1 - 3 Ein Heerlager Gottes
1 Und Laban stand frühmorgens auf und küsste seine Söhne und seine Töchter und segnete sie; und Laban zog hin und kehrte zurück an seinen Ort. 2 Und Jakob zog seines Weges, und es begegneten ihm Engel Gottes. 3 Und Jakob sprach, als er sie sah: Dies ist das Heerlager Gottes. Und er gab jenem Ort den Namen Machanaim.
Jakob ist auf der Reise zurück in sein Land. Dabei tritt ihm seine Vergangenheit lebhaft vor Augen. Die Angst, Esau unter die Augen zu treten, ist wieder da. Bevor jedoch eine Begegnung mit Esau stattfindet, hat er noch eine andere Begegnung. Er begegnet Engeln Gottes. Diese Botschafter hat Gott als eine Ermunterung für Jakob gesandt (2Kön 6,17).
Gott sucht Jakob immer wieder auf, während Jakob jedoch so wenig nach Ihm fragt. Gott hatte Jakob vor Laban beschützt, als dieser ihn mit bösen Absichten verfolgte. Nun droht erneut Gefahr, und wieder ist Gottes Schutz da.
Diese Erscheinung von Engeln bei seiner Rückkehr in das Land erinnert an die Leiter mit den Engeln, die er gesehen hat, als er das Land verließ. Schon damals war es eine Ermutigung, sie zu sehen. Denn Gott sagte ihm, dass Er ihn überall, wohin er ging, behüten und ihn sicher in das Land zurückbringen werde (1Mo 28,15).
„Machanaim“ bedeutet „zwei Lager“. Jakob sieht eine Armee vor sich und eine Armee hinter sich, oder er sieht eine Armee an seiner linken Seite und eine an seiner rechten Seite. In jedem Fall wird er von Gottes Schutz umgeben und braucht sich nicht zu fürchten.
4 - 7 Jakob schickt Boten zu Esau
4 Und Jakob sandte Boten vor sich her zu seinem Bruder Esau, in das Land Seir, das Gebiet von Edom. 5 Und er gebot ihnen und sprach: So sollt ihr zu meinem Herrn, zu Esau, sprechen: So spricht dein Knecht Jakob: Bei Laban habe ich mich aufgehalten und bin geblieben bis jetzt; 6 und ich habe Rinder und Esel, Kleinvieh und Knechte und Mägde erworben; und ich habe [Boten] gesandt, es meinem Herrn mitzuteilen, um Gnade zu finden in deinen Augen. 7 Und die Boten kehrten zu Jakob zurück und sprachen: Wir sind zu deinem Bruder, zu Esau, gekommen, und er zieht dir auch entgegen und vierhundert Mann mit ihm.
Jakob wird nicht mehr von Laban verfolgt, aber er hat Esau vor sich. Um sich zu verantworten, und auch, um die Gesinnung Esaus zu testen, sendet Jakob Boten zu Esau. Sie sollten ihm sagen, dass Jakob kein Vagabund gewesen ist, sondern dass er die ganze Zeit seiner Abwesenheit bei Onkel Laban gelebt hat. Auch lässt er sagen, dass er reich geworden ist, sodass er Esau nicht um Gunst zu bitten braucht. Er kommt nicht wie ein „verlorener Sohn“ nach Hause.
8 - 9 Jakobs Taktik
8 Da fürchtete sich Jakob sehr, und ihm wurde angst; und er teilte das Volk, das bei ihm war, und das Kleinvieh und die Rinder und die Kamele in zwei Züge. 9 Und er sprach: Wenn Esau gegen den einen Zug kommt und ihn schlägt, so wird der übrig gebliebene Zug entkommen können.
Trotz der Ermutigung Gottes sehen wir, wie wenig Vertrauen bei Jakob vorhanden ist. Er fürchtet sich sehr. Sein Gewissen spricht, weil er seinen Bruder betrogen hat, und er weiß, dass Esau ihn töten wollte. Die Botschaft, dass Esau unterwegs ist, scheint zu sagen, dass die Auffassung Esaus über Jakob sich nicht geändert hat. Er ergreift wieder seine eigenen Maßnahmen. Er berechnet seine Möglichkeiten und stimmt darauf seine Strategie ab.
Es spricht nichts gegen das Ergreifen von Maßnahmen, wenn sie allein aufgrund eines Auftrags von Gott und nicht aus Angst vor befürchteten Ereignissen ergriffen werden. In letzterem Fall ist es eigensinniges Handeln, auf das man mehr vertraut als auf Gott. Glaube plant nicht, sondern vertraut.
10 - 13 Jakobs Gebet
10 Und Jakob sprach: Gott meines Vaters Abraham und Gott meines Vaters Isaak, HERR, der du zu mir geredet hast: Kehre zurück in dein Land und zu deiner Verwandtschaft, und ich will dir Gutes erweisen! 11 Ich bin zu gering all der Gütigkeiten und all der Treue, die du deinem Knecht erwiesen hast; denn mit meinem Stab bin ich über diesen Jordan gegangen, und nun bin ich zu zwei Zügen geworden. 12 Rette mich doch aus der Hand meines Bruders, aus der Hand Esaus! Denn ich fürchte ihn, dass er kommen und mich schlagen könne, die Mutter samt den Kindern. 13 Du hast ja gesagt: Gewiss werde ich dir Gutes erweisen und werde deine Nachkommen machen wie den Sand des Meeres, der nicht gezählt wird vor Menge.
Jakob gebraucht Gott als eine Art Nothilfe. Er betet als die Not am größten ist, aber erst nachdem er durch eigene Initiativen das Unheil abzuwenden versuchte. In seinem Rufen zu Gott als demjenigen, der ihm den Befehl gab, zurückzugehen in sein Land und zu seiner Familie, kann so etwas liegen wie ein Vorwurf an Gott. Durch Gottes Schuld, so mag es scheinen, ist er in diese Situation geraten.
Übrigens ist seine Haltung in Vers 10 sehr schön. Er erkennt die Gnade und Treue Gottes in seinem Leben bis hierhin. Er zog als ein einsamer Mann weg und jetzt ist er so reich, dass er zu zwei Zügen geworden ist. Damit spielt er auf die beiden Lager von Engeln an, die er in den Versen 1 und 2 gesehen hat. Für die Ausdehnung seiner Familie und seiner Besitztümer gibt er Gott die Ehre.
In seiner Angst vor Esau schreit er zu Gott, ihn zu retten. Er sagt Gott, was Esau alles geplant hat, das heißt, was er denkt, das Esau tun wird. Er sieht ein rücksichtsloses Massaker an seiner Familie kommen, wobei die Mütter und ihre Kinder nicht verschont werden. Das Gewissen von jemandem, der nicht vollständig auf Gott vertraut, sieht in Drohungen sofort auch das Umkommen.
14 - 22 Ein Geschenk für Esau
14 Und er übernachtete dort in jener Nacht; und er nahm von dem, was in seine Hand gekommen war, ein Geschenk für seinen Bruder Esau: 15 zweihundert Ziegen und zwanzig Böcke, zweihundert Mutterschafe und zwanzig Widder, 16 dreißig säugende Kamele mit ihren Fohlen, vierzig Kühe und zehn Stiere, zwanzig Eselinnen und zehn junge Esel. 17 Und er gab sie in die Hand seiner Knechte, je eine Herde für sich, und er sprach zu seinen Knechten: Zieht vor mir her und lasst Raum zwischen Herde und Herde. 18 Und er gebot dem Ersten und sprach: Wenn mein Bruder Esau dir begegnet und dich fragt und spricht: Wem gehörst du an, und wohin gehst du, und wem gehören diese [da] vor dir?, 19 so sollst du sagen: Deinem Knecht Jakob; es ist ein Geschenk, gesandt an meinen Herrn, an Esau; und siehe, er selbst ist hinter uns. 20 Und er gebot auch dem Zweiten, auch dem Dritten, auch allen, die hinter den Herden hergingen, und sprach: Nach diesem Wort sollt ihr zu Esau reden, wenn ihr ihn findet, 21 und sollt sagen: Siehe, dein Knecht Jakob ist selbst hinter uns. Denn er sagte: Ich will ihn versöhnen durch das Geschenk, das vor mir hergeht, und danach will ich sein Angesicht sehen; vielleicht wird er mich annehmen. 22 Und das Geschenk zog vor ihm her, und er übernachtete in jener Nacht im Lager.
Auch nach seinem Gebet bleibt Jakob mit Vorsichtsmaßnahmen beschäftigt. Das zeigt doch, dass er nicht wirklich darauf vertraut, dass der HERR in der Lage ist, ihn zu schützen. Jakob und auch das Volk müssen lernen, dass Rettung aus Gefahr durch den Glauben an Gott kommt, und nicht, indem sie einem Feind ein Geschenk geben, um ihn milde zu stimmen.
Jakobs Haltung gegenüber Esau ist von schmeichelnder Unterwürfigkeit gekennzeichnet. Das ist die Folge von einem unreinen Gewissen. Er nennt sich selbst gegenüber Esau „dein Knecht“ (Verse 5.19.21). Wäre er in Gemeinschaft mit Gott, müsste er keine Angst haben. Aber dazu muss es in seinem Leben ein Pniel geben.
23 - 33 Jakob ringt mit Gott
23 Und er stand in jener Nacht auf und nahm seine beiden Frauen und seine beiden Mägde und seine elf Söhne und zog über die Furt des Jabbok; 24 und er nahm sie und führte sie über den Fluss und führte hinüber, was er hatte. 25 Und Jakob blieb allein zurück; und es rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte aufging. 26 Und als er sah, dass er ihn nicht überwältigen konnte, da rührte er sein Hüftgelenk an; und das Hüftgelenk Jakobs wurde verrenkt, als er mit ihm rang. 27 Da sprach er: Lass mich los, denn die Morgenröte ist aufgegangen; und er sprach: Ich lasse dich nicht los, es sei denn, du segnest mich. 28 Da sprach er zu ihm: Was ist dein Name? Und er sprach: Jakob. 29 Da sprach er: Nicht Jakob soll fortan dein Name heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gerungen und hast gesiegt. 30 Und Jakob fragte und sprach: Sage [mir] doch deinen Namen! Da sprach er: Warum doch fragst du nach meinem Namen? Und er segnete ihn dort. 31 Und Jakob gab dem Ort den Namen Pniel: Denn ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen, und meine Seele ist gerettet worden! 32 Und die Sonne ging ihm auf, als er über Pnuel hinaus war; und er hinkte an seiner Hüfte. 33 Darum essen die Kinder Israel bis auf den heutigen Tag nicht den Hüftmuskel, der über dem Hüftgelenk ist, weil er das Hüftgelenk Jakobs, den Hüftmuskel, angerührt hat.
Nach all seinen Vorbereitungen, um einem (vermeintlichen) Unheil zu entkommen, das Jakob bei seiner Begegnung mit Esau befürchtet, bleibt Jakob schließlich allein zurück. Das ist der Zeitpunkt Gottes, um mit ihm persönlich zu handeln. Jakob muss lernen, dass nicht Esau, sondern Gott sein wirklicher Gegner ist. Es entsteht ein Kampf (vgl. Ps 18,27). Gott (in Gestalt eines Engels) kann ihn nicht besiegen, weil Jakob sich nicht geschlagen gibt, bis Gott seine Hüfte verrenkt, in der die Kraft für den Wandel sitzt.
In Hosea 12 lesen wir, wie Jakob überwand: durch Weinen und Flehen (Hos 12,4b.5a). Das tut ein Mensch nur dann, wenn er mit seinen Kräften am Ende ist. Und das ist die Art und Weise, wie Gott sich überwinden lässt. Genauso verhält es sich mit dem Menschen, der in Römer 7 vorgestellt wird. Dieser tut auch alles in eigener Kraft, bis er ausruft: „Ich elender Mensch!“ (Röm 7,24). Danach kommt die Überwindung: „Ich danke Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn!“ (Röm 7,25). Der Kampf ist vorbei, sobald jemand sieht, dass Gott die Befreiung schon lange bereit hat, weil sie durch Jesus Christus zustande gebracht ist. Wer das sieht, wird Gott dafür sofort danken.
Gott begegnet Jakob in der Dunkelheit. Als Gott zu Abraham kam, war es heller Tag (1Mo 18,1). Gott kam auch nicht, um mit Abraham zu kämpfen, sondern um Gemeinschaft mit ihm zu haben. Es ist nicht Jakobs Kampf mit Gott, sondern Gottes Kampf mit Jakob. Nachdem Gott ihn an der Hüfte geschlagen hat, geht der Kampf mit Gott in ein Festklammern an Gott über. Jakob will Gott nicht loslassen, sondern einen Segen von Ihm empfangen. Seitdem bleibt Jakob ein hinkender Jakob. So geht er Esau entgegen, und so steht er vor dem Pharao. Es ist eine ständige Erinnerung an seine absolute Abhängigkeit von dem Segen Gottes.
Indem Jakob um einen Segen bittet, erkennt er seinen Gegenstreiter als Höhergestellten an. Der Kampf dauert bis zur Morgenröte. Wenn Gottes Kampf mit uns zu Ende geht, wenn wir aufhören zu widerstehen und uns durch Weinen und Flehen geschlagen geben, bricht die Morgenröte in unserem Leben an. Dann haben wir unser „Pniel“ gefunden, wie Jakob hier. Pniel bedeutet „Angesicht Gottes“.
Nicht nur die Morgenröte ist angebrochen, sondern die Sonne geht im Leben Jakobs auf (vgl. auch mit seinem Auszug aus dem Land, damals ging die Sonne unter, 1Mo 28,10.11). Wo das Bewusstsein der eigenen Schwachheit zunimmt, wächst auch das Bewusstsein der Größe Gottes. Das ist das herrliche Ergebnis von Pniel. Es ist zu wünschen, dass dieses die Erfahrung eines jeden Gotteskindes ist oder wird.
In Pniel bekommt Jakob einen neuen Namen, „Israel“, das bedeutet „Fürst Gottes“ oder „Kämpfer Gottes“. Danach werden beide Namen abwechselnd gebraucht. Wenn der Name Jakob verwendet wird, zeigt das im Allgemeinen den schwachen Jakob, der die Dinge selbst regelt. Wenn der Name Israel gebraucht wird, sehen wir den Patriarchen in Glaubenskraft handeln, abhängig von Gott. Das ist bei Abraham nicht so. Nachdem Abram seinen neuen Namen Abraham bekommen hat, ist danach nicht mehr von Abram die Rede.
Wenn Gott den Namen Jakob verwendet, erinnert Gott uns daran, dass der Gläubige seine Zucht nötig hat, solange er hier auf der Erde lebt, weil er das Fleisch immer noch in sich trägt. Seine Zucht kann korrigierend sein, aber auch vorbeugend. In jedem Fall ist seine Zucht ein Beweis seiner Gnade.
Die Nachkommen Jakobs sind zwar von dem Geschehen am Jabbok beeindruckt und essen deshalb nicht den Hüftmuskel, aber die eigentliche Lektion daraus haben sie nicht gelernt. Das Volk als Ganzes baut noch immer komplett auf die eigene (intellektuelle und militärische) Kraft. So können auch wir unter den Eindruck einer Wahrheit Gottes kommen und das in einer äußerlichen Haltung zeigen, ohne dass es uns wirklich innerlich angerührt hat und unser ganzes Leben beeinflusst.