Einleitung
Die beiden Sünden, die David begangen hat, Unzucht und Mord, finden wir in diesem Kapitel beide in seinem Haus wieder. Er hat für sein eigenes Fleisch gesät und „wird von dem Fleisch Verderben ernten“ (Gal 6,8a; vgl. Jer 4,18). Es ist ein Kapitel voller Trauer für David. Ein Moment gedankenloser Sünde kann jahrelang das Weinen bitterer Tränen nach sich ziehen. Gleichzeitig dürfen wir wissen, dass Gott diese bitteren Tränen in einen Regenbogen verwandeln kann.
In diesem Kapitel beginnt das angekündigte Schwert (2Sam 12,9.10) in Davids Haus sein richtendes Werk. Ein Mann, ein Sohn aus seinem Haus, sein ältester Sohn, vergewaltigt seine Tochter. Ein anderer Sohn, einer seiner Lieblinge, ermordet den Vergewaltiger. Später wird sich dieser Sohn gegen ihn erheben und getötet werden. Amnon ist sein ältester Sohn, der Kronprinz. Der dritte Sohn ist Absalom. Er verliert seine beiden erstgeborenen und auch seine beiden ältesten Söhne – wenn wir Kileab ausschließen, der wahrscheinlich jung gestorben ist (2Sam 3,2.3).
Durch das Begehen seiner Sünden ist etwas in Davids Familie gelangt, was die ohnehin schon fragile Verbindung noch weiter zerbricht. Er hat kein Urteilsvermögen im Falle von Amnons finsteren Plänen mit Tamar. Er ist auch nicht in der Lage, dagegen vorzugehen, weil seine geistliche Kraft und seine geistliche Einsicht durch sein Leben in der Sünde stark geschwächt sind. Vielleicht hat er auch das Gefühl, dass er unglaubwürdig geworden ist, um etwas über die Sünden seiner Kinder zu sagen.
Die Sünde, die wir selbst begangen haben, macht es schwierig, sie bei einem anderen scharf zu verurteilen. Das sehen wir auch hier. David geht weder gegen Amnon noch gegen Absalom vor. Die Folgen der Sünde sind kein Automatismus. Sie kommen nicht einfach über sein Haus. Jede Sünde in seinem Haus findet unter seiner Verantwortung statt. Wäre er stark gewesen, hätte er diese Folgen verhindern können. Das Gericht kommt von Gott, doch ist David selbst verantwortlich.
Wir sehen, dass David nicht mehr derselbe Mann ist, der er vor seinen Sünden war. Für bestimmte Dinge ist er blind. Er versteht weder die Absichten Amnons noch die von Absalom. Wenn die Sünde im Leben eines Gläubigen verheerend war, ist eine Folge davon, dass man nicht mehr derselbe Mensch ist wie vorher.
Wir lernen hier, dass Kinder die Schwäche ihrer Eltern sind. Es gibt keinen Bereich, in dem wir so schwach sind, wie wenn es um unsere Kinder geht. Viele Eltern sind auf den falschen Weg gekommen, weil sie so wenig von den Sünden ihrer Kinder erkannt und zugegeben haben. Manchmal haben sie diese Sünden sogar gesehen, aber sie haben nichts dagegen getan oder sie sogar verteidigt. Viele können scharfe Urteile fällen, wenn es um andere geht, aber sobald es um ihre eigenen Kinder geht, sehen sie nicht mehr so scharf und verteidigen die Sünde manchmal sogar.
1 - 2 Amnon begehrt Tamar
1 Und es geschah danach: Absalom, der Sohn Davids, hatte eine schöne Schwester, ihr Name war Tamar; und Amnon, der Sohn Davids, liebte sie. 2 Und es war Amnon weh zum Krankwerden wegen seiner Schwester Tamar; denn sie war eine Jungfrau, und es war in den Augen Amnons unmöglich, ihr das Geringste zu tun.
Die einleitenden Worte „und es geschah danach“ zeigen, dass sich das Folgende an das Vorangegangene anschließt. In diesem Fall ist das, was „danach“ geschieht, nicht nur eine Fortsetzung, sondern auch eine Konsequenz des Vorangegangenen. Auch in den beschriebenen Ereignissen sehen wir, dass die eine Begebenheit eine Folge der anderen ist.
Zunächst werden uns in Vers 1 die „Protagonisten“ vorgestellt. Es sind zwei Söhne Davids, eine Tochter von David und David selbst. Es ist eine Familientragödie.
Das Drama beginnt mit einem jungen Mann, der sich wahnsinnig in seine hübsche Halbschwester verliebt. An diesem Sohn Davids ist nichts Gottesfürchtiges. Wäre dies der Fall gewesen, hätte er seine böse Begierde direkt bei sich selbst gerichtet. Er folgt seinem Vater, jedoch nicht in dem guten Vorbild, sondern in dem schlechten, mit dem David leider auch vorangegangen ist. David ist es nicht gelungen, seine Begierden zu zügeln. Sein Sohn geht in seiner sexuellen Sündhaftigkeit noch weiter. Die Verliebtheit des jungen Mannes ist so groß, dass sie ihn krank macht. Diese Verliebtheit ist eine rein egoistische, auf die eigene Befriedigung ausgerichtete Angelegenheit.
Es ist im Gesetz streng verboten, mit einer Schwester oder Halbschwester Geschlechtsverkehr zu haben (3Mo 18,9; 20,17). Diese Vorschrift im Gesetz wie auch die Fortsetzung der Geschichte machen deutlich, dass es hier nicht um Liebe geht, sondern nur um in sich selbst geweckter sexuelle Lust. Sexuelles Verlangen ist von Gott, aber es soll nur im Rahmen der Ehe und in Liebe erfahren werden. Tamar trifft natürlich keine Schuld.
„Es war in den Augen Amnons unmöglich, ihr das Geringste zu tun“, bedeutet nicht, dass er ihr gegenüber irgendwelche Achtung hat. Die Fortsetzung zeigt, dass sie für ihn nichts weiter als ein Objekt der Begierde ist. Die Unmöglichkeit, ihr etwas anzutun, bedeutet wahrscheinlich, dass es für ihn unmöglich ist, zu ihr zu gelangen, denn sie wohnt im Frauenhaus, weil sie Jungfrau ist.
3 - 5 Amnon holt sich Rat bei einem Freund
3 Und Amnon hatte einen Freund, sein Name war Jonadab, der Sohn Schimeas, des Bruders Davids; und Jonadab war ein sehr kluger Mann. 4 Und er sprach zu ihm: Warum bist du Morgen für Morgen so abgezehrt, Königssohn? Willst du es mir nicht mitteilen? Und Amnon sprach zu ihm: Ich liebe Tamar, die Schwester meines Bruders Absalom. 5 Und Jonadab sprach zu ihm: Leg dich auf dein Lager und stell dich krank; und kommt dein Vater, um dich zu sehen, so sprich zu ihm: Lass doch meine Schwester Tamar kommen und mir Speise zu essen geben und vor meinen Augen das Essen zubereiten, damit ich zusehe und aus ihrer Hand esse.
Amnon hat einen Freund. Ein guter Freund ist viel wert, besonders wenn dieser Freund „ein sehr kluger Mann“ ist. Amnons Freund ist jedoch ein listiger Freund, und seine Weisheit „ist nicht die Weisheit, die von oben herabkommt, sondern eine … teuflische“ (Jak 3,15). Auch er ist ein Verwandter von David und spielt eine raffinierte Rolle in diesem Familiendrama. Dies zeigt sich in der Art und Weise, wie er Amnon anspricht und wie er ihn berät.
Jonadab appelliert an Amnons Ehrgefühl und die Macht, die er doch hat: „Amnon, warum bist du Morgen für Morgen so abgezehrt, wo du doch der Sohn des Königs bist? Könntest du nicht alles Vergnügen bekommen, das du willst? Du brauchst ja nur mit den Fingern schnippen, und deine Wünsche werden erfüllt.“ Es ist dieselbe Art und Weise, wie Isebel an ihren Mann Ahab appelliert, als auch er etwas will, was ihm verwehrt wird (1Kön 21,7).
Auf die Aufforderung seines Freundes, ihm zu erzählen, was los sei, sagt Amnon ihm, dass er Tamar liebt. Er ist total blind für die völlig unangebrachte Verwendung des Wortes „lieben“. Für Jonadab ist „lieben“ auch ein hohler Begriff. Er weiß, dass es Amnon nur um den Körper von Tamar geht. Er rät ihm, sich krank zu stellen und dann seinen Vater zu bitten, ob Tamar zu ihm kommen und vor ihm etwas zu essen zubereiten kann. Er sagt ihm, dass sie dieses Essen „vor meinen Augen“ zubereiten solle und dass er es „aus ihrer Hand essen“ werde. Aufgrund dieses schlauen Vorschlags wird Amnon sie genau betrachten können, und sie wird dicht an ihn herankommen müssen.
6 - 9 Amnon bittet David um Tamar
6 Und Amnon legte sich und stellte sich krank. Und als der König kam, um ihn zu sehen, da sprach Amnon zum König: Lass doch meine Schwester Tamar kommen und vor meinen Augen zwei Kuchen bereiten, dass ich aus ihrer Hand esse. 7 Da sandte David zu Tamar ins Haus und ließ [ihr] sagen: Geh doch in das Haus deines Bruders Amnon und bereite ihm das Essen. 8 Und Tamar ging in das Haus ihres Bruders Amnon; er lag aber [im Bett]. Und sie nahm den Teig und knetete ihn und bereitete Kuchen vor seinen Augen zu und backte die Kuchen. 9 Und sie nahm die Pfanne und schüttete sie vor ihm aus. Aber er weigerte sich zu essen. Und Amnon sprach: Lasst jedermann von mir hinausgehen! Und jedermann ging von ihm hinaus.
Amnon folgt dem Rat seines Freundes. David hat Amnons wahren Absichten nicht durchschaut. Obwohl er erfahren hat, was im Herzen eines Menschen vorgeht, ist er blind dafür, was sein Sohn will. Eine wichtige Lektion ist, dass wir den HERRN bitten, uns ein Auge dafür zu geben, was in unseren Kindern vor sich geht, und dass Er uns spüren lässt, was die wahren Motive sind, wenn sie uns um etwas bitten. Wir müssen lernen, zuerst zu Ihm zu gehen, bevor wir zustimmen. Einerseits müssen wir vor einer misstrauischen Haltung bewahrt werden. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch vor einer dummen Art von Vertrauen bewahrt werden, als ob unsere Kinder zu bestimmten Sünden nicht fähig wären.
Was Amnon in Vers 9 sagt, hat Joseph einmal gesagt (1Mo 45,1). Joseph sagte es auf dem Höhepunkt seiner Geschichte. Amnon sagt es am Tiefpunkt seiner Geschichte.
10 - 14 Amnon vergewaltigt Tamar
10 Da sprach Amnon zu Tamar: Bring das Essen in das innere Gemach, dass ich von deiner Hand esse. Und Tamar nahm die Kuchen, die sie zubereitet hatte, und brachte sie ihrem Bruder Amnon in das innere Gemach. 11 Und als sie ihm zu essen reichte, da ergriff er sie und sprach zu ihr: Komm, liege bei mir, meine Schwester! 12 Und sie sprach zu ihm: Nicht doch, mein Bruder! Entehre mich nicht, denn so tut man nicht in Israel; begehe nicht diese Schandtat! 13 Und ich, wohin sollte ich meine Schmach tragen? Und du würdest sein wie einer der Schändlichen in Israel. Und nun rede doch zum König, denn er wird mich dir nicht verweigern. 14 Aber er wollte nicht auf ihre Stimme hören; und er überwältigte sie und entehrte sie und lag bei ihr.
Als Tamar ihm das Essen bringt, bricht die Lust aus. Seine Begierde überwiegt so sehr, dass er sie statt der Nahrung ergreift. Zuerst versucht er, sie von sich aus dazu zu bringen, zu ihm ins Bett zu kommen. Tamar versucht ihn umzustimmen. Zunächst erinnert sie ihn an das Unerhörte einer solchen Tat in Israel. Dann sagt sie ihm, was für eine Schande er über sie bringen würde. Anschließend hält sie ihm vor, welche Folgen sein Handeln für ihn selbst haben wird. Schließlich bietet sie noch eine andere Lösung an, um mit ihm verbunden zu werden, und zwar, dass er den König fragen soll, ob er sie haben kann. Es ist alles vergeblich. „Aber er wollte nicht auf ihre Stimme hören; und er überwältigte sie und entehrte sie und lag bei ihr“ (Vers 14).
15 - 19 Amnon treibt Tamar weg
15 Und Amnon hasste sie mit sehr großem Hass; denn der Hass, mit dem er sie hasste, war größer als die Liebe, mit der er sie geliebt hatte. Und Amnon sprach zu ihr: Steh auf, geh! 16 Und sie sprach zu ihm: Es gibt keine Ursache zu diesem Bösen, mich wegzutreiben, das größer ist als das andere, das du mir angetan hast. Aber er wollte nicht auf sie hören. 17 Und er rief seinem Knaben, seinem Diener, und sprach: Treibt diese doch hinaus, von mir weg, und verriegle die Tür hinter ihr! 18 Sie trug aber ein langes Ärmelkleid; denn so waren die Töchter des Königs, die Jungfrauen, mit Gewändern bekleidet. Und sein Diener führte sie hinaus und verriegelte die Tür hinter ihr. 19 Da nahm Tamar Asche auf ihr Haupt und zerriss das lange Ärmelkleid, das sie anhatte, und sie legte ihre Hand auf ihr Haupt und ging und schrie im Gehen.
Amnon hat seinen Willen bekommen. Ist er jetzt zufrieden? Es ist entsetzlich zu lesen: „Und Amnon hasste sie mit sehr großem Hass; denn der Hass, mit dem er sie hasste, war größer als die Liebe, mit der er sie geliebt hatte. Und Amnon sprach zu ihr: Steh auf, geh!“ (Vers 15). Aus dieser Geschichte lernen wir zwei Dinge. Zunächst einmal sehen wir hier, wie ungeheuer groß die Macht des sexuellen Verlangens ist. Es ist eine unbezähmbare Kraft, wenn man nicht gelernt hat, sich selbst zu beherrschen durch die Kraft des Heiligen Geistes. Ein Teil der Frucht des Geistes ist „Enthaltsamkeit“ oder „Selbstbeherrschung“ (Gal 5,22.23). Die Kraft der Sexualität ist unwiderstehlich, wenn wir uns nicht den Regeln unterwerfen, die Gott uns in seinem Wort gegeben hat. Zweitens sehen wir, dass sich Amnons „Liebe“ in Hass verwandelt, nachdem er seiner Lust freien Lauf gelassen hat.
Diese beiden Lektionen wiederholen sich tagtäglich im Leben von (jungen) Menschen, die sich wie Amnon verhalten. Sie benutzen Sex als Sie benutzen Sex als gelegentliche Ware. Häufig haben Männer, die Mädchen verführt haben, später eine Abneigung gegen diese Mädchen entwickelt. Bei solchen Kontakten gibt es allerdings manchmal ein Mitwirken der Mädchen sprechen, was bei Tamar nicht der Fall war.
Wäre Amnon ein Mann gewesen, der noch etwas Anstand besäße, hätte er Tamar zur Frau genommen. Obwohl verbotener Geschlechtsverkehr sicherlich nicht mit Vergewaltigung gleichzusetzen ist, können wir eine wichtige Lehre aus der Geschichte von Amnon und Tamar ziehen. Diese Lektion besagt, dass unerlaubter Geschlechtsverkehr keine Sünde ist, die man mal schnell bekennen kann, wonach alles wieder in Ordnung ist.
Auf eine sehr intime Art und Weise hat sich jemand mit dem anderen eins gemacht. Nicht, dass daraus immer eine Ehe folgen muss. Ein Leib zu sein – das ist bei Sex außerhalb der Ehe der Fall – ist nicht dasselbe wie ein Fleisch zu sein, denn das wird nur über den Geschlechtsverkehr zwischen einem Mann und einer Frau gesagt, die verheiratet sind (1Kor 6,16). Die Schlussfolgerung zu ziehen, dass durch den Beischlaf keine Verpflichtungen entstehen, geht jedoch zu weit. Jeder Fall ist anders, und es wird Offenheit für den HERRN und füreinander nötig sein, um zu einer guten Entscheidung zu kommen.
Eine Tat zügelloser Begierde verursacht ein Meer von Elend. Tamar ist entehrt, die Familie ist in Schande gebracht, es herrscht Hass, und einige Zeit später kommt es zu Mord. Es ist eine traurige Wiederholung dessen, was Amnons Vater, König David, selbst getan hat. Er ließ sich auch von seiner Begierde leiten, als er sah, wie Bathseba sich badete (2Sam 11,2). Er ließ sie zu sich kommen und hatte Geschlechtsverkehr mit ihr, obwohl sie verheiratet war. Als er die Nachricht erhält, dass sie schwanger ist, versucht er heimlich, seine Tat zu verbergen. Das alles funktioniert nicht. Ihm bleibt nur noch eines, nämlich Urija, den Mann von Bathseba, im Kampf sterben zu lassen. Das ist gleichbedeutend mit Mord, König David wird zum Mörder.
Welches Elend ist aus dem unerlaubten Geschlechtsverkehr, ob vorehelich oder außerehelich, entstanden. Es ist zu hoffen, dass wir uns durch solch deutliche biblischen Beispiele warnen lassen (Spr 6,32–35; 7,1–27).
Es gibt einen weiteren Text, der keinen Zweifel daran lässt, wie Gott über voreheliche und außereheliche Beziehungen denkt: „Die Ehe sei geehrt in allem und das Ehebett unbefleckt; denn Hurer und Ehebrecher wird Gott richten“ (Heb 13,4). Die Ehe ist etwas, das als eine Einrichtung von Gott hoch angesehen und geschätzt werden sollte. Es muss Ehrfurcht dafür geben. Diese Ehrerbietung können wir nur dadurch zeigen, indem wir sie beachten und die Ehe als solche aufrechterhalten. Es wird für niemanden eine Ausnahme gemacht, sie muss „in allem“ geehrt werden.
Wenn das Ehebett befleckt ist, bedeutet dies, dass Ehebruch, unerlaubter Geschlechtsverkehr von jemandem vorliegt, der mit einer anderen Person als dem eigenen Ehepartner Geschlechtsverkehr hat. Ehebruch ist eine Form der Hurerei, aber Hurerei umfasst mehr als nur Ehebruch. Hurerei ist oft der Sammelbegriff für alle Formen der Unzucht, die eine unverheiratete Person begehen kann, indem sie mit jemandem Geschlechtsverkehr außerhalb der ehelichen Bindung hat.
Nach diesem Exkurs kehren wir zu Amnon zurück, dessen sogenannte Liebe zu Tamar nach seiner abscheulichen Tat sofort in Hass umschlägt (vgl. Hes 23,17). Hier sehen wir die Bedeutung des Wortes Liebe, wenn es in Wirklichkeit nur Eigenliebe bedeutet. Liebe muss in der glücklichen Atmosphäre und dem schützenden Band der Ehe wachsen. Nach dem Geschlechtsverkehr vor der Ehe besteht oft ein gewisses Maß an Abneigung. Auch wird die Schuld oft auf den anderen abgewälzt. Nur mit aufrichtigem Bekenntnis und tiefer Buße kann es eine Wiederherstellung geben.
Amnon kennt keine Liebe. Sobald er seine Lust befriedigt hat, ekelt er sich vor ihr. Das muss daran liegen, weil er den Ekel vor seiner Tat auf Tamar schiebt. Diese Erniedrigung geht über die körperliche Erniedrigung und Schande hinaus. Hier wird die Seele bis in die Tiefe verletzt.
Amnon ist völlig unempfindlich gegenüber dem, was er ihr angetan hat. Er schickt sie weg wie einen Hund. Tamar drückt die tiefe Schande, die ihr angetan wurde, aus, indem sie als Zeichen der Trauer Asche auf ihrem Kopf nimmt. Außerdem zerreißt sie das schöne Kleid ihrer Jungfräulichkeit. Mit ihrer Hand auf dem Kopf, möglicherweise als Symbol für das Elend, das über sie gekommen ist (vgl. Jer 2,37), geht sie laut schreiend weg.
20 - 22 Reaktionen von Absalom und David
20 Und ihr Bruder Absalom sprach zu ihr: Ist dein Bruder Amnon bei dir gewesen? Nun denn, meine Schwester, schweig still; er ist dein Bruder, nimm dir diese Sache nicht zu Herzen! Da blieb Tamar, und zwar einsam, im Haus ihres Bruders Absalom. 21 Und der König David hörte alle diese Dinge, und er wurde sehr zornig. 22 Und Absalom redete mit Amnon weder Böses noch Gutes; denn Absalom hasste Amnon, weil er seine Schwester Tamar entehrt hatte.
David ist der abwesende Vater. Tamar geht nicht zu ihm, sondern zu ihrem Bruder Absalom. Als sie zu ihm kommt, ahnt er sofort, was passiert ist. Er muss bemerkt haben, was Amnon für Tamar empfand. Vielleicht hat er auch gesehen, wie er sie ansah. Die Tat von Amnon kam nicht aus dem Nichts. Vielleicht war Amnon als ein sexueller Wüstling bekannt?
Während es in Absalom möglicherweise schon Pläne zur Rache gab, rät er seiner Schwester, nicht mit dem Geschehenem an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie solle sich auch nicht allzu sehr darum sorgen. Dies ist der Rat von Menschen, die ihre eigenen Vorstellungen über das Lösen von Problemen haben und keine Idee von Gottes Urteil darüber. Tamar scheint dem Rat zu folgen und zieht in das Haus ihres Bruders. Dort bleibt sie als einsame und verlassene Frau, deren Lebensfreude sich zu einer hoffnungslosen Öde verwandelt hat.
Als David davon hört, wird er wütend (Vers 21), aber dabei bleibt es auch (vgl. 1Sam 3,13b). Aus seiner Wut kommt nichts weiter. Er hat keine Macht, gegen seinen Sohn, den Kronprinzen, vorzugehen. Selbst Eltern von kleinen Kindern haben oft so wenig gegenüber ihren Kindern zu sagen. Es geht nicht darum, Kinder autoritär zu erziehen, sondern darum, sie „in der Zucht und Ermahnung des Herrn“ (Eph 6,4) zu erziehen. Kinder werden nicht durch die Ausübung reiner Macht, sondern durch Liebe gewonnen. Der HERR schenkt uns Kinder, damit wir sie mit liebevoller Autorität lehren können, wie sie sich seiner liebevollen Autorität unterwerfen können.
David ist für alles, was in seinem Haus geschieht, verantwortlich. Das Gericht kommt nicht nur wegen seiner Sünde mit Bathseba, sondern auch wegen seiner Sünde der Nachlässigkeit, nicht gegen das Böse in seiner Familie vorzugehen.
Amnon ist ein skrupelloser Mann, der keine Liebe kennt. Bei Absalom ist es nicht anders. Beide kennen nur eine Art der Liebe, und das ist die Liebe zu sich selbst. Absalom ist nicht nur lieblos, er ist auch hinterlistig, gemein und kann warten, wenn es sein muss zwei volle Jahre (Vers 23). Während dieser Wartezeit brennen die Hassgefühle in ihrer ganzen Intensität weiter. In der Zwischenzeit zeigt er im Umgang mit Amnon nichts von diesen Gefühlen. Absalom zeigt übrigens überhaupt nichts, „weder Gutes noch Böses“. Er bleibt auf dieser Ebene. Er entspricht den gewünschten Höflichkeiten, ohne etwas von dem zu zeigen, was ihn beschäftigt. Wenn er auch ein freundliches Wort gesprochen hat, so war dies nur eine Tarnung dessen, was in seinem Herzen ist (Ps 55,22a; Spr 26,24).
Auf diese Weise können Familienmitglieder und Mitglieder der Familie Gottes auf korrekte Weise miteinander umgehen, aber auch nicht mehr als das. Was sie im Wesentlichen verbindet, spielt keine Rolle. Beziehungen werden von Vorkommnissen dominiert, die nicht besprochen werden, sondern in denen der Sinn auf eine Gegenreaktion ausgerichtet ist.
23 - 29 Absalom tötet Amnon
23 Und es geschah nach zwei vollen Jahren, da hatte Absalom Schafscherer in Baal-Hazor, das bei Ephraim [liegt]; und Absalom lud alle Söhne des Königs ein. 24 Und Absalom kam zum König und sprach: Sieh doch, dein Knecht hat die Schafscherer; es gehe doch der König und seine Knechte mit deinem Knecht. 25 Aber der König sprach zu Absalom: Nicht doch, mein Sohn! Lass uns doch nicht allesamt gehen, dass wir dir nicht beschwerlich fallen. Und er drang in ihn; aber er wollte nicht gehen, und er segnete ihn. 26 Da sprach Absalom: Wenn nicht, so lass doch meinen Bruder Amnon mit uns gehen! Und der König sprach zu ihm: Warum soll er mit dir gehen? 27 Absalom aber drang in ihn; da ließ er Amnon und alle Söhne des Königs mit ihm gehen. 28 Und Absalom gebot seinen Knaben und sprach: Gebt doch Acht, wenn Amnon fröhlichen Herzens wird vom Wein und ich zu euch spreche: Erschlagt Amnon!, so tötet ihn, fürchtet euch nicht! Bin ich es nicht, der es euch geboten hat? Seid stark und seid tapfer! 29 Und die Knaben Absaloms taten Amnon, so wie Absalom geboten hatte. Da standen alle Söhne des Königs auf und bestiegen jeder sein Maultier und flohen.
Nachdem seit den im vorigen Abschnitt geschehenen Ereignissen zwei volle Jahre vergangen sind, arrangiert Absalom ein Fest. Es ist ein Fest anlässlich der Schafschur. In der Schrift ist noch zweimal die Rede von einem solchen Fest. Es sind keine positiven Erwähnungen. Sowohl bei diesen beiden Begebenheiten als auch hier ist die Rede von Ungerechtigkeit (1Mo 38,12–15; 1Sam 25,4–11).
Zu diesem Fest lädt Absalom David und alle seine Söhne ein. Der Zweck dieses Festes ist es, Amnon zu töten. David lehnt es ab, dass sie alle kommen, da dies Absalom zu viel Arbeit bereiten würde. Nach einigem Drängen bei David erhält er den Segen seines Vaters. Das ist das Zeichen für Absalom, dass er weiterhin darum bitten kann, das Fest abzuhalten, und dass vor allem sein „Bruder Amnon“ zu dem Fest kommen darf.
Als Vater ist David ein Mann ohne Rückgrat. Er ist leicht zu überreden. Während er selbst dabei anwesend ist, wird wieder etwas arrangiert, dessen Zweck ihm verborgen bleibt. David ist ein Fremder in seinem eigenen Haus. Später sagt Jonadab, dass es Absalom schon anzusehen war, was er beabsichtigte. David erkennt nicht, welche Folgen seine Zustimmung für das Fest Absaloms hatte, ebenso wenig durchschaute er vorher Amnons Bitte, als dieser darum bat, Tamar zu ihm kommen zu lassen (Vers 7). Das Ergebnis ist, dass er zwei Söhne verliert. Amnon wird getötet und Absalom flieht.
Absalom befiehlt seinen Dienern, Amnon zu töten, sobald er betrunken ist. Er kennt seinen Bruder als jemanden, der dem Wein gut zuspricht. Sie tun dies auf Geheiß von Absalom, der als Auftraggeber die Verantwortung für den Tod seines Bruders übernimmt. Alle anderen Söhne des Königs fliehen unmittelbar nach der Ermordung Amnons, fort aus der Umgebung des Mörders. Die Angst, ebenfalls getötet zu werden, hat zugeschlagen.
30 - 36 Jonadab klärt David auf
30 Und es geschah, während sie auf dem Weg waren, da kam die Nachricht zu David, indem man sprach: Absalom hat alle Söhne des Königs erschlagen, und nicht einer von ihnen ist übrig geblieben. 31 Da stand der König auf und zerriss seine Kleider und legte sich auf die Erde; und alle seine Knechte standen da mit zerrissenen Kleidern. 32 Da hob Jonadab, der Sohn Schimeas, des Bruders Davids, an und sprach: Mein Herr sage nicht: Sie haben alle Jünglinge, die Söhne des Königs, getötet; denn Amnon allein ist tot; denn nach dem Beschluss Absaloms stand es fest von dem Tag an, als er seine Schwester Tamar entehrt hat. 33 Und nun nehme mein Herr, der König, die Sache nicht zu Herzen, dass er spreche: Alle Söhne des Königs sind tot; sondern Amnon allein ist tot. 34 Und Absalom floh. Und der Knabe, der Wächter, erhob seine Augen und sah: Und siehe, viel Volk kam vom Weg hinter ihm, von der Seite des Berges. 35 Da sprach Jonadab zum König: Siehe, die Söhne des Königs kommen; wie dein Knecht gesagt hat, so ist es geschehen. 36 Und es geschah, sowie er ausgeredet hatte, siehe, da kamen die Söhne des Königs und erhoben ihre Stimme und weinten; und auch der König und alle seine Knechte brachen in ein sehr großes Weinen aus.
Das Gerücht erreicht David, dass alle seine Söhne von Absalom getötet worden seien. Das bringt ihn in tiefe Niedergeschlagenheit und Trauer. Er glaubt, alles sei verloren. Er zerreißt seine Kleider, denn sein Königtum hat für ihn keine Bedeutung mehr. Dann legt er sich auf die Erde. Auch das Leben hat für ihn keinen Sinn mehr.
Dann kommt Jonadab. Seine Bemerkungen zeigen, dass er die vollen zwei Jahre von Absaloms Plan wusste. Die Tatsache, dass er David nicht darüber informiert hat, ist ein weiterer Beweis für seinen verdorbenen Charakter. Gleichzeitig zeigt es aber auch, dass David Scheuklappen auf den Augen hatte. Eine andere Übersetzung besagt, dass es auf Absaloms Gesicht zu lesen war. Nur David hat es nicht gesehen.
Jonadab ist vom Tod seines Freundes Amnon nicht sehr beeindruckt. Er ist ein kühl berechnender Mann. Wir lesen nicht, dass er geweint hat. Er spricht mit David auf dieselbe Weise (Vers 33), wie Absalom mit seiner Schwester spricht, nachdem sie vergewaltigt wurde (Vers 20). David sollte sich darüber nicht allzu viele Sorgen machen und es sollte ihn nicht so sehr bekümmern. Diese Art von Trost kann nur von Menschen gegeben werden, die keine Beziehung zu Gott haben.
37 - 38 Flucht von Absalom
37 Absalom aber floh und ging zu Talmai, dem Sohn Ammihurs, dem König von Gesur. Und David trauerte um seinen Sohn alle Tage. 38 Absalom aber floh und ging nach Gesur; und er war dort drei Jahre.
Absalom floh zu seinem Großvater. Seine Mutter ist die Tochter des Königs von Gesur. Ihre Abstammung könnte den Charakter ihres Sohnes mitbestimmt haben. David hätte sie niemals heiraten dürfen. Absalom findet hier einen Zufluchtsort außerhalb des Wirkungskreises des Gesetzes Moses, als ob er sich dadurch seiner Autorität entziehen könne. Es ist eine Veranschaulichung der Tatsache, dass das Gesetz Gottes keinerlei Autorität für ihn hat.
39 David sehnt sich nach Absalom
39 Und der König David sehnte sich, zu Absalom hinauszuziehen; denn er hatte sich über Amnon getröstet, dass er tot war.
Nachdem David einige Zeit um Amnon getrauert hat, lässt seine Trauer nach, und er versöhnt sich mit seinem Tod. Es scheint, dass auch seine Abscheu vor Absaloms Sünde mit der Zeit abnimmt. Anstatt Absalom als Mörder zu verabscheuen, sehnt er sich danach, ihn zu treffen. Erst war er nicht in der Lage, ihn für den Mord an seinem Bruder gerecht zu bestrafen, jetzt ist er fast bereit, ihn wieder in Gunst anzunehmen. Dies zeigt die Schlaffheit Davids.
So wie Saul im ersten Buch Samuel einen großen Platz als Davids Gegner einnimmt, so nimmt Absalom im zweiten Buch Samuel einen großen Platz ein, ebenfalls als Gegner Davids. Beide Personen sind ein Abbild des Antichristen. Saul trachtet David nach dem Leben, bevor er seinen Platz auf dem Thron einnimmt. Absalom trachtet David nach dem Leben, als er auf dem Thron Platz genommen hat, aber noch nicht alle Feinde gerichtet sind, und das Friedensreich noch nicht angefangen hat. Absalom ist ein Bild Satans, dem Lügner und Menschenmörder.
Absalom ist in seinem Charakter noch verdorbener als Saul. Als Sohn hat er eine enge Beziehung zu David und dennoch rebelliert er gegen ihn. Je näher ein Mensch dem Guten ist, umso schlimmer wird sein Zustand, wenn er sich von dem Guten abwendet. Wir sehen dies auch treffend bei Judas, einem der zwölf Apostel des Herrn Jesus. Die Fülle der Gnade und Wahrheit, die im Herrn Jesus offenbart wird, bringt das Schlimmste im Menschen zum Vorschein.