1 - 5 Der Herr Jesus wird Pilatus überliefert
1 Und sogleich frühmorgens hielten die Hohenpriester samt den Ältesten und Schriftgelehrten und das ganze Synedrium Rat, und sie banden Jesus und führten ihn weg und überlieferten ihn Pilatus. 2 Und Pilatus fragte ihn: Bist du der König der Juden? Er aber antwortet und spricht zu ihm: Du sagst es. 3 Und die Hohenpriester klagten ihn vieler Dinge an. 4 Pilatus aber fragte ihn wieder und sprach: Antwortest du nichts? Sieh, wie vieler Dinge sie dich anklagen! 5 Jesus aber antwortete gar nichts mehr, so dass Pilatus sich verwunderte.
Sowohl der Prozess als auch das Gerichtsurteil und die Misshandlung des Angeklagten fanden alle in der Nacht statt. Als die Nacht vorüber ist, das erste Tageslicht sich zeigt und die, die das Verhör geführt haben, im Verspotten des Herrn Jesus auf ihre Kosten gekommen sind, beraten sich die Kläger und Richter. Sie haben nicht das Recht, eine Hinrichtung durchzuführen; und so müssen sie für den offiziellen Prozess mit Ihm zu Pilatus. Sie benötigen die Zustimmung von Pilatus, um Ihn zu töten. Die Hinrichtung wird daher auf die römische Weise stattfinden, nämlich durch Kreuzigung.
Für den Transport zu Pilatus binden sie den Herrn Jesus. Was für eine Torheit, zu meinen, den allmächtigen Gott binden zu können. Doch der allmächtige Gott lässt sich in Christus binden. Was für eine zusätzliche Torheit, die Hände zu binden, die so viel Segen verbreitet haben. Damit sagen sie gleichsam: Du darfst nicht mehr segnen. Der Mensch bestimmt damit sein eigenes Urteil. Er, der Simson die Kraft gab, sich seiner Stricke zu entledigen (Ri 16,12), lässt sich willig binden, wegführen und an Pilatus überliefern.
Als Er vor Pilatus steht, verhört dieser Ihn. Der Hohepriester hatte Ihn gefragt, ob Er der Christus sei. Diese Frage war für ihn als religiösen Führer wichtig. Die Hohenpriester wissen, dass sie Pilatus damit nicht kommen können. Deshalb beschuldigen sie Ihn vor Pilatus, dass Er sich zum König erklärt habe und daher eine Bedrohung für den Kaiser darstelle. Das sieht man an der Frage des Pilatus.
Für ihn als Regierenden ist die Frage wichtig, ob Jesus „der König der Juden“ ist. Er stellt diese Frage, und genau wie auf die Frage des Hohenpriesters antwortet der Herr auch auf diese Frage, weil es eine Frage zu seiner Person ist. Er antwortet nur, wenn es um die Wahrheit geht, und Er antwortet nicht, wenn es um das Unrecht geht, das Ihm angetan wird. Seine Antwort ist nicht: „Ich bin es“, sondern etwas vager: „Du sagst es.“ Damit legt Er seine Antwort auf Gewissen des Pilatus. Markus beschreibt nicht die Auseinandersetzungen der Juden vor Pilatus. Er richtet den Blick ganz auf den ergebenen Diener, der voller Hingabe seinen Dienst ausführt.
Die Hohenpriester tun ihr Äußerstes, Ihn so schlecht wie möglich zu machen, so dass Pilatus Ihn wohl oder übel verurteilen müsste. Wie tief ist der Mensch gesunken, wenn er alles Erdenkliche tut, um so viel belastendes Material wie möglich gegen Den zu sammeln, der Gott im Fleisch offenbart hat und der gekommen ist, um Menschen vom ewigen Gericht zu erretten. Sie lassen sich durch nichts anderes als durch Hass leiten.
Pilatus ist ein völlig gleichgültiger Mensch, der nur an sich und seine Position denkt. Er weiß, was bei den Juden dahintersteckt, dass sie Christus verurteilt sehen möchten; er weiß aber auch und hat es sogar ausgesprochen, dass Er unschuldig ist. Dennoch hat er Ihn schließlich verurteilt. Er sieht einen Gefangenen vor sich, wie er noch nie einen gehabt hat. Hier steht ein Mensch vor ihm, der auf keine einzige Anschuldigung eingeht und nichts zu seiner Verteidigung vorbringt. Er kennt die wüsten Szenen und Schimpfereien zwischen Klägern und Angeklagten, die sich vor ihm abgespielt haben. Dieser Gefangene ist eine große Ausnahme. Die Juden beschuldigen Ihn des Aufruhrs, während Er der vollkommen Ruhige ist.
„Er ... tat seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Schaf, das stumm ist vor seinen Scherern; und er tat seinen Mund nicht auf“ (Jes 53,7). Pilatus verwundert sich über diese Haltung. Eine solche Hingabe ist für einen Ungläubigen völlig unbegreiflich und leider auch für viele Gläubige. Für die Gläubigen ist der Herr Jesus darin ein Vorbild, dem sie nachfolgen sollen (1Pet 2,21–23).
6 - 15 Jesus oder Barabbas
6 Zum Fest aber pflegte er ihnen einen Gefangenen freizulassen, um den sie baten. 7 Es war aber einer, genannt Barabbas, mit den Aufrührern gebunden, die in dem Aufruhr einen Mord begangen hatten. 8 Und die Volksmenge erhob ein Geschrei und fing an zu begehren, dass er tue, wie er ihnen zu tun pflegte. 9 Pilatus aber antwortete ihnen und sprach: Wollt ihr, dass ich euch den König der Juden freilasse? 10 Denn er hatte erkannt, dass die Hohenpriester ihn aus Neid überliefert hatten. 11 Die Hohenpriester aber wiegelten die Volksmenge auf, dass er ihnen lieber Barabbas freilasse. 12 Pilatus aber antwortete und sprach wieder zu ihnen: Was wollt ihr denn, dass ich mit dem tue, den ihr König der Juden nennt? 13 Sie aber schrien wieder: Kreuzige ihn! 14 Pilatus aber sprach zu ihnen: Was hat er denn Böses getan? Sie aber schrien übermäßig: Kreuzige ihn! 15 Da aber Pilatus der Volksmenge einen Gefallen tun wollte, ließ er ihnen Barabbas frei und überlieferte Jesus, nachdem er ihn hatte geißeln lassen, damit er gekreuzigt würde.
Pilatus sucht einen Kompromiss. Er will den Juden einen Gefallen tun und gleichzeitig einen Unschuldigen nicht verurteilen. Indem er diesen Kompromiss sucht, zeigt er seine Ungerechtigkeit und verurteilt sich selbst, denn er hätte den Unschuldigen freilassen müssen, ohne darüber zu verhandeln.
Pilatus hat seiner Meinung nach einen annehmbaren Kandidaten neben Jesus zu stellen. Es ist Barabbas. Markus beschreibt diesen Mann ausführlicher als andere Evangelisten. Barabbas bedeutet „Sohn des Vaters“. Das ist der Herr Jesus auch. Doch was für ein himmelweiter Unterschied! Barabbas hat den Teufel zum Vater. Das hat sich in seinen Taten gezeigt. Er ist ein Aufrührer wie sein „Vater“ und ein Mörder, wie sein „Vater“ es von Anfang an war (Joh 8,44). Gleichzeitig ist er ein Vertreter des Volkes, das auch in Aufruhr gegen Gott ist und kurz davor steht, in diesem Aufruhr den Sohn Gottes zu ermorden. Indem Pilatus Barabbas neben Jesus stellt, lässt er das Volk wählen zwischen einem Mörder, der einem anderen das Leben nimmt, und dem Herrn Jesus, der selbst sein Leben geben wird und anderen Leben gibt.
Dieses Spektakel gefällt der Volksmenge. Sie drängen Pilatus, dass er ihnen tue, wie er ihnen zu tun pflegte. Das sorgte für Kurzweil und Diskussion. Für dieses Spiel sind sie auch jetzt zu haben. In diesem Evangelium geht die Initiative dazu von den Juden aus.
Pilatus versucht, die Wahl des Volkes zu beeinflussen, indem er ihnen vorschlägt, Christus freizulassen, den er den „König der Juden“ nennt. Gott lenkt die Dinge so, dass die Juden wählen müssen zwischen einem Mörder und Ihm, der das Leben gibt, also zwischen einem Aufrührer und dem vollkommenen Knecht Gottes. Auch heute noch geschieht die Wahl zwischen denselben Personen wie damals, und täglich entscheidet man sich für Barabbas.
Pilatus weiß um den Neid der Hohenpriester dem Herrn Jesus gegenüber. Er weiß, dass sie Ihn hassen, weil Er sich ihrer Autorität nicht unterwirft und weil Er großen Einfluss auf das Volk hat. Neid ist eine der schlimmsten und am häufigsten vorkommenden Sünden unter Gläubigen. Er ist der Ursprung aller Sünden. Es ist die erste Sünde in der Schöpfung, sowohl bei den Engeln (der Teufel) als auch bei den Menschen (Adam und Eva).
Die Hohenpriester tun ihr verderbliches Werk und wiegeln die Volksmenge auf, dass sie die Freilassung von Barabbas fordern sollen. In diesem Evangelium sind es vor allem die Priester, in denen der Hass und die Feindschaft gegen Christus zu finden sind. Wir sehen, wie unbeständig die Volksgunst ist, wenn kein Glaube an Christus vorhanden ist. Die Volksmenge hat massiv von Ihm profitiert, als Er segnend unter ihnen war. Da es nun so scheint, dass seine segnende Rolle zu Ende ist und sie nicht mehr von Ihm profitieren können, sind sie offen für die Beeinflussung durch die Hohenpriester. Daher fordern sie die Freilassung des Barabbas. Sie wählen den Tod anstelle des Lebens. Das ist der Zustand des Menschen.
Pilatus versucht es noch einmal, jetzt mit einer anderen Frage. Wenn sie denn Barabbas wählen, was wollen sie dann, dass er mit ihrem König tut? Mit all seiner Diplomatie spielt Pilatus den Feinden des Herrn immer mehr in die Hände. Er denkt, schlau zu sein, er ist aber einfach ein Instrument Satans. Er sucht nur seine eigene Wichtigkeit, während er versucht, Freund aller Parteien zu bleiben. Er ist ein Weichling und bestechlich, jemand, der die Gunst des Volkes mehr liebt als das Recht. Ein Richter, der das Volk fragt, was mit einem Gefangenen geschehen soll, aus Angst vor einem Aufstand und in der Folge Ärger mit seinen Vorgesetzten, ist ein korrupter und charakterloser Richter.
Mit seiner Frage legt Pilatus die Entscheidung in die Hände der Volksmenge. Dadurch hat er keinen Einfluss mehr auf das Volk und auf die Ausübung des Rechts. Mit seiner Frage legt er ihnen die Forderung in den Mund, Ihn zu kreuzigen. Das ist es, was sie wollen, und nichts anderes!
Pilatus macht einen letzten Versuch, das Volk zur Vernunft zu bringen. Er fragt sie, was Er denn für Böses getan habe. Er will einen Grund haben, Ihn zu verurteilen. Die Volksmenge ist allerdings inzwischen außer Rand und Band. Sie wollen Blut sehen, sein Blut. Jeder Versuch, Jesus freizulassen, wird mit einem noch entschiedeneren Schreien nach seinem Tod beantwortet. Die Bosheit und Verdorbenheit des Menschen werden in dem, was hier geschieht, in all ihren schrecklichen Facetten offenbar. An Äußerungen des Hasses und des Verderbens bleibt dem Herrn Jesus nichts erspart. Um Ihn geht es in diesem ganzen Spektakel. Das Verhalten jedes Einzelnen wird bestimmt von dem, wer Er ist. Er stellt jeden Menschen ins Licht (Joh 1,9).
Dann entspricht Pilatus dem Willen des Volkes und lässt ihnen Barabbas frei. Der Mann, der wegen Mordes verurteilt ist, darf frei ausgehen. So befreit der Herr sogar in diesem letzten Ereignis – im Prozess gegen Ihn – andere auf seine Kosten. Nie hat Er sich selbst gerettet, immer befreite, segnete und rettete Er andere auf eigene Kosten.
Alle Äußerungen und jede Handlung des Pilatus zeugen von der Willenlosigkeit dieses Mannes, der der Repräsentant der römischen Autorität ist. Er ist hier nur mit und für sich selbst beschäftigt und kümmert sich nicht um Wahrheit und Recht nach der Norm Gottes. Pilatus überliefert den Herrn, weil ihm das am besten passt. Er geißelt Ihn sogar noch. Auch wenn es tatsächlich durch Soldaten geschieht, so ist er doch verantwortlich, denn er gibt den Auftrag.
16 - 20 Verspottet
16 Die Soldaten aber führen ihn in den Hof hinein, das ist das Prätorium; und sie rufen die ganze Schar zusammen. 17 Und sie legen ihm einen Purpurmantel an und flechten eine Dornenkrone und setzen sie ihm auf. 18 Und sie fingen an, ihn zu grüßen: Sei gegrüßt, König der Juden! 19 Und sie schlugen ihn mit einem Rohrstab auf das Haupt und spien ihn an, und sie beugten die Knie und huldigten ihm. 20 Und als sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm den Purpurmantel aus und zogen ihm seine Kleider an; und sie führen ihn hinaus, um ihn zu kreuzigen.
Pilatus lässt seinen Soldaten freie Hand, mit dem Herrn zu tun, was sie wollen. Das ist Kurzweil für sie. Die ganze Heeresabteilung wird zusammengezogen, alle werden versammelt, um sich über Ihn zu belustigen.
Sie treiben Spott mit Ihm, indem sie Ihn wie einen König bekleiden. Auch krönen sie Ihn, jedoch mit einer Krone aus Dornen. Sie flechten diese eigenhändig. Ohne dass ihnen das bewusst ist, wird durch das Aufsetzen der Dornenkrone auf sein Haupt suggeriert, dass Er die Ursache des Fluches ist, der durch die Sünde in die Schöpfung hineingekommen ist. Nach dem Sündenfall brachte die Erde ja Dornen und Disteln hervor (1Mo 3,18).
Was für ein großartiges Spiel! Die Soldaten amüsieren sich enorm. Und der Herr Jesus lässt das zu, genauso wie sein Gott. Die Soldaten gehen in diesem Spiel ganz auf und grüßen Ihn spottend als „König der Juden“. Was für ein Entsetzen wird sie erfassen, wenn sie einmal vor diesem König stehen werden, wenn Er auf seinem Thron sitzt.
Jede Pein, die man Ihm bereiten konnte, hat Er durchlebt. Nach der Geißelung, die Er intensiv gespürt hat und wodurch sein Rücken eine blutige Masse geworden ist (Ps 129,3), schlagen sie mit einem Rohrstock die Dornen der Krone tief in sein Haupt. Der Rohrstock, mit dem sie schlagen, ist kein Schilfrohr, sondern ein echter Stock. Wieder wird Er angespuckt, ein Zeichen tiefster Verachtung. Sie knien in scheinheiliger Ehrerweisung vor Ihm nieder. Jede nur erdenkbare Schmach fügen sie Ihm zu. Für Ihn ist keine Verachtung zu grob. Dennoch kommt kein Seufzer zu Gott und kein Wort des Fluches gegen sie über seine Lippen. Er erträgt in seiner Seele alles mit seinem Gott. Das ist der Weg, den Er gehen muss, und Er geht ihn, ohne zu klagen.
Als sie sich ausgetobt haben, ziehen sie Ihm das Spottkleid aus und ziehen Ihm seine eigenen Kleider wieder an. Dann führen sie Ihn hinaus, um Ihn zu kreuzigen. Jetzt kommt der Weg zum Kreuz, der Weg, den der Herr allen vorausgeht, die Ihm folgen wollen. Darüber hat Er zu seinen Jüngern geredet. Die Welt hat für uns auch nichts anderes, zumindest wenn wir dem Herrn folgen wollen. Er bittet uns, das Kreuz täglich freiwillig auf uns zu nehmen und Ihm in seiner Verwerfung zu folgen (Lk 9,23).
21 - 28 Die Kreuzigung
21 Und sie zwingen einen Vorübergehenden, einen gewissen Simon von Kyrene, der vom Feld kam, den Vater von Alexander und Rufus, sein Kreuz zu tragen. 22 Und sie bringen ihn zu der Stätte Golgatha, was übersetzt ist: Schädelstätte. 23 Und sie gaben ihm Wein, mit Myrrhe vermischt; er aber nahm es nicht. 24 Und als sie ihn gekreuzigt hatten, verteilen sie seine Kleider unter sich, indem sie das Los darüber werfen, was jeder bekommen sollte. 25 Es war aber die dritte Stunde, und sie kreuzigten ihn. 26 Und als Aufschrift mit seiner Beschuldigung war angeschrieben: Der König der Juden. 27 Und mit ihm kreuzigen sie zwei Räuber, einen auf der rechten und einen auf seiner linken Seite. 28 [findet sich erst in späteren Handschriften: Und die Schrift wurde erfüllt, die sagt: „Und er ist unter die Gesetzlosen gerechnet worden“ (Jes 53,12)]
Der Herr Jesus ist durch alle Misshandlungen so sehr geschwächt, dass das Tragen des Kreuzes eine enorme Last für Ihn bedeutet. Er, der das Weltall durch das Wort seiner Macht trägt (Heb 1,3), ist so wirklich Mensch, dass seine Kräfte wegen der Leiden, die Er durchlebt hat, aufgezehrt sind. Dennoch schreibt Er die Leiden nicht den Menschen zu, die sie Ihm zufügen, sondern Gott (Ps 102,24).
Die Soldaten denken wohl, dass Er möglicherweise der Last erliegen wird, noch bevor sie Ihn gekreuzigt haben. Darum zwingen sie jemanden, der – für sie zufällig – vorbeikommt, das Kreuz für Ihn zu tragen. Es ist symbolisch, dass Simon vom Feld kam. Seine Arbeit war geschafft, er hatte sie beendet. Indem er das Kreuz des Herrn Jesus auf sich nimmt, wird er mit der Verachtung einsgemacht, die das Teil des Herrn ist. Von Simon wird besonders erwähnt, dass er der Vater von Alexander und Rufus ist. Rufus wird später von Paulus „der Auserwählte im Herrn“ genannt (Röm 16,13). Gott segnet das, was der Vater tut, an seinen Kindern.
Die Soldaten bringen ihren Gefangenen zum Ort der Hinrichtung. Golgatha war ein Hügel unmittelbar vor Jerusalem, außerhalb des Lagers (Heb 13,13). Wegen der Form des Hügels, der aus Entfernung wie ein Schädel aussieht, wird dieser Ort wahrscheinlich so genannt. Gleichzeitig ist er ein Symbol für die vielen Hingerichteten.
Eine Kreuzigung ist der denkbar schrecklichste Märtyrertod. Im Hinblick darauf wurde den Verurteilten ein Gemisch aus Wein und Myrrhe zu trinken gegeben, das wie eine Betäubung wirkte. Dieses Mittel wird auch dem Herrn gegeben. Er weigert sich jedoch, es zu nehmen (Ps 69,22). Er will das Leiden bei vollem Bewusstsein durchleben.
Dann wird der Herr gekreuzigt. Markus und auch die anderen Evangelisten beschreiben diese Tat in schlichten Worten. Die Leiden sind jedoch schrecklich. Der Herr wird ans Kreuz genagelt, Nägel werden durch seine Hände gebohrt, die immer nur Gutes getan haben. Nachdem sie seine Hände gebunden haben, werden sie nun durchgraben. Auf diese Weise „würdigt“ der Mensch Ihn, der ihnen in Gnade und Segen Gott offenbart hat.
Seine Kleider, die von seiner ganzen Offenbarung unter ihnen sprechen, sind das Einzige, das verteilt werden kann. Mehr Besitz hat Er nicht. Er hinterlässt keinen Wohlstand. Nur seine Kleider sind noch etwas wert. Sie losen darum, was sich jeder bekommen darf. Wer wird später in einem Kleidungsstück umhergehen, in dem der Herr Jesus umhergegangen ist?
Der Zeitpunkt der Kreuzigung wird deutlich angegeben. Der Herr hat sechs Stunden am Kreuz gehangen. Alle sechs Stunden war Er das Brandopfer, d. h. ein Opfer, das vollkommen Gott geweiht ist und an dem Gott vollkommenes Wohlgefallen findet. Es sind zwei Zeitabschnitte von je drei Stunden. Die erste Periode von drei Stunden geht von der dritten bis zur sechsten Stunde, nach unserer Zeitrechnung von morgens neun Uhr bis zwölf Uhr. In diesen drei Stunden war Er das Brandopfer, jedoch noch nicht das Sünd- und Schuldopfer.
Markus erwähnt auch die Aufschrift über dem Kreuz. Diese Aufschrift gibt die Anschuldigung wieder und den Grund seines Kreuzestodes. Er hängt dort, weil Er gesagt hat, dass Er der König der Juden sei. Um seine Schmach zu vergrößern und seine Erniedrigung vollständig zu machen, wird Er in die Mitte zwischen zwei Räubern gehängt, als wäre Er der größte Räuber. Nach der Schrift ist Er „den Übertretern beigezählt worden“ (Jes 53,12). So hatten sie Ihn auch gefangen genommen: Wie gegen einen Räuber waren sie gegen Ihn losgezogen (Mk 14,48).
29 - 32 Am Kreuz verspottet
29 Und die Vorübergehenden lästerten ihn, indem sie ihre Köpfe schüttelten und sagten: Ha, der du den Tempel abbrichst und in drei Tagen aufbaust, 30 rette dich selbst und steige herab vom Kreuz. 31 Ebenso spotteten auch die Hohenpriester samt den Schriftgelehrten untereinander und sprachen: Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. 32 Der Christus, der König Israels, steige jetzt vom Kreuz herab, damit wir sehen und glauben. Auch die mit ihm gekreuzigt waren, schmähten ihn.
Die Vorübergehenden lästern den Herrn, während sie doch zugleich die Wahrheit sagen. Wenn Menschen Vorübergehende bleiben und beim Kreuz nicht stillstehen, um wirklich zu verstehen, was da geschieht, werden sie zu Lästerern (vgl. Klgl 1,12). Sie lästern Ihn, weil sie aus sich heraus – und jetzt nicht von den Hohenpriestern angestachelt – den Herrn als Lügner hinstellen. Für sie ist das, was der Herr gesagt hat, unaufrichtig. Doch indem sie diese Aussagen zitieren, machen sie unbewusst seine Herrlichkeit und Vollkommenheit bekannt. Zugleich helfen sie mit, diese Aussage wahr zu machen. Sie sind damit beschäftigt, den Tempel seines Leibes abzubrechen, den Er nach wenigen Tagen wieder aufbauen wird.
Die Aufforderung, sich selbst zu retten und vom Kreuz herabzukommen, beweist ihre Blindheit in Bezug auf den Plan Gottes. Wenn Christus sich selbst erlöst hätte, hätte es für niemanden Rettung gegeben. Wenn Er vom Kreuz herabgestiegen wäre, müsste jeder Mensch das Gericht Gottes selbst tragen. Die Macht seiner Liebe zu seinem Gott und auch zur Gemeinde und zu jedem einzelnen Gläubigen hielt Ihn am Kreuz fest.
Die Verspottung seitens der Hohenpriester samt den Schriftgelehrten untereinander trägt unbeabsichtigt ebenfalls zu seiner Herrlichkeit bei. Sie sprechen eine tiefe Wahrheit aus. Niemals hat der Er sich selbst gerettet, Er hat immer nur an andere gedacht. Er hat tatsächlich andere gerettet, und sich selbst konnte Er nicht retten, weil die Bande der Liebe Ihn am Kreuz festhielten.
Sie haben schon so viel vom Herrn Jesus gesehen und verharren trotz alledem in ihrem Unglauben. Ihr Unglaube hat sich als so hartnäckig erwiesen, dass selbst dann, wenn Er vom Kreuz herabgestiegen wäre, sie dennoch nicht glauben würden. Um zu glauben, ist ein demütiger und zerschlagener Geist nötig.
Auch die mit Ihm gekreuzigt sind, schmähen Ihn. Die Erniedrigung des Herrn und der Hass des Menschen sind so groß, dass der Mensch sogar in seinem eigenen Todeskampf Zeit findet, das Leiden des Sohnes Gottes noch zu vergrößern. Und warum? Hatte Er ihnen denn Böses getan? Doch der Hass des Menschen gegenüber dem Herrn wird dort in all seinen Facetten offenbar. Alles ist gegen Ihn. Doch das Schlimmste muss noch kommen.
33 - 37 Das Sterben des Herrn Jesus
33 Und als die sechste Stunde gekommen war, kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde; 34 und zur neunten Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: Eloi, Eloi, lama sabachtani?, was übersetzt ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? 35 Und als einige der Dabeistehenden es hörten, sagten sie: Siehe, er ruft Elia. 36 Einer aber lief und füllte einen Schwamm mit Essig und legte ihn um einen Rohrstab und gab ihm zu trinken und sprach: Halt, lasst uns sehen, ob Elia kommt, um ihn herabzunehmen. 37 Jesus aber gab einen lauten Schrei von sich und verschied.
Dann bricht die sechste Stunde an. Es ist mitten am Tag. Als die Sonne am höchsten Punkt am Himmel steht, wird es im ganzen Land völlig finster. Bis dahin konnten alle Leiden des Herrn Jesus von jedem wahrgenommen werden. Die Leiden für die Sünde, die nun folgen, finden in der Finsternis statt, ohne dass ein menschliches Auge sie wahrnehmen kann. Diese Finsternis dauert drei Stunden. In diesen drei Stunden der Finsternis wird der Sohn Gottes mit den Sünden aller beladen, die an Ihn glauben. Er wird von Gott zur Sünde gemacht und Gott richtet Ihn. Er verschont Ihn nicht. Das Gericht, das Gott an seinem eigenen geliebten Sohn vollzieht, wird dem menschlichen Auge entzogen. Die Abrechnung findet allein zwischen Gott und seinem Sohn statt. In diesen Stunden ist der Herr Jesus neben dem Brandopfer auch das Sünd- und Schuldopfer.
Nachdem die drei Stunden der Finsternis vorbei sind, hören wir die Klage des Herrn, dass sein Gott Ihn verlassen hat. Das sind die größten Leiden. In diesen Stunden ist Gott, der immer bei Ihm war, gegen Ihn. Das Schwert der Gerechtigkeit Gottes ist gegen den Mann erwacht, der immer sein Genosse war (Sach 13,7).
Die ersten drei Stunden litt der Herr vonseiten der Menschen. In den zweiten drei Stunden litt Er vonseiten Gottes. Die Folge der ersten drei Stunden ist, dass der Mensch seine Schuld Gott gegenüber vergrößert und zu einem Höhepunkt gebracht hat. Gottes Antwort darauf ist sein Gericht über den Menschen. Die Folge der zweiten drei Stunden ist die Versöhnung, die Gott sogar dem größten Lästerer anbieten kann.
Die Klage des Herrn ist die Frage an Gott – den Er „mein Gott“ nennt –, warum Er Ihn verlassen habe. Er wusste es zwar, doch Er spricht diese Klage aus, damit wir verstehen sollten, wie unsäglich seine Leiden wegen des Verlassenseins von Gott waren. Er hatte alles mit seinem Gott durchlebt, während alle Ihn verlassen hatten, doch jetzt wurde Er auch von Gott alleingelassen.
Diese Einsamkeit ist die Einsamkeit, die jeder Mensch für ewig erfahren wird, der im Unglauben stirbt, jedoch ohne die Frage nach dem Warum. Jeder Mensch, der in der Hölle sein wird, wird wissen, warum er dort ist. Zugleich wird er seine Einsamkeit ganz anders erleben. Er, dessen tiefste Freude es war, in der Nähe Gottes zu sein, und der das auch immer war, hat den Verlust auf einzigartige Weise erfahren. Kein einziger Ungläubiger, der verlorengeht, wird das je so erfahren. Im Gegenteil. Er ist darin der Einzige.
Nachdem die drei Stunden der Finsternis vorüber sind, spotten die Menschen einfach weiter. Die Erklärung seiner Worte, Er würde Elia rufen, beweist das. Es kann auch sein, dass jemand diese Bemerkung abgibt, der die Sprache nicht versteht und meint, „Elia“ zu hören, während der Herr „Eloi“ sagt.
Der Herr ist durstig. Jemand gibt Ihm zu trinken, damit Er etwas länger leben und der Ruf nach Elia möglicherweise erhört werden könnte. So verspottet der Mensch Ihn. Doch sein Leben und sein Sterben sind nicht in der Hand von Menschen. Er stirbt zu der Zeit, die Gott bestimmt hat. Völlig in Übereinstimmung damit übergibt der Herr seinen Geist freiwillig in die Hände des Vaters.
Er stirbt nicht an Erschöpfung, sondern legt sein Leben selbst ab (Joh 10,17.18). Was hat Er noch in einer Welt zu tun, in der Er nur lebte, um den Willen Gottes zu vollbringen? Alles ist vollendet und Er muss notwendigerweise hingehen, weil Er von der Welt verworfen ist. Dadurch ist in dieser Welt kein Platz mehr für seine Barmherzigkeit gegenüber der Welt.
Er gibt den Geist auf, gehorsam bis zum Ende, um in einer anderen Welt (ob für seine Seele, getrennt vom Körper, ob in der Herrlichkeit) ein Leben zu beginnen, wohin das Böse nie kommen kann und wo der neue Mensch vollkommen glücklich in der Gegenwart Gottes sein wird.
38 - 39 Direkte Folgen des Sterbens des Herrn
38 Und der Vorhang des Tempels zerriss in zwei Stücke, von oben bis unten. 39 Als aber der Hauptmann, der ihm gegenüber dabeistand, sah, dass er so schrie und verschied, sprach er: Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn!
Nachdem nun der Tod zunichtegemacht ist und die einzige gerechte Grundlage für das Leben und die Erlösung gelegt ist, ist das jüdische System damit verurteilt. Das Urteil wird an dem vollzogen, was das charakteristische und zentrale Kennzeichen bildete: am Vorhang. Dieser Vorhang deutete symbolisch an, dass Gott innerhalb war und der Mensch draußen stand. Das große Wunder besteht darin, dass durch den Tod Christi Gott zugleich zu dem Menschen hinaus kommt und der Mensch Gott nahen kann. Das unmittelbare Ergebnis seines Todes ist ein freier Zugang zu Gott. Das ist eine Tat Gottes: Er zerreißt den Vorhang von oben nach unten. Der Zugang zu Gott ist frei. Der Mensch kann aufgrund des Blutes Christi in die Gegenwart Gottes eintreten (Heb 10,19).
Sein Volk hat Ihn verworfen und vergnügt seinen Tod wahrgenommen. Es gibt jedoch einen römischen Hauptmann, der ebenfalls seinen Tod festgestellt hat, der aber dadurch zu dem Bekenntnis kommt, dass Er der Sohn Gottes war. Dieser Heide bekennt als Wahrheit, was die Hohenpriester zum Anlass für seine Verurteilung und seinen Tod genommen hatten (Mk 14,61–64).
40 - 41 Die Frauen beim Kreuz
40 Es waren aber auch Frauen, die von weitem zusahen, unter denen auch Maria Magdalene war und Maria, die Mutter von Jakobus dem Kleinen und von Joses, und Salome, 41 die ihm, als er in Galiläa war, nachgefolgt waren und ihm gedient hatten; und viele andere, die mit ihm nach Jerusalem hinaufgezogen waren.
Von den Jüngern ist niemand beim Kreuz zu finden, es stehen dort wohl Frauen. Diese Frauen zeigen eine größere Hingabe und folgen dem Herrn Jesus weiter als die Jünger, die geflohen waren. Sicher stehen sie in einiger Entfernung von Ihm, doch sie haben Ihn nicht aus den Augen verloren. Der Tod brachte keine Trennung zwischen die Herzen dieser schwachen Frauen und den Herrn, weil sie Ihn liebten.
Es sind viele Frauen, die dem Herrn Jesus nachfolgen. Sie zeigen ein größeres Mitgefühl als Männer. Sie kommen im Allgemeinen auch eher zur Bekehrung als Männer, weil sie ein größeres Empfinden für das Elend und den Schmerz haben, die durch die Sünde in die Welt gekommen sind. Dadurch suchen sie in Ihrer Schwachheit Hilfe und Stütze bei dem wahren Boas (Rt 2,1). Boas bedeutet: „In ihm ist Stärke.“ Männer sind weniger einfühlsam bei Elend und Schmerz und dadurch weniger schnell geneigt, Hilfe bei einem anderen zu suchen.
42 - 47 Das Begräbnis
42 Und als es schon Abend geworden war (weil es ja Rüsttag war, das ist der Vorsabbat), 43 kam Joseph von Arimathia, ein angesehener Ratsherr, der auch selbst das Reich Gottes erwartete, und ging kühn zu Pilatus hinein und bat um den Leib Jesu. 44 Pilatus aber wunderte sich, dass er schon tot sei; und er rief den Hauptmann herzu und fragte ihn, ob er schon lange gestorben sei. 45 Und als er es von dem Hauptmann erfuhr, schenkte er Joseph den Leib. 46 Und er kaufte feines Leinentuch, nahm ihn herab und wickelte ihn in das feine Leinentuch und legte ihn in eine Gruft, die aus einem Felsen gehauen war; und er wälzte einen Stein an den Eingang der Gruft. 47 Aber Maria Magdalene und Maria, die Mutter von Joses, sahen zu, wo er hingelegt wurde.
Dieser Tag geht zu Ende, ein Tag, an den ewig gedacht werden wird, weil da ein Werk ausgeführt wurde, dessen Folgen bis in Ewigkeit zu sehen sein werden. Für die Juden ist es auch besonderer Tag, nämlich der Vorsabbat, an dem in diesem Fall auch die Vorbereitung für das Passah stattfindet. Für den Glauben ist die große Vorbereitung für das wahre Passah zustandegebracht, denn das Passahlamm ist gestorben (1Kor 5,7). Der Unglaube macht weiter mit den religiösen Gewohnheiten, die für Gott ein Gräuel sind.
Der Tod des Herrn Jesus ist für einen verborgenen Jünger der Anlass, hervorzutreten. Joseph hat den Mut, zu Pilatus zu gehen und ihn um den Leib Jesu zu bitten. Er ist ein angesehener Ratsherr, mit dem Pilatus vielleicht schon öfter wegen Verwaltungsdingen zu tun hatte. Dem demütigen Diener dient in seinem Tod ein angesehener Ratsherr. Innerlich war Joseph ein Jünger des Herrn, der seine Regierung herbeisehnte. Jetzt macht er sich öffentlich mit einem verworfenen und gestorbenen König eins.
Pilatus wundert sich darüber, dass der Herr schon gestorben ist. Normalerweise ist der Kreuzestod ein langsamer Tod, der manchmal erst nach Tagen schrecklichster Leiden eintritt. Bei dem Herrn Jesus dauerte es nur einige Stunden. Er hatte nichts mehr zu tun. Deshalb brauchte Er auch nicht länger am Leben zu bleiben. Als Einziger konnte Er sein Leben in dem Augenblick ablegen, der dazu gekommen war.
Pilatus will sicher gehen im Blick auf den Tod dieses besonderen Verurteilten. Als er von dem Hauptmann die Bestätigung des Todes Jesu erhalten hat, gibt er den Leib frei. Joseph kann ihn haben. Während kein einziges Familienmitglied des Herrn da ist, um sich des Leibes zu erbarmen, nachdem Er gestorben ist, hat Gott doch jemanden, der für seinen Sohn sorgt.
Die Zelthütte des Sohnes Gottes, die Er soeben verlassen hat, bleibt nicht ohne diese Fürsorge, die Ihm vonseiten der Menschen zukommt. Gott sorgt dafür. Joseph wickelt Ihn in ein Leinentuch. Der Herr wird in Tüchern begraben. Er wurde in Tücher eingewickelt, als Er geboren wurde (Lk 2,7). Das reine Leinen passt zu dem reinen Knecht, genauso wie ein reines Grab, das nie mit dem Tod in Berührung gewesen ist.
Auch bei diesen Handlungen schauen die Frauen zu. Sie bleiben bei ihrem Herrn, weil sie an Ihm hängen. Wo Er ist, da wollen auch sie sein. Das ist die Gesellschaft, die bei seinem Begräbnis anwesend ist. Der Herr ist in größter Armut und Einsamkeit gestorben. Jetzt, wo Er begraben wird, sind keine großen Volksmengen anwesend.