk sieht Er solche, die wie Gottlose darauf aus sind, andere zu berauben (Vers 26). Wenn sie dann keinen Segen von Gott erhalten, werden sie sich selbst mit Nahrung und Einkommen versorgen. Dazu legen sie sich auf die Lauer und stellen zerstörerische Fallen auf. Ihr Ziel ist es, Menschen zu fangen, um ihnen alles zu rauben, was sie besitzen.
Mit der Beute füllten sie ihre Häuser, wie ein Vogelfänger seinen Käfig mit Vögeln füllt (Vers 27). Aber wie sie ihre Häuser gefüllt haben, das nennt der HERR „Betrug“, weil sie ihren Besitz auf unrechtmäßige, verlogene Weise erlangt haben. Ihre böse Absicht, sich auf Kosten anderer zu bereichern, scheint ihnen gelungen zu sein und durch diese bösartigen Machenschaften sind sie „groß und reich geworden“. Die Ungerechtigkeit hat sie „fett“ und „glatt“ gemacht (Vers 28). Sie schwelgen in ihren geraubten Gütern und lassen es sich hemmungslos gut gehen. Selbstbeherrschung kennen sie nicht.
Sie machen es noch schlimmer als die größten Verbrecher und leben ihr eigenes luxuriöses Leben, ohne sich auch nur im Geringsten um andere zu kümmern. Sie sind erfüllt mit bösen Praktiken. Die sozial Schwachen interessieren sie nicht, es sei denn, um sie auszurauben. Sie kümmern sich nicht um Recht und Gerechtigkeit. Dass sie trotz alledem wohlhabend sind, ist eine erstaunliche Beobachtung. Zahlt sich Sünde doch aus?
Auf diese Frage kommt die unmittelbare Antwort (Vers 29). Der HERR sagt, dass Er sie bestrafen wird. Er sagt dies als Frage. Das macht es umso deutlicher, dass Er keine andere Wahl hat, als sich „an einer Nation wie dieser“ zu rächen. Wir hören hier seine große Abscheu vor ihren Sünden. Es ist ein Volk, das mit dem Mund bekennt, sein Volk zu sein, während es gleichzeitig so viele verwerfliche Taten begeht.
Es ist entsetzlich und schauderhaft, was im Land geschieht (Vers 30; vgl. Hos 6,10). Der HERR ist entsetzt. Propheten, Priester und das ganze Volk haben sich von Ihm abgewandt (Vers 31). Diejenigen, die für das geistliche Wohl des Volkes sorgen sollen, denken nur an sich selbst. Die Propheten prophezeien Lügen, um in der Gunst des Volkes zu bleiben und um Geld für ihr schönes Geschwätz zu kassieren. Die Priester machen mit und stecken auch ihren Teil des Geldes ein.
Das Volk ist nicht weniger schuldig, denn sie sind nur zu froh, solche Führer zu haben, die ihnen nur schöne Reden präsentieren, während ihr Gewissen davon nicht betroffen ist (vgl. 2Tim 4,3.4). Sie mögen keine Propheten, die an ihr Gewissen appellieren. Sie lieben ihre falsche Sicherheit. Alle stehen schuldig vor Gott. Die Frage ist, was sie tun werden, wenn das Ende kommt. Dann wird sich zeigen, was das Gerede der falschen Führer wert war und was die falsche Sicherheit hervorgebracht hat.