1 - 4 Aufruf zur wahrhaftigen Reue
1 Wenn du umkehrst, Israel, spricht der HERR, zu mir umkehrst, und wenn du deine Scheusale von meinem Angesicht wegtust und nicht [mehr] umherschweifst, 2 sondern schwörst: „[So wahr] der HERR lebt!“, in Wahrheit, in Recht und in Gerechtigkeit, so werden die Nationen sich in ihm segnen und sich seiner rühmen. 3 Denn so spricht der HERR zu den Männern von Juda und in Jerusalem: Pflügt euch einen Neubruch, und sät nicht unter die Dornen. 4 Beschneidet euch für den HERRN und tut die Vorhäute eurer Herzen weg, ihr Männer von Juda und ihr Bewohner von Jerusalem, damit mein Grimm nicht wie ein Feuer ausbreche und unauslöschlich brenne wegen der Bosheit eurer Handlungen.
Der HERR sehnt sich danach, dass sein Volk umkehrt und zwar zu Ihm (Vers 1). Jemand kann von bestimmten Sünden umkehren, weil er sieht, dass sie für sein (geistliches) Leben schädlich sind oder dass bestimmte Sünden nicht den erwarteten Nutzen bringen. Dann werden diese Sünden aufgegeben, aber es gibt keine echte Umkehr. Echte Umkehr gibt es nur, wenn diese Sünden Gott bekannt werden und eine Umkehr zu Ihm erfolgt.
Der HERR hält seinem Volk vor, was Er von ihnen erwartet, wenn sie sich zu Ihm bekehren. Er kann ihre Bekehrung nur dann als echt anerkennen, wenn sie die abscheulichen Götzen vor seinem Angesicht wegtun und aufhören, ruhelos von einem Götzen zum anderen umherzuschweifen. Das bedeutet eine gründliche Reinigung von Stadt und Land, sodass kein einziges Götzenbild und keine einzige götzendienerische Opferstätte mehr zu finden sein wird. Es ist nicht möglich, mit Gott zu wandeln und gleichzeitig weiter zu sündigen oder gar eine Verführung zum Sündigen zuzulassen.
„Umherschweifst“ bedeutet, nirgendwo Ruhe zu finden. Kain ging nach dem Mord an seinem Bruder hin, um „unstet und flüchtig“ auf der Erde zu sein (1Mo 4,14). Darin ist er ein Bild für das jüdische Volk, das nach dem Mord an dem Herrn Jesus „unstet und flüchtig“ auf der Erde ist. Es gibt keinen Halt, sondern sie werden gleichsam „hin und her geworfen und umhergetrieben von jedem Wind der Lehre“ (Eph 4,14). Der Götzendienst, der seinen Höhepunkt in der Anbetung des Tieres findet, zu der sie durch die dämonische Verführung des Antichristen gebracht werden, ist daher ein zutiefst abscheulicher Dienst.
Wenn es sich herausstellt, dass ihre Bekehrung eine aufrichtige Sache ihres Herzens ist und sie den Eid halten, den sie bei seinem Namen geschworen haben, dann wird das ein Zeugnis sein für die Nationen um sie herum (Vers 2). Bei dem Namen des HERRN zu schwören bedeutet, dass sie Ihn als HERRN anerkennen, als den Gott, mit dem sie in einer Bundesbeziehung stehen. Das allein bringt sie dazu, Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit zu üben. Sie werden dann aufrichtig, ehrlich und vertrauenswürdig sein. Als Folge davon werden sich auch die Nationen danach sehnen, mit dem HERRN verbunden zu sein. Daraus werden sie den Segen erfahren und Ihm die Ehre geben. Sie rühmen dann nicht mehr sich selbst, sondern Ihn.
Jeremia zeigt die Notwendigkeit der geistlichen Erneuerung des Volkes auf. Die Männer von Juda und besonders die von Jerusalem werden zur Rechenschaft gezogen (Vers 3). Er ermahnt sie, ihren brachliegenden Boden oder ihre nichtgepflügten Herzen zu bearbeiten. Der Pflug der Buße und des Gehorsams muss durch das Gewissen gehen, um den Samen des Wortes aufnehmen zu können. Kein Bauer sät in nichtgepflügtes Land. So sät Gott den Samen seines Segens nicht in unbekehrte Herzen.
Nichtgepflügtes Land ist Brachland. Es ist Land, auf dem sich nichts tut. Das Land liegt brach, aber es wächst dort auch nichts. Dieses Land muss bearbeitet werden, man muss sich anstrengen, um es zu fruchtbarem Land zu machen (vgl. Hos 10,12). So ist es auch mit den Gaben, die jeder Gläubige vom Herrn erhalten hat. Sie dürfen nicht ungenutzt bleiben, sondern sollen eingesetzt werden, damit es Frucht gibt (vgl. Kol 4,17).
Alles, was Fruchtbringen verhindert, nämlich die „Dornen“, muss entfernt werden, anderenfalls dürfen gute Früchte dort nicht angebaut werden. Wenn es unter den Dornen landet, bringt es keine Frucht (Mt 13,7.22). Dornen sind eng mit der Sünde verbunden, sie sind die Folge von ihr (1Mo 3,18a). Sünde im Leben eines Gläubigen hindert ihn daran, für Gott Frucht zu bringen.
Sobald gepflügt ist und das Land nicht mehr brach liegt, ist es für die Aussaat geeignet. Aber dann können auch die Dornen anfangen zu wachsen. Sie wachsen meist schneller als die gute Saat. Deshalb „sät nicht unter die Dornen“, sondern außerhalb der Reichweite der Dornen. Das ist es, wozu das Volk aufgerufen ist. Es beinhaltet die Lehre für uns, dass wir uns von den Sorgen der Welt und den Verlockungen des Reichtums fernhalten sollen (Mt 13,22).
Um das Ergebnis von Vers 3 zu erreichen, muss die Bedingung von Vers 4 erfüllt werden. Jetzt benutzt Jeremia das Bild der Beschneidung. Bevor wir so arbeiten können, dass aus unserem Leben Frucht hervorkommt, muss etwas in unseren Herzen geschehen. Der äußere Schein muss durch die innere Wirklichkeit ersetzt werden (vgl. 5Mo 10,16; Röm 2,28.29). Das bedeutet Selbstgericht, wovon die Beschneidung ein Bild ist. Wenn das nicht da ist, wird Gott richten müssen, denn wenn es kein Selbstgericht gibt, wird es nur „die Bosheit eurer Handlungen“ geben, über die Gottes Gericht kommen wird.
5 - 18 Der Feind ist auf dem Weg
5 Verkündigt [es] in Juda und lasst [es] in Jerusalem vernehmen und sprecht: „Stoßt in die Posaune im Land!“ Ruft aus voller Kehle und sprecht: „Versammelt euch und lasst uns in die festen Städte ziehen!“ 6 Erhebt ein Banner gegen Zion hin; flüchtet, bleibt nicht stehen! Denn ich bringe Unglück von Norden her und große Zerschmetterung. 7 Ein Löwe steigt herauf aus seinem Dickicht, und ein Verderber der Nationen bricht auf; er zieht von seinem Ort aus, um dein Land zur Wüste zu machen, dass deine Städte zerstört werden, ohne Bewohner. 8 Darum gürtet euch Sacktuch um, klagt und jammert! Denn die Zornglut des HERRN hat sich nicht von uns abgewandt. 9 Und es wird geschehen an jenem Tag, spricht der HERR, da wird das Herz des Königs und das Herz der Fürsten vergehen; und die Priester werden sich entsetzen und die Propheten erstarrt sein. 10 Da sprach ich: Ach, Herr, HERR! Gewiss, getäuscht hast du dieses Volk und Jerusalem, als du sprachst: „Ihr werdet Frieden haben“; und das Schwert dringt bis an die Seele! 11 In jener Zeit wird diesem Volk und Jerusalem gesagt werden: Ein scharfer Wind von den kahlen Höhen in der Wüste ist auf dem Weg zur Tochter meines Volkes, nicht zum Worfeln und nicht zum Säubern. 12 Ein Wind, zu voll dazu, wird mir kommen. Nun will auch ich Gerichte über sie aussprechen. 13 Siehe, wie Wolken zieht er herauf, und wie der Sturmwind sind seine Wagen, schneller als Adler seine Rosse. 14 Wehe uns, denn wir sind verwüstet! Wasche dein Herz rein von Bosheit, Jerusalem, damit du gerettet wirst! Wie lange sollen deine heillosen Pläne in deinem Innern weilen? 15 Denn eine Stimme berichtet von Dan und verkündet Unheil vom Gebirge Ephraim her. 16 Meldet es den Nationen, siehe, verkündet es Jerusalem: Belagerer kommen aus fernem Land und lassen ihre Stimme erschallen gegen die Städte Judas; 17 wie Feldwächter sind sie ringsumher gegen Jerusalem, denn gegen mich ist es widerspenstig gewesen, spricht der HERR. 18 Dein Weg und deine Handlungen haben dir dies bewirkt; dies ist deine Bosheit; ja, es ist bitter, ja, es dringt bis an dein Herz.
Der HERR muss das Gericht kommen lassen, das Gericht steht kurz bevor. Es wird aus dem Norden kommen, woher die Babylonier kommen. Das Volk hat sich so sehr verdorben, dass Gott das Gericht nicht länger hinauszögern kann. In seiner Gnade lässt Er sein Volk warnen, dass das Unglück kommt. Zu diesem Zweck ruft Er zum Blasen der Posaune auf (Vers 5; Hos 5,8; Joel 2,1; Amos 3,6). Es soll auch ein lautes Geschrei ertönen, was anzeigt, dass Eile geboten ist. Dann können sich die Bewohner von Juda und Jerusalem versammeln und gemeinsam zu den festen Städten gehen.
Ein Banner, das gegen Zion hin erhoben werden soll (Vers 6), scheint in erster Linie für die Bewohner der Ebene gedacht zu sein. Das Banner dient dazu, ihnen zu zeigen, in welche Richtung sie gehen müssen, um nach Zion zu gelangen. Dorthin werden sie sich in Sicherheit bringen können. Sie sollen versuchen, dort schnell und sicher hinzugelangen, ohne sich von irgendetwas aufhalten zu lassen (vgl. 1Mo 19,16.17; Mt 24,15–18). Das Unglück kommt „von Norden“ her. Das bedeutet, dass der Feind von Norden her in Israel eindringen wird. Aber es ist der HERR selbst, der dieses Unglück aus dem Norden bringt. Er bringt diese große Zerstörung über sein Volk.
Es ist Eile geboten, denn der Feind Nebukadnezar, der hier mit einem Löwen verglichen wird, ist bereits von „seinem Ort aus“, das ist Babel, gegen Gottes Volk ausgezogen (Vers 7; Jer 50,17). Dass er „aus seinem Dickicht“ heraufgestiegen ist, deutet darauf hin, dass er sich unerwartet mit großer Wucht auf seine Beute stürzt. Das Land, „dein Land“, wird von ihm total verwüstet werden, und die Städte, „deine Städte“, werden ausgelöscht werden, niemand wird in ihnen wohnen. Die Beschreibung verdeutlicht, wie total die Verwüstung und Zerstörung sein wird.
Der HERR hält seinem Volk auch vor, was Er als angemessene Reaktion von ihnen erwartet, wenn sie erfahren, dass das Gericht unvermeidlich ist (Vers 8). Sie sollen sich Sacktuch umgürten, Reue zeigen und wehklagen. Jeremia macht sich wieder mit dem Volk eins, wenn er sagt, dass die Zornglut des HERRN „sich nicht von uns abgewandt“ hat. Die Ursache dafür ist, dass sich das Volk nicht vom Götzendienst abwendet. Auch Jeremia ist sich dessen wohl bewusst. Er hat den Zorn des HERRN angekündigt, kann sich aber nicht freuen, als er tatsächlich kommt. Er leidet zusammen mit dem Volk.
Wenn der Zorn des HERRN kommt, wird er alle Führer des Volkes tief treffen (Vers 9). Der König Zedekia und die Fürsten, die politischen Führer, werden allen Mut verlieren. Die Priester werden sich entsetzen und die Propheten werden erstarrt sein. Sie haben das Volk dazu gebracht, an Lügen zu glauben und selbst haben sie auch daran geglaubt. Jetzt, wo sie mit der Realität konfrontiert werden, ist von ihrer Lügensprache nichts mehr übrig. Sie können dem Volk keine Unterstützung bieten.
Die einzige Reaktion, die wir hören, ist die von Jeremia (Vers 10). Er unterbricht seine Predigt, um seine Gefühle auszudrücken. Er ist tief betroffen von der Botschaft, die er zu überbringen hat. Seine große Liebe zu seinem Volk, Gottes Volk, bringt ihn sogar dazu, Gott der Lüge zu bezichtigen, indem Er von Frieden spricht. Es scheint, dass Jeremia den HERRN dafür tadelt, dass Er es zugelassen hat, dass die falschen Propheten von Frieden und Sicherheit sprechen und dass das Volk ihnen Glauben schenkt (vgl. Jer 23,17). Das Gegenteil geschieht, denn „das Schwert dringt bis an die Seele“. Das bedeutet, dass sie völlig in der Macht des Feindes sind und keinen Ausweg mehr haben.
Der Herr hat Jeremias Anklage gehört und sie aufschreiben lassen. Er schätzt seine Teilnahme und seine Betroffenheit, geht aber nicht darauf ein. Jeremia geht es ähnlich wie Mose und Paulus, die ebenfalls Aussagen aus Liebe zu Gottes Volk machten, worauf Gott ebenfalls nicht reagierte (2Mo 32,32; Röm 9,1–3). Daraus lernen wir, dass wir nicht unseren Emotionen folgen sollen, sondern Gottes Gedanken und Gefühlen anhand seines Wortes unter der Leitung des Geistes.
Der HERR fährt fort mit seiner Ankündigung des Gerichts über das Volk und besonders über Jerusalem (Vers 11). Der Feind wird kommen wie „ein scharfer Wind von den kahlen Höhen in der Wüste“, der alle Vegetation verdorren lässt. Dieser Wind kommt auf Gottes Volk zu, das „die Tochter meines Volkes“ genannt wird, um seine innige Beziehung deutlich zu machen. Das Gericht, das Er senden muss, ist auch für Ihn eine schmerzliche Sache.
Seine Zucht ist „nicht zum Worfeln und nicht zum Säubern“. Das Worfeln und Säubern geschieht, um das Gute, das vorhanden ist, von den falschen Elementen zu befreien. Unter Gottes Volk gibt es jedoch nichts, was gut ist, also gibt es auch nichts, was man worfeln und säubern könnte. Alles fällt unter das Gericht.
Der Wind des Gerichts wird vom HERRN selbst geschickt (Vers 12). Er sendet einen Sturmwind (Vers 13), der alles mitnimmt, was ihm begegnet. Er ist der Richter, der das Urteil verkündet und die Strafe vollstreckt. Dies geschieht, weil die Sünde mit allen erdenklichen Beweisen aufgezeigt wurde. Es gibt keine Gegenargumente und deshalb gibt es auch keine mildernden Umstände.
Der Feind kommt herauf wie Wolken, die den Himmel verdunkeln (Vers 13; vgl. Hes 38,16a). Er kommt mit Streitwagen, die die Geschwindigkeit eines Wirbelsturms haben. Die Rosse, die sie ziehen, sind sogar schneller als Adler. Dies beschreibt die Ankunft der Armeen Babels, mit Streitwagen und Schlachtrössern. Die Ankunft des Feindes geschieht so schnell, dass das Volk völlig überrumpelt wird und nur noch ausrufen kann: „Wehe uns, denn wir sind verwüstet!“
Die Drohung durch das Kommen des Feindes müsste das Volk eigentlich veranlassen, das Böse in ihren Herzen abzuwaschen (Vers 14). Es ist das Herz, in dem das Ränkespiel des Bösen stattfindet. Von dort kommen die „bösen Gedanken“ (Mt 15,19). Dieses Böse kann nur durch Bekenntnis und Reue abgewaschen werden. Wenn sie das tun, können sie erlöst werden. Das ist der Wunsch des HERRN. Aber Er kennt ihre Herzen. Er weiß, dass die sündigen Gedanken in ihrem Innersten wohnen, dass sie dort nächtigen und eine Ruhestätte haben.
Deshalb geht die Gerichtsankündigung weiter und der HERR gebietet dem Feind keinen Einhalt (Vers 15). Es kommt die Nachricht, dass der Feind bereits in das Land eingedrungen ist und sich in Dan befindet. Der Stamm Dan liegt im äußersten Norden Israels. Der Prophet stellt es so dar, als ob es bereits geschehen wäre. Der Stamm Dan bekommt es zuerst mit den einfallenden Heeren Babels zu tun und lässt die Nachricht davon in Jerusalem hören. Diese Botschaft wird durch eine schlechte Nachricht vom Unheil in Ephraim ergänzt. Ephraim liegt schon viel näher an Juda und Jerusalem. Die Schilderung zeigt den schnellen Vormarsch der Heere Babels auf Jerusalem.
Das Herannahen des Feindes soll „den Nationen“ gemeldet werden (Vers 16). Damit können die Stämme Israels gemeint sein (5Mo 33,3). Es können aber auch die umliegenden Nationen gemeint sein, die sich ebenfalls mit dem anrückenden König von Babel auseinandersetzen müssen. Die „Belagerer … aus fernem Land“ sind die Babylonier (Jes 39,3). Jeremia deutet an, dass sie bereits so nahe sind, dass die Stimme des Feindes in den Städten Judas zu hören ist.
Noch einmal wird der Anlass dieses Angriffs aus dem Norden deutlich genannt (Vers 17). Die Belagerer haben die Stadt umzingelt – Jeremia stellt es so dar, als ob sie schon da wären –, so wie Wächter ein Feld umzingeln, um zu verhindern, dass die wilden Tiere darauf kommen, um das Feld kahlzufressen. Feldwächter schließen ein Feld hermetisch ab. Das ist es, was die Belagerer mit Jerusalem machen. Die Taktik des Feindes ist es, zuerst das Land und die Dörfer und Städte um Jerusalem herum zu besetzen, damit die Versorgung der Stadt abgeschnitten wird und sie belagert werden kann.
Diese Situation ist die Folge ihres Ungehorsams gegenüber dem HERRN. Hätte es Glauben gegeben, hätte ein einzelner Mann den Feind aufhalten können (2Sam 23,11.12). Aber Sünde macht schwach. Das Volk war dem HERRN ungehorsam auf ihren Wegen und in ihren Taten (Vers 18). Das waren keine oberflächlichen Abweichungen, sondern sie sitzen tief im Herzen. Darum müssen die Gerichte das Herz treffen.
19 - 22 Der Seelenkampf Jeremias
19 Meine Eingeweide, meine Eingeweide! Mir ist angst! Die Wände meines Herzens! Es tobt [in] mir mein Herz! Ich kann nicht schweigen! Denn du, meine Seele, hörst den Schall der Posaune, Kriegsgeschrei: 20 Zerstörung über Zerstörung wird ausgerufen. Denn das ganze Land ist verwüstet; plötzlich sind meine Zelte zerstört, meine Zeltbehänge in einem Augenblick. 21 Wie lange soll ich das Banner sehen, den Schall der Posaune hören? 22 Denn mein Volk ist närrisch, mich kennen sie nicht; törichte Kinder sind sie und unverständig. Weise sind sie, Böses zu tun; aber Gutes zu tun, verstehen sie nicht.
Jeremia ist von seiner Botschaft tief getroffen (Vers 19). Er durchlebt, was er predigt. Er realisiert das Gewicht der Worte und wird davon niedergedrückt. Es dringt tief in sein Innerstes. Seine Eingeweide werden unruhig und „sein Herz tobt“ beim Anblick des Elends, das kommen wird. Es ist für ihn unmöglich, darüber zu schweigen. Er muss es weitergeben, um zu warnen. Er hört den Schall der Posaune und das Kriegsgeschrei der feindlichen Heere. So macht er sich eins mit dem Volk, dem Überrest, in dem der Geist Christi ist. Er ist sehr gebeugt über den bösen Zustand des Volkes und erfährt den Zorn Gottes darüber. Er repräsentiert die Stimme des treuen Überrestes. Es ist die Sprache des Buches der Psalmen.
Im Geist sieht er, wie Zerstörung auf Zerstörung folgt (Vers 20). Es gibt Meldungen über eine Zerstörung nach der anderen, genau wie die Boten, die nacheinander zu Hiob kommen. Der eine ist noch nicht fertig damit, ihm von dem Unglück zu berichten, da kommt schon der nächste mit einer neuen Unglücksbotschaft (Hiob 1,13–19). Das ganze Land wird durch den Feind verwüstet. In einem Augenblick ist jegliches Familienleben in Zelten unmöglich geworden, weil die Zelte zerstört worden sind. Jeremia spricht von „meinen Zelten“, so sehr macht er sich eins mit dem Volk. Er denkt sich vollständig in die herannahenden Schrecken hinein.
Er fragt den HERRN, wie lange er zusehen soll, dass der Feind das Sagen hat (Vers 21). Die Frage „wie lange“ ist auch in den Psalmen üblich. Sein Leiden zeigt eine tiefe Vaterlandsliebe, die niemand so fühlt wie er. Gemeinschaft mit Gott und Gehorsam in seinem Dienst vertiefen immer das Mitgefühl des Dieners. Wie kann dieser Mann, dem das Schicksal seines Volkes so sehr am Herzen liegt, später des Verrats bezichtigt werden?
Der HERR antwortet ihm, dass die Ursache für all dieses Elend bei „meinem Volk“ liegt (Vers 22). Auch hier hören wir den Schmerz im Herzen des HERRN. Obwohl sie sein Volk sind, kennen sie ihn nicht. „Kennen“ bedeutet hier, ein Leben in Gemeinschaft mit Ihm zu führen und in Liebe und Vertrauen Ihm zu begegnen. Doch Er muss von ihnen sagen, dass sie „törichte Kinder“ sind, die leben, ohne zu verstehen, wer Er ist und wer sie selbst sind (vgl. Spr 1,7). Sie wissen gut, wie man Böses tut, sie sind sogar „weise“ darin, aber sie sind unfähig, Gutes zu tun, das „verstehen sie nicht“.
Der HERR erwartet von uns, dass wir „weise sind zum Guten, aber einfältig zum Bösen“ (Röm 16,19b). Wir dürfen in unseren Herzen und in unserem Leben das Gute und das Böse nicht vertauschen und nicht miteinander vermischen (Jes 5,20).
23 - 26 Die kosmische Katastrophe
23 Ich schaue die Erde an, und siehe, sie ist wüst und leer; und zum Himmel, und sein Licht ist nicht da. 24 Ich schaue die Berge an, und siehe, sie beben; und alle Hügel schwanken. 25 Ich schaue, und siehe, kein Mensch ist da; und alle Vögel des Himmels sind geflohen. 26 Ich schaue, und siehe, der Karmel ist eine Wüste; und alle seine Städte sind niedergerissen vor dem HERRN, vor der Glut seines Zorns.
Jeremia sieht im Geist die Folgen der Ankunft des Feindes. Er sieht Gottes Gericht sozusagen wie eine kosmische Katastrophe, die das Land „wüst und leer“ (Vers 23) machen wird, wie die Erde war, bevor Gott begann, sie zu formen und zu füllen (1Mo 1,2). Am Himmel fehlt das Licht. Was für Festigkeit und Stabilität steht, „Berge“ und „alle Hügel“, sie schwanken hin und her (Vers 24). Es ist kein lebendiges Wesen mehr zu sehen (Vers 25). Es ist auch kein Wachstum mehr zu sehen, denn das fruchtbare Land ist zur Wüste geworden und die Versammlungsstätten der Menschen, die Städte, sind niedergerissen (Vers 26).
Die Beschreibung ist anschaulich, einfach, direkt, breit in den Bezügen und ernst im Inhalt. Dies sind einzigartige Verse. Der Prophet wird vom Geist geführt, um Zeuge dieser kosmischen Katastrophe zu werden. Viermal heißt es: „Ich schaue“. Es bezieht sich auf den kommenden Tag des HERRN. Die ganze Natur wird umgestürzt werden und kein Element davon wird unberührt bleiben (vgl. Off 16,17–21).
Wenn wir glauben sollten, dass dies durch das Werk des Feindes geschieht, hören wir plötzlich, dass es „vor dem HERRN, vor der Glut seines Zorns“ geschah. Hinter dem Werk des Feindes steht die Hand des HERRN.
27 - 31 Die Verwüstung des Landes
27 Denn so spricht der HERR: Das ganze Land soll eine Wüste werden; doch will ich es nicht völlig zerstören. 28 Darum wird die Erde trauern und der Himmel oben schwarz werden, weil ich es geredet, beschlossen habe; und ich werde es nicht bereuen und nicht davon abgehen. 29 Vor dem Geschrei der Reiter und der Bogenschützen flieht jede Stadt; sie gehen ins Dickicht und ersteigen die Felsen. Jede Stadt ist verlassen, und kein Mensch wohnt darin. 30 Und du, Verwüstete, was wirst du tun? Wenn du dich auch in Karmesin kleidest, wenn du mit goldenem Geschmeide dich schmückst, wenn du deine Augen mit Schminke aufreißt: Vergeblich machst du dich schön. Die Liebhaber verschmähen dich, sie trachten nach deinem Leben. 31 Denn ich höre eine Stimme wie von einer Kreißenden, Angst wie von einer Erstgebärenden, die Stimme der Tochter Zion; sie seufzt, sie breitet ihre Hände aus: Wehe mir! Denn kraftlos erliegt meine Seele den Mördern.
Weil der HERR selbst dieses Gericht ausführt, ist das zugleich die Garantie, dass Er dessen Grenze bestimmt, die nicht überschritten wird (Vers 27). Das bietet die Aussicht auf eine gewisse Hoffnung, die Hoffnung auf einen Überrest. Der Feind will nichts von Gottes Volk übrig lassen, aber der HERR wird dafür sorgen, dass es nicht zu einer völligen Zerstörung des Landes kommt.
Doch die Erde wird trauern wegen der Katastrophen, die über sie kommen werden (Vers 28). Und sie werden kommen. Der HERR bestätigt dies auf das Kräftigste mit einer vierfachen Beschwörung:
1. „Weil ich es geredet,
2. beschlossen habe;
3. und ich werde es nicht bereuen
4. und nicht davon abgehen.“
Wenn in der Stadt das Geschrei der herannahenden Reiter und Bogenschützen zu hören ist, wird jeder aus der Stadt fliehen (Vers 29). Sie alle suchen Zuflucht außerhalb der Stadt, im Dickicht oder auf den Felsen. Auf diese Weise wollen sie versuchen, sich vor dem Zorn Gottes zu verstecken (vgl. Off 6,15.16). Wenn der Feind nach Jerusalem kommt, sind alle anderen Städte Judas bereits verlassen, kein Mensch wohnt mehr in ihnen.
Dann wendet sich der HERR an die verwüstete Stadt und fragt mit Ironie in seiner Stimme, was sie nun tun wird (Vers 30). Er kann ihr sagen, dass alles, was sie tut, um sich schön zu machen, um für die Feinde seines Volkes attraktiv zu sein, keine Wirkung haben wird. Sie will wie eine Hure aussehen und denkt, dass sie auf diese Weise das Gericht abwenden kann. Ihre aufreizende Kleidung, ihr attraktiver Schmuck und ihre geschminkten Augen – wörtlich heißt es, dass sie ihre Augen mit Farbe vergrößert – werden das Gegenteil bewirken (vgl. 2Kön 9,30; Hes 16,26–29; 23,40.41).
Ihre Liebhaber werden sie ablehnen und ihr das Leben unmöglich machen. Sie hat jede Attraktivität verloren und wird als wertlos verworfen. So ergeht es jedem, der voller Eigenliebe ist und meint, für andere attraktiv zu sein, sich aber nicht fragt, wie Gott ihn sieht.
Jeremia hört das Geräusch einer Frau in Geburtswehen bei ihrem ersten Kind (Vers 31). Der Schmerz, den dies verursacht, ist ein Bild für das, was das Gericht bringt. Geburtswehen bergen gleichzeitig die Verheißung von neuem Leben in sich. Jeremia hört hier, wie Zion nach Atem ringt und ihre Hände ausstreckt, um Hilfe zu empfangen. Die treulose Frau, die Hure, muss eine Frau wie in Geburtswehen werden. Die Mörder, die über sie herfallen, müssen sie peinigen, damit sie mit Reue über ihre Sünden zum HERRN zurückfinden, um neues Leben zu empfangen. Der Ausruf „Wehe mir!“ ist der Anfang davon.