Einleitung
In diesem Kapitel wird der Bericht über den Wiederaufbau der Mauer für einen Augenblick unterbrochen, um kurz bei der internen Situation stehen zu bleiben. Nicht das gemeinsame Auftreten des Volkes gegenüber dem Feind von außen steht hier vor unserem Blick, sondern das Verhalten der Volksgenossen untereinander, oder besser gesagt, das Fehlverhalten. Dieses Kapitel enthält die Warnung, dass es möglich ist, eifrig in der Absonderung von schädlichen Lehren und falschen religiösen Verbindungen zu sein und zugleich Missstände innerhalb der eigenen Reihen fortbestehen zu lassen.
Der Feind ist unermüdlich darin, das Werk Gottes anzugreifen. Wenn es ihm nicht gelingt, das Volk von außen anzugreifen, sucht er andere Wege. In diesem Kapitel kommt der Feind nicht mit einem Angriff von außen. Wir hören nichts von den Feinden, die bisher eine so vorrangige Rolle gespielt haben. Diese Art Handlanger muss der große Feind, unter dessen Leitung alle Angriffe auf Gottes Volk und Gottes Werk geschehen, in diesem Fall auch nicht einsetzen. Er sieht mit Vergnügen, wie dort ein innerer Kampf entsteht. Der Verbündete des Feindes ist hier das Gefühl der Unzufriedenheit, das unter dem Volk herrscht.
1 Unfriede unter dem Volk
1 Und es entstand ein großes Geschrei des Volkes und ihrer Frauen gegen ihre Brüder, die Juden.
Die guten Eigenschaften, die im vorigen Kapitel vorhanden sind, können nicht verhindern, dass das unter der Oberfläche versteckte Unrecht zum Vorschein kommt. Unter dem Befehl Nehemias ist eine kräftige Haltung gegen den Feind von außen eingenommen worden, aber zugleich wuchert im Inneren das Übel der egoistischen Unterdrückung. Die Mauer der Absonderung von der Welt verhindert nicht, dass der Geist des Eigennutzes Besitz von denen nimmt, die innerhalb der Mauer wohnen. Wo eigene Interessen verfolgt werden, ist das immer zum Schaden und zur Verarmung von anderen.
Diese Missstände unter dem Volk sind auch ein effektives Mittel, um das Werk zu verhindern. Führer und Edle legen den Armen des Volkes Lasten auf. Während andere Vornehme das Werk anderen überlassen (Neh 3,5), setzen diese Führer und Edle noch eins obendrauf. Sie helfen nicht nur selbst nicht mit, sondern machen dabei auch noch die Arbeit für andere schwerer. Der Gegensatz zwischen Arm und Reich wird zu einer Sache, durch die Spaltung unter dem Volk droht.
Soziale Fragen können auch heute die Gemeinde lähmen. Als die Gemeinde gerade entstanden ist, teilt man alles miteinander (Apg 4,32–36). Aber schon bald ist die Rede von „Murren der Hellenisten gegen die Hebräer“ (Apg 6,1). Der Unfriede dort wird durch einen weisen Beschluss der Apostel weggenommen. Sie schlagen vor, dass Männer kommen sollen „von gutem Zeugnis, voll [Heiligen] Geistes und Weisheit“ (Apg 6,3). Solche Männer sind auch heute nötig, wenn, aus welchem Grund auch immer, Unfriede unter dem Volk Gottes ist.
Die Wurzel des Bösen ist, dass die Reichen nicht daran denken, dass die Armen ihre Brüder sind. In den brüderlichen Beziehungen gibt es keine Liebe mehr zu den Bedürftigen, sondern im Gegenteil Ausbeutung (1Joh 3,17; Jak 2,15–17).
Es ist eine zutiefst traurige Sache, dass unter denen, die sich rühmen, zu der göttlichen Grundlage zurückgekehrt zu sein, solche Missstände vorkommen. Das gilt sowohl im buchstäblichen Sinn für Israel als auch im geistlichen Sinn für die, die bekennen, als Gemeinde zusammen zu kommen.
2 Die Not, am Leben zu bleiben
2 Und es gab [solche], die sprachen: Unsere Söhne und unsere Töchter, wir sind viele; und wir müssen Getreide erhalten, damit wir essen und leben!
Der Schrei der Unterdrückten ist ein Ruf zu Gott um Gerechtigkeit (Jak 5,1–6). Gott verschafft ihnen durch Nehemia ihr Recht (Vers 6), der auch ihr Rufen gehört hat. Gott sieht die „Tränen der Bedrückten“ (Pred 4,1).
In den Versen 2–5 hören wir drei Klagen, die von drei verschiedenen Gruppen geäußert werden:
1. Die erste Klage betrifft einen Mangel an Nahrungsmitteln (Vers 2).
2. Die zweite Klage betrifft den Verlust von Eigentum, durch den Tausch gegen Nahrung (Vers 3).
3. Die dritte Klage bezieht sich auf den Verlust von Besitz, um damit Abgaben bezahlen zu können (Vers 4).
Vers 5 ist eine Zusammenfassung von dem Leid, das man erlebt.
Es ist etwas sehr Gutes, dass es unter dem Volk Familien mit vielen Söhnen und Töchtern gibt. Ein Volk ohne Söhne und Töchter stirbt aus. Aber wenn diese Söhne und Töchter kein Essen bekommen, stirbt das Volk auch aus. Das ist die Gefahr, die hier droht. Das Land ist übervölkert durch die zurückgekehrten großen Familien. Dadurch gibt es nicht für alle genug zu essen. Hat das Land zu wenig eingebracht? Vielleicht sind die Felder nicht versorgt worden, unter anderem wegen des begeisterten Bauens an der Mauer, sodass es keinen Ertrag gibt.
Es muss gearbeitet und gekämpft werden, aber es muss auch an den Ackerbau gedacht werden. Arbeiten und kämpfen kann man nur, wenn man sich regelmäßig von dem Ertrag des Landes ernährt. Für uns bedeutet das, dass wir uns die nötige Zeit nehmen, um uns mit Gottes Wort und seiner reichen Frucht zu ernähren.
Glücklicherweise gibt es noch Christen, die sich neben ihrem normalen Tageswerk für die Gemeinde einsetzen. Sie sind oft auch abends von zu Hause und ihrer Familie weg. Die Schattenseite ist, dass Frau und Kinder dadurch weniger Aufmerksamkeit bekommen als in einer „normalen“ Familie. Es wird viel in andere Familien investiert. Das ist auch notwendig, aber es gibt Grenzen. Diese Arbeit für den Herrn, dieser Kampf, der gekämpft werden muss, darf nicht auf Kosten der eigenen Familie sein. In solchen Situationen besteht die Gefahr, dass die, die zu Hause bleiben, verhungern.
Das Klagen beginnt. Zuerst, das ist zu hoffen, gegen den so oft abwesenden Mann und Vater. Wenn der, was nicht zu hoffen ist, nicht zuhört, suchen Frau und Kinder woanders ein offenes Ohr. Es ist gut, wenn sie das bei Menschen wie Nehemia tun. Leider gibt es solche nicht immer oder sie werden nicht aufgesucht und man sucht sein Heil bei anderen, die die Situation ausnutzen. Es entsteht ein Bruch zwischen dem Mann und seiner Frau und Kindern, ein Bruch, der nicht leicht geheilt wird.
3 Besitzungen verpfänden
3 Und es gab [solche], die sprachen: Wir mussten unsere Felder und unsere Weinberge und unsere Häuser verpfänden, damit wir Getreide erhielten in der Hungersnot.
Eine andere Gruppe hat Eigentümer wie Felder, Weinberge und Häuser, aber kein Getreide. Um am Leben zu bleiben, bleibt nichts anderes übrig, als dieses Eigentum an die Reichen zu verpfänden, die Getreide haben, um auf diese Weise an Korn zu kommen. Alles, woran die Reichen etwas verdienen können, verlangen sie als Pfand. Was die Felder und Weinberge einbringen, wird auch in den Taschen der Reichen landen. Die Reichen können so auch über alle wertvollen Gegenstände, die im Haus vorhanden sind, verfügen. So werden die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer.
Diese zweite Gruppe Klagender hat zwar Besitz, aber keine Nahrung. Durch Hunger getrieben, müssen sie eine Hypothek auf ihren Besitz aufnehmen. Damit verlieren sie den echten Genuss davon. Jemand kann geistlich so verarmen, dass er aufgibt, was er noch an geistlichem Reichtum besitzt. Im Tausch für etwas geistliche Nahrung für den Unterhalt seines geistlichen Lebens, liefert er sich jemandem aus, der sich bloß auf seine Kosten bereichern will.
Sie besitzen Felder, aber sie haben sie nicht bearbeitet, sodass es keine Frucht gibt. Wenn sie die verpfänden, verlieren sie sogar die Möglichkeit, davon noch Früchte zu bekommen. Sie haben zwar Weinberge, aber die werfen nicht genug ab, um dafür Getreide zu kaufen. Ihre Freude, wovon der Wein spricht, haben sie verloren. Sie haben zwar Häuser, aber auch die fordern die Reichen im Tausch für Getreide. Auf diese Weise wird ihre Umgebung durch die beherrscht, in deren Schuld sie stehen.
Wer für (geistliche) Nahrung von Menschen abhängig wird, verliert alles: seine Hoffnung, seine Freude und sein Zuhause.
4 Geld für Steuern
4 Und es gab [solche], die sprachen: Wir haben Geld geliehen auf unsere Felder und unsere Weinberge für die Steuer des Königs.
Noch eine andere Gruppe hat das Nutzungsrecht für ihre Felder und Weinberge verloren. Sie mussten sich Geld leihen, um die Steuer zu bezahlen. Der König, der Nehemia gehen ließ, hat das Land immer noch im Griff, es ist unter seinem Befehl. Das Volk ist immer noch einem fremden Herrscher unterworfen. Dieser Druck ist vor allem in den hohen Abgaben spürbar (vgl. Esra 4,13.20; 6,8; 7,24). Unter anderem dadurch gibt es nicht genug Geld, um Essen zu kaufen.
Das Bezahlen von Steuern an einen fremden Herrscher muss dem Volk bewusst machen, dass dies die Folge ihrer Untreue ist. Die Tatsache, dass dafür Geld geliehen werden muss, macht sie in doppelter Hinsicht zu Sklaven. Sie sind Knechte des Königs von Persien und jetzt auch von dem Mann, von dem sie Geld geliehen haben.
Als Teil der Gemeinde sind wir Fremde und Beisassen auf der Erde. Wir werden daran erinnert, Obrigkeiten und Gewalten untertan zu sein (Tit 3,1; Röm 13,1). In dieser Stellung bekommen wir zu hören: „Gebt allen, was ihnen gebührt: die Steuer, dem die Steuer“ (Röm 13,7). Aber es ist nicht Gottes Absicht, dass wir uns in dem Erfüllen unserer Verpflichtungen von anderen abhängig machen. Wenn wir das tun, werden wir unsere geistliche Freiheit verlieren und uns an Menschen verkaufen, von denen wir Rettung erwarten.
5 Kinder als Sklaven vermieten
5 Und nun, unser Fleisch ist wie das Fleisch unserer Brüder, unsere Kinder sind wie ihre Kinder; und siehe, wir müssen unsere Söhne und unsere Töchter dem Knechtsdienst unterwerfen; und manche von unseren Töchtern sind [schon] unterworfen, und es steht nicht in der Macht unserer Hände, [sie zu lösen]; unsere Felder und unsere Weinberge gehören ja anderen.
Das in den vorigen Versen geschilderte Elend führte zu noch größerem Elend. Vorher hat Nehemia dem Volk noch mit ermutigenden Worten zugesprochen, gegen den Feind zu kämpfen für die Freiheit von „euren Söhnen und euren Töchtern“ (vgl. Neh 4,8). Nun scheint es, dass gleichermaßen hinter seinem Rücken dieselben Söhne und Töchter von ihrem eigenen Fleisch und Blut zu Sklaven gemacht werden! Die verschuldeten Menschen haben keinen anderen Ausweg gesehen. Und die Blutsauger zeigen ihre völlige Gefühlslosigkeit, indem sie dieses extreme Mittel zur Schuldentilgung einfach akzeptieren. Wer von Geldsucht erfüllt ist, verliert jedes Gefühl von (Mit)Menschlichkeit und schreckt vor nichts zurück (1Tim 6,9.10).
Die genannten Missstände werden unter dem Volk Gottes gefunden, zwischen Angehörigen desselben Volkes. Sie klagen Nehemia ihre Not. Es sollte doch nicht so sein dürfen, dass der eine über den anderen herrscht und ihn ausnutzt. Aber es gibt immer Leute, die versuchen, aus der Not von anderen Kapital zu schlagen. Sie benutzen das Elend anderer, um selbst davon zu profitieren. Für solche Menschen bedeutet es nichts, dass der andere vom selben Fleisch und Blut ist, also Familie.
Die Geschädigten sind machtlos. Sie befinden sich in einer Position, die es ihnen unmöglich macht, etwas zu tun, um sich selbst aus dieser Situation zu retten. Doch es gibt einen Ausweg. Der ist: sich ehrlich der Situation bewusst machen, sagen wie es dazu kommt und das zu der richtigen Person bringen.
In der Gemeinde kommt es auch vor, dass Mitglieder darauf aus sind, ihren eigenen Vorteil auf Kosten von anderen zu suchen. Sich selbst zu begünstigen, kann materiell sein, aber auch geistlich. Jemand, der auf Anerkennung und Ehre aus ist, sucht auch seinen eigenen Vorteil. Das sollte nicht so sein, aber unser Herz ist nicht besser als das der Israeliten von früher. Die Heilsepoche mag anders sein, der Mensch von Natur aus hat sich nicht verändert. Einander zu belügen und zu bestehlen kommt vor, sogar in der Gemeinde, zu der über die höchsten Segnungen gesprochen wird (Eph 4,25–28).
6 Nehemia wird sehr zornig
6 Und als ich ihr Geschrei und diese Worte hörte, wurde ich sehr zornig.
Nehemia wird „sehr zornig“ wegen des großen sozialen Unrechts, das verübt wird. Es ist ein gerechtfertigter Zorn (Eph 4,26). Er sieht die Gefahr, dass die Not unter dem Volk eine Spaltung verursachen kann und das würde dem Werk großen Schaden zufügen. Der Ruf aus der Not, von Gott gehört, bringt ihn im Auftrag Gottes zum Handeln.
Nehemia verlässt sich nicht auf Gerüchte. Er verlässt sich auch nicht nur auf das Schreien. Das Geschrei kann ein emotionaler Ausdruck als Folge des erfahrenen Unrechts sein, und empfundenes Unrecht muss noch kein tatsächliches Unrecht sein. Die Fakten sind jedoch nicht zu leugnen.
Wir können uns über Dinge ärgern, die andere uns über ein Unrecht erzählen, von dem sie meinen, das man es ihnen angetan hat. Dennoch ist es gut, bevor wir unser Urteil fällen, uns durch die Fakten überzeugen zu lassen und nicht nur durch die Erzählung. Wir neigen dazu, die Geschichte zu glauben, wenn sie uns von jemandem erzählt wird, dem wir völlig vertrauen. Wir dürfen uns in unserer Beurteilung und einem eventuell darauf folgenden Handeln jedoch nur durch die Fakten leiten lassen.
7 Die Handlung Nehemias
7 Und mein Herz hielt Rat in mir, und ich stritt mit den Edlen und mit den Vorstehern und sprach zu ihnen: Auf Wucher leiht ihr, jeder seinem Bruder! Und ich veranstaltete eine große Versammlung gegen sie;
Als Nehemia das Schreien und die Fakten gehört hat, lässt er alles auf sich einwirken. Er geht nicht direkt zum Handeln über und geht auch „nicht mit Fleisch und Blut zu Rate“ (Gal 1,16b). Hier haben wir eine weitere Lektion, die wir lernen müssen. Auch wenn wir die Fakten kennen, wodurch wir verpflichtet sind zu handeln, muss unser Handeln zu dem passen, was wir über das Unrecht wissen. Wir dürfen uns nicht zu einem parteiischen Handeln verleiten lassen. Wir können zu Gunsten des Benachteiligten parteiisch sein, weil wir Sympathien für ihn haben, oder zu einem schwereren Urteil kommen als recht ist, weil wir den Täter unsympathisch finden.
Darum müssen wir von Nehemia lernen, der erst mit sich selbst zu Rate geht und alles erwägt und erst danach zum Handeln übergeht. Mit uns selbst zu Rate zu gehen bewirkt, dass wir Herr unserer Gefühle werden und uns nicht von ihnen mitreißen lassen und so zu einem überstürzten und verkehrten Handeln kommen. Dieses „mein Herz hält Rat in mir“ kann auch mit „Herr über seine Gefühle werden“ übersetzt werden.
Bei Nehemia ist kein Ansehen der Person. Es macht ihm nichts aus, ob er es mit Feinden von Gottes Volk zu tun hat, mit gewöhnlichen Angehörigen des Volkes oder mit den Angesehenen des Volkes. Sein Vorwurf ist klar. Er beschuldigt die Edlen und Führer, dass sie Wucher nehmen und das von ihren Volksgenossen. Er spricht nicht über „Arme“ oder „Untergebene“, sondern über „eure Brüder“. Damit betont er, dass sie ihren Brüdern Unrecht tun (1Kor 6,8). Das ist eine besonders schlimme Sache.
Nehemia lässt den Bau eben ruhen, um dieser Situation die Stirn zu bieten. Er sieht, dass die Klage berechtigt ist und veranstaltet eine große Versammlung gegen die Edlen und Vorsteher. Ohne jegliche Angst vor diesen vornehmen Vorstehern prangert er die Missstände an, die sie gegenüber dem versammelten Volk verursacht haben. Er spricht sie auf die übermäßig hohen Zinsen an, die sie fordern. Das Fordern von Zinsen ist schon verboten, geschweige denn das Fordern von Wucherzinsen (2Mo 22,25; 3Mo 25,35–38; 5Mo 23,20.21). Geld darf bei Armut wohl geliehen werden (5Mo 15,7.8).
Nehemia weiß, wie er gegen die Feinde von außen auftreten muss. Er weiß auch, wie er mit den Missständen umgehen muss, die intern vorliegen. In beiden Fällen tritt er mit großer Entschlossenheit auf. Nehemia ist ein Mann, der eine Antwort auf den drohenden Niedergang des Werks hat, zu dem er berufen wurde. Das bestätigt seine Berufung durch Gott. Jedes Werk, zu dem der Herr beruft, wird angegriffen werden. Der Arbeiter, der vom Herrn berufen ist, darf darauf vertrauen, dass der Herr dann auch Weisheit und Klarheit geben wird, wie auf jeden Angriff reagiert werden muss.
8 Anklage von Nehemia
8 und ich sprach zu ihnen: Wir haben unsere Brüder, die Juden, die den Nationen verkauft waren, soweit es uns möglich war, losgekauft; und ihr wollt etwa eure Brüder verkaufen, und sie sollen sich uns verkaufen? Da schwiegen sie und fanden keine Antwort.
Nehemia bezeugt vor der großen Versammlung, wie seine Handlungsweise und die seiner Brüder im Exil gewesen ist. Sie haben ihre Brüder losgekauft (3Mo 25,47–55), sofern sie dazu in der Lage waren. Wie groß ist das Übel, dass gerade im Land, im Hinblick worauf die Juden losgekauft wurden, sie wieder verkauft werden und ihre Freiheit verlieren. Und das nicht durch Feinde, sondern durch ihr eigenes Fleisch und Blut!
Das „Befinden auf heiligem Boden“ bedeutet nicht die Bewahrung vor der unheiligsten Handlungsweise. Die, die die richtige Position eingenommen haben, handeln verderblicher als die, die sich noch in der Fremde befinden. Die Juden in Jerusalem sind in der besseren „gemeindlichen“ Position, wogegen ihre Brüder, die noch in Babylon sind, in einem saubereren moralischen Zustand sind. In dem Einnehmen der richtigen gemeindlichen Position liegt keinerlei Sicherheit, dass auch eine gute Gesinnung im Hinblick aufeinander vorliegt. Beides ist wichtig. Das eine kann nicht ohne das andere sein.
Nehemia kann auf sein eigenes Vorbild hinweisen. Das gibt ihm moralische Autorität und verleiht seinen Worten Kraft. Paulus kann auf sich als Vorbild hinweisen als Unterstützung für das, was er anderen vorwirft (1Thes 1,5b; Apg 20,34; Phil 3,17). Das Volk kann nichts auf die Anklage Nehemias sagen (vgl. Apg 15,12). Das deutet auf Einsicht hin. Solange es Einwände gibt, ist es nicht möglich, das Böse zu korrigieren. Aber wenn Gottes Gedanken weitergegeben werden und das Volk zuhört, beugt es sich unter die Ermahnung. Sie suchen keine Ausflüchte. Nehemia erweist sich hier als „weiser Tadler für ein hörendes Ohr“ (Spr 25,12). Wenn sich unter Gottes Wort gebeugt wird, ist der Weg zum Segen geöffnet.
9 Die Lösung
9 Und ich sprach: Nicht gut ist die Sache, die ihr tut! Solltet ihr nicht in der Furcht unseres Gottes wandeln, dass wir nicht den Nationen, unseren Feinden, zum Hohn seien?
Es bleibt nicht nur bei der Anschuldigung. Nehemia stellt auch die Lösung allen vor. Die erste Bedingung ist, „in der Furcht unseres Gottes [zu] wandeln“. Wenn ein Mensch dazu kommt, Gott zu vertrauen, Ihm zu gehorchen und zu dienen, werden alle Missstände aus dem Weg geräumt. Dann hat auch der Feind nichts mehr zum höhnen. Jetzt muss der Feind nichts tun. Er kann sich selbst darüber amüsieren, was sich unter Gottes Volk abspielt. Das will Nehemia mit aller Kraft ungeschehen machen. Es ist ein schlechtes Zeugnis der Welt gegenüber.
Das sind wir als Christen auch, wenn wir uns unseren bedürftigen Mitbruder oder unsere Mitschwester unterwerfen. Wir können das dadurch tun, dass wir ihnen unbarmherzig das Gesetz auferlegen und Lebensregeln vorhalten. Aber anstatt sie uns zu verpflichten, werden wir dazu aufgerufen, ihnen „durch die Liebe“ (Gal 5,13) zu dienen. Statt ihnen Lasten aufzuerlegen, werden wir dazu aufgerufen, die Lasten des anderen zu tragen (Gal 6,2).
10 - 11 Nehemia ruft zum Erlass auf
10 Aber auch ich, meine Brüder und meine Diener, wir haben ihnen Geld und Getreide [auf Wucher] geliehen. Lasst uns doch diese Forderung erlassen! 11 Gebt ihnen doch gleich heute ihre Felder, ihre Weinberge, ihre Olivengärten und ihre Häuser zurück und [erlasst ihnen] den Zins von dem Geld und dem Getreide, dem Most und dem Öl, das ihr ihnen [auf Wucher] geliehen habt.
Nachdem Nehemia das Böse öffentlich benannt hat und eine erste Anweisung für den Weg zur Wiederherstellung gegeben hat, erlässt er persönlich als erster die Schulden. Er wird auch Geld geliehen haben, was erlaubt ist. Um andere auf seine Seite zu ziehen, geht er als Beispiel voran, indem er freiwillig auf sein Recht auf Zurückzahlung des geliehenen Geldes verzichtet. Was ist dieser Mann aufs Neue selbstlos, um die Einheit seines Volkes zu bewahren.
Nehemia spricht auch im Namen von „meinen Brüdern und meinen Dienern“. Er hat Menschen um sich, die genauso handeln wie er. Die Selbstlosigkeit Nehemias hat einen guten Einfluss auf die Gesellschaft, die er direkt um sich herum hat. Ein gutes Beispiel ist der beste Lehrmeister.
Mit der Wiedergutmachung des Bösen darf nicht gewartet werden. Es muss direkt, „gleich heute“, damit begonnen werden. Wer das menschliche Herz kennt, weiß, dass im Falle der Überzeugung die Tat direkt folgen muss. Die Gefahr besteht nämlich, dass mit dem Verstreichen von Zeit die Überzeugung an Kraft verliert und man nicht mehr dazu kommt, dieser Überzeugung entsprechend zu handeln. Es gibt Dinge, die keinen Aufschub dulden.
Nehemia führt auch aus, worum es geht. Er hilft beim „bekennen“. Niemand kann sich dahinter verstecken, nicht genau zu wissen, worum es geht. Wenn es um eigenes Versagen geht, sind wir sehr vergesslich. Es ist viel Überzeugungskraft nötig, wenn wir etwas wiedergutmachen wollen, das auch noch Entschädigung erfordert. Gottes Geist hat viel Arbeit an uns zu tun.
12 Die zugesagte Wiedergutmachung
12 Da sprachen sie: Wir wollen es zurückgeben und nichts von ihnen fordern; wir wollen so tun, wie du sagst. Und ich rief die Priester und ließ sie schwören, nach diesem Wort zu tun.
Die Übertreter reagieren auf Nehemias Bußpredigt, indem sie sagen, dass sie so tun wollen, wie er gesagt hat. Sie werden alles zurückgeben. Sie sagen sogar dabei, dass sie nichts von der Schuld einfordern werden. Nehemia möchte noch mehr Sicherheit, dass sie tun, was sie versprechen. Er lässt sie in Gegenwart der Priester schwören, die er für diesen Anlass rufen lässt. Priester geben als Vertreter Gottes diesem Ereignis die nötige Feierlichkeit. Es muss den Übertretern bewusst machen, dass sie ihren Eid vor dem Angesicht Gottes schwören.
13 Bekräftigung durch Nehemia und das ganze Volk
13 Auch schüttelte ich meinen Gewandbausch aus und sprach: So möge Gott jedermann, der dieses Wort nicht aufrechterhalten wird, aus seinem Haus und aus seinem Erwerb schütteln; und so sei er ausgeschüttelt und ausgeleert! Und die ganze Versammlung sprach: Amen! Und sie lobten den HERRN. Und das Volk tat nach diesem Wort.
Während sie so vor Gottes Angesicht stehen, stellt Nehemia die ernsten Folgen im Fall von Ungehorsam vor. Das Ausschütteln seines Gewandbausches, der zugleich als Tasche dient, hat dieselbe Bedeutung wie das Abschütteln des Staubes von den Füßen (Mt 10,14; Apg 13,51; 18,6). Der Sprecher, der diese Geste macht, symbolisiert damit die Ablehnung des Gesprochenen durch die, die es gehört haben und dass er, was ihn selbst betrifft, frei von den Folgen ist, die es für die hat, die es ablehnen.
Gott segnet die Herangehensweise Nehemias. Nehemia hat eine klare Sprache gesprochen. Das wird gebraucht in einer Zeit von weichem, diplomatischem Sprachgebrauch. Das Volk Gottes verdient eine klare Botschaft. Es muss Nehemia gutgetan haben, dass alle zustimmen. Diese Zustimmung äußert sich nicht durch Applaus oder andere enthusiastische Äußerungen. Das wäre unpassend bei dem Ernst der Sache. Die Zustimmung erfolgt in der Äußerung eines einstimmig hörbaren „Amen“.
Dann wird der HERR gelobt. Er hat diese Bereitwilligkeit in die Herzen gelegt und bekommt dafür die Ehre. Danach handelt das Volk nach der getroffenen Vereinbarung. Das ist besser als das, was ihre Vorfahren gemacht haben. Die haben zwar erst ihre Sklaven freigelassen, aber sie später doch wieder zu Sklaven gemacht (Jer 34,10.11.18). Eine solche Verhaltensweise ähnelt der des Pharaos, der die Israeliten erst gehen ließ, aber ihnen dann nachjagt, um sie aufs Neue zu Sklaven zu machen. Eine solche Verhaltensweise ruft Gottes Gericht hervor.
14 - 15 Was Nehemia nicht tut
14 Auch von dem Tag an, als er mich bestellt hatte, um ihr Statthalter im Land Juda zu sein, vom zwanzigsten Jahr bis zum zweiunddreißigsten Jahr des Königs Artasasta, zwölf Jahre lang, habe ich mit meinen Brüdern die Speise des Statthalters nicht gegessen. 15 Aber die früheren Statthalter, die vor mir gewesen waren, hatten das Volk beschwert und Brot und Wein von ihnen genommen, dazu vierzig Sekel Silber; auch ihre Diener herrschten willkürlich über das Volk. Ich aber tat nicht so, aus Furcht vor Gott.
Nehemia verzichtet auf Dinge, die an sich erlaubt wären. Als Statthalter hat er das Recht, Nahrung vom Volk zu fordern. Ein Statthalter ist in dieser Zeit – Nehemia dient von 444 bis 432 v.Chr. als Statthalter von Juda – das höchste Amt, das in der jüdischen Nation zu bekleiden ist. Anstatt Nahrung zu fordern, teilt er Nahrung aus. Er macht sich eins mit seinem notleidenden Volk. Damit zeigt er Gnade, die über das Gesetz hinaus geht.
Solches Handeln ist die Folge der Gottesfurcht (Vers 15). Es ist die Frucht, die einen gerechten und heiligen Wandel ziert. Es hat nichts mit dem großzügigen Handeln zu tun, das auch Wohltäter in der Welt manchmal kennzeichnet. Hierbei ist er ein Bild des Herrn Jesus, der als Herr und Meister während seines Lebens auf der Erde auch als der Dienende ist (Joh 13,14; Lk 22,24–27).
Das Verhalten Nehemias ist ganz anders als das der Vorsteher des Volkes und der früheren Statthalter. Er hätte denken können, was oft geschieht: „Früher tat das jeder und heute tun es alle, warum dann nicht ich?“ Aber er hat die Speise des Statthalters nicht gegessen, weil die Furcht vor Gott ihn leitet. Er verhandelt nicht über die Schwierigkeiten oder organisiert Dinge, sondern er führt einen Lebenswandel, der über jedem Verdacht steht.
Er gibt seine persönlichen Rechte als Statthalter auf, um einfach und völlig ein Diener Gottes und seines Volkes zu sein. So gibt auch Paulus persönliche Rechte hinsichtlich der Korinther auf, um Gott und seiner Gemeinde zu dienen (1Kor 9,11.12; 2Thes 3,8). Sein Vorbild und das von Nehemia ist es wert, von uns nachgeahmt zu werden. Sie sind „Vorbilder der Herde“ (1Pet 5,1–3). Ein solches Verhalten gibt moralische Autorität, wodurch Ermahnungen Erfolg haben.
Auch in der Gemeinde kommt es vor, dass Verwandte derer, die darin einen führenden Platz haben, sich aus diesem Grund einen herausragenden Platz anmaßen. Durch eine gewisse natürliche Verbindung meint man, das Recht auf geistlichen Vorteil zu haben, und fordert das auch ein. Fähigkeiten und Gaben werden jedoch durch Gott verliehen und sind nicht übertragbar oder einzufordern, weil ein Bekannter oder ein Familienmitglied sie besitzt. Sogar Samuel handelt darin nicht richtig (1Sam 8,1–5).
Viel innerer Unfrieden und Streit entstammen einem falschen Lebenswandel, mehr als Angriffen von außen. Nur wenn wir in Gottesfurcht wandeln, können wir diese Gefahr bekämpfen. Erstens sollen wir nicht mitmachen bei der Anpassung an die Zeit, in der wir leben, wir sollen nicht der Masse nachfolgen. Es ist so einfach, das zu tun, was andere tun. Manchmal machen wir mit, weil wir feige sind, manchmal, weil wir insgeheim den Wunsch haben, so wie andere zu sein.
Zweitens sollen wir das Wesen der Welt meiden. Viele Christen sorgen dafür, dass die Welt nicht merkt, wie sehr sie sich davon unterscheiden. Sie sind nicht darauf aus, den Eindruck zu erwecken, dass sie sich im praktischen Leben von anderen unterscheiden. Was früher eine Schande war, findet heute jeder normal, zum Beispiel Sex vor der Ehe. Aber für den Christen muss das eine Schande bleiben. Er muss sagen können: „Ich aber tat nicht so.“
Vielleicht haben wir unbewusst den Maßstab für unser eigenes Verhalten und Denken gesenkt. Wie haben wir uns in den letzten Jahren oder Monaten gegenüber dem anderen Geschlecht verhalten? Haben wir in unserem Leben vor der Ehe Dinge zugelassen, die nicht hätten geschehen dürfen und worüber wir uns jetzt schämen müssen?
16 Was Nehemia tut
16 Und auch am Werk dieser Mauer fasste ich mit an; und wir kauften kein Feld; und alle meine Diener waren dort zum Werk versammelt.
So wie Nehemia bestimmte Dinge aus Gottesfurcht nicht tut, so muss die Liebe zum Herrn Jesus unser Handeln und Verhalten bestimmen. Aber Nehemia tut nicht nur Dinge nicht, er ist auch positiv mit dem Bau der Mauer beschäftigt. Auf keine einzige Weise will er seine Stellung als Statthalter benutzen, um sich zu bereichern. Stattdessen arbeitet er mit dem Volk mit. Er gibt sich selbst für das Werk hin und sucht keinen irdischen Besitz. Er ist in Jerusalem, um seinem Volk zu helfen, nicht um es auszubeuten. Seine Diener sind von demselben Geist beseelt.
17 - 18 Der Tisch Nehemias
17 Und die Juden, sowohl die Vorsteher, 150 Mann, als auch die, die aus den Nationen, die ringsumher [wohnten], zu uns kamen, waren an meinem Tisch. 18 Und was für einen Tag zubereitet wurde: ein Rind, sechs ausgewählte Schafe und Geflügel wurden mir zubereitet; und alle zehn Tage allerlei Wein in Menge; und trotzdem forderte ich nicht die Speise des Statthalters, denn der Dienst lastete schwer auf diesem Volk.
Ist Nehemia so wohlhabend? Bekommt er immer noch sein möglicherweise beträchtliches Gehalt vom König – kein unbezahlter, sondern bezahlter Urlaub? Es steht hier nicht. Darum ist es gut, davon auszugehen, dass Gott ihn mit dem versorgt, was er braucht, um all diese Menschen mit Essen und Trinken zu versorgen. Was er von Gott bekommt, behält er nicht für sich selbst, sondern dient anderen damit. Er bezahlt lieber alles aus der eigenen Tasche, als dem Volk eine Last aufzuerlegen.
Nehemia hat jeden Tag eine große Gesellschaft zum Essen, aber es gibt jeden Tag genug. So dürfen auch wir wissen, dass der Herr für jeden Tag genug gibt. Daneben gibt es alle zehn Tage allerlei Wein und das in Überfluss. Das weist auf die überfließende Freude hin, die mit einem Leben in Abhängigkeit vom Herrn verbunden ist.
19 Gebet Nehemias
19 Gedenke mir, mein Gott, zum Guten alles, was ich für dieses Volk getan habe!
Nehemia betet dieses Gebet nicht, weil er von sich selbst eingenommen ist. Er ist kein geistlicher Verwandter des Pharisäers, der seine eigenen Taten vor Gott anpreist (Lk 18,11.12). Nehemia dankt nicht, er bittet, nicht ein hochmütiges, sondern ein demütiges Gebet. Er ist mit Gottes Werk beschäftigt, und ist sich bewusst, dass Gott durch ihn wirkt. Das Gute, das er tun darf, ist darum das Gute, das Gott durch ihn tut. Aber es muss noch so viel mehr geschehen. Er bittet Gott, seiner zu gedenken, weil es um das Wohlergehen, das Gute für sein Volk geht.
Nehemia kann so beten, weil sein Leben in Übereinstimmung mit dem Inhalt seines Gebetes ist. Er betet das „Gebet eines Gerechten“ (Jak 5,16b).