1 - 12 Der Tod Johannes des Täufers
1 Zu jener Zeit hörte Herodes, der Vierfürst, die Kunde von Jesus 2 und sprach zu seinen Dienern: Dieser ist Johannes der Täufer; er ist von den Toten auferstanden, und darum wirken solche Kräfte in ihm. 3 Denn Herodes hatte Johannes gegriffen, ihn gebunden und ins Gefängnis gesetzt wegen Herodias, der Frau seines Bruders Philippus. 4 Denn Johannes hatte ihm gesagt: Es ist dir nicht erlaubt, sie zu haben. 5 Und er wollte ihn töten, fürchtete [aber] die Volksmenge, weil sie ihn für einen Propheten hielten. 6 Als aber der Geburtstag des Herodes begangen wurde, tanzte die Tochter der Herodias vor ihnen, und sie gefiel Herodes, 7 weshalb er mit einem Eid zusagte, ihr zu geben, was irgend sie erbitten würde. 8 Sie aber, von ihrer Mutter angewiesen, sagt: Gib mir hier auf einer Schale das Haupt Johannes’ des Täufers. 9 Und der König wurde traurig, [aber] um der Eide und um derer willen, die mit zu Tisch lagen, befahl er, [es] zu geben. 10 Und er sandte hin und ließ Johannes im Gefängnis enthaupten. 11 Und sein Haupt wurde auf einer Schale gebracht und dem Mädchen gegeben; und sie brachte [es] ihrer Mutter. 12 Und seine Jünger kamen herzu, hoben den Leichnam auf und begruben ihn. Und sie kamen und berichteten es Jesus.
Dieser Abschnitt handelt von Herodes Antipas, dem Sohn von Herodes dem Großen, der zur Zeit der Geburt Jesu regierte. Herodes Antipas war der Nachfolger seines Vaters als König über Galiläa. Diese Bezeichnung, König eines Teilgebietes von Israel, zeigt schon, in was für einem betrüblichen Zustand sich Israel befand. Es war nämlich kein freies Volk, und Herodes war nichts anderes als ein Strohmann der Römer, den wirklichen Machthabern über Israel. So war Israel beherrscht von Heiden, nicht von einem König nach dem Herzen Gottes.
Dieser Mann Herodes trägt nun die Verantwortung dafür, dass der Vorläufer des Herrn umgebracht wird. Das Volk, über das er als Vierfürst teilweise regiert, wird in seiner Gesamtheit die Schuld dafür tragen, dass der Herr Jesus getötet wird. Deshalb können wir in den moralischen Charakterzügen des Herodes ein Spiegelbild der Charakterzüge des gesamten Volkes sehen.
Das Gerücht über den Herrn Jesus ist bis zu Herodes durchgedrungen, was in dem verworrenen Geist dieses Mannes sofort abergläubische Ideen aufkommen lässt, die er auch seinen Knechten bekanntmacht. Es fällt dabei auf, dass dieser Ungläubige über Totenauferweckung redet, denn er meint ja, Johannes der Täufer sei auferweckt worden. Sein Gewissen ist belastet, denn er hat Johannes den Täufer ermordet. Daran wird er durch die Kunde vom Herrn Jesus erinnert. Nicht, dass Johannes jemals Wunder getan hätte (Joh 10,41). Auch hatte er klar gesagt, dass er nicht der Christus sei (Joh 1,20).
Eigentlich ist es ja nicht schlecht, dass auch nach dem Tod des Johannes ihm ein solches Zeugnis ausgestellt wird. So wäre es auch ein schönes Zeugnis, wenn Menschen, die etwas über den Herrn Jesus hören, unwillkürlich an uns denken müssen.
Herodes hat ein gott- und sittenloses Leben geführt. Johannes hat sich oft mit ihm unterhalten, und Herodes hörte ihn gern (Mk 6,20). Das heißt natürlich nicht, dass Johannes ihm nur nette Sachen gesagt hat. Das Einzige, was die Schrift von den Gesprächen dieser beiden wiedergibt, ist: „Es ist dir nicht erlaubt, sie zu haben.“ Immer wieder hat Johannes Herodes auf sein unzulässiges Verhältnis mit Herodias angesprochen.
Johannes hat dem Wein kein Wasser hinzugefügt, obwohl ihm das den Hass der Herodias eintrug. Diese verdorbene Frau hat dafür gesorgt, dass Johannes ins Gefängnis kam. So wollte sie ihn zum Schweigen bringen. Auch Herodes wollte ihn am liebsten töten. Obwohl er Johannes gern hörte, wollte er doch sein sündiges Leben nicht ändern. Nur der Respekt vor dem Volk hat ihn davon abgehalten, ihn zu töten.
Nun aber kommt für Herodias eine hervorragende Gelegenheit, Johannes endgültig zu beseitigen. Ihre ebenso gottlose Tochter tanzt vor allen Gästen am Geburtstag des Herodes. Mit „Augen voll Ehebruch“ (2Pet 2,14) haben Herodes und die geladenen Gäste ihren Auftritt beobachtet. In Bewunderung ihrer Tanzkünste verspricht Herodes ihr unter Eid, ihr jede Belohnung zu geben, die sie wünscht. Ebenso wie er sich durch seine vielen Beobachter leiten oder auch zurückhalten ließ, lässt er sich jetzt von seinen Begierden leiten, Dinge auszusprechen, deren Tragweite ihm überhaupt nicht bewusst ist.
Sowohl die Mutter als auch das Mädchen sind so sehr von Hass gegen den Zeugen Gottes erfüllt, dass ihnen das Haupt Johannes des Täufers mehr wert ist als alle Reichtümer, die sie sich auch hätten wünschen können. Die gottlose Frau Herodias ist geistlicherweise eine Nachfahrin Isebels, die Elia (mit dem Johannes verglichen wird) das Leben nehmen wollte (1Kön 19,2). Und das Mädchen ist keinen Deut besser als ihre Mutter.
Die Betrübnis des Königs zeigt, dass er eine gewisse Sympathie für Johannes hatte, aber Herodes wollte lieber seine irdische Macht und Herrlichkeit einsetzen, als sich dem Zeugnis Gottes zu unterwerfen. Seine Ehrsucht und seine Angst vor Gesichtsverlust machen ihn zum Mörder an dem Zeugen Gottes. Es wird hier so dargestellt, als habe Herodes Johannes eigenhändig enthauptet, obwohl dieses Todesurteil durch das Schwert seines Knechtes vollstreckt wurde. Und so wird dieser treue Mann, der seinen Finger auf die Sünde des Herodes und der Herodias gelegt hatte, aus ihrem Gesichtsfeld entfernt. Als letzte Erinnerung erscheint das Haupt des Johannes noch einmal vor den Augen dieser Frau. Ihre verhärtete Seele freut sich, dass sie sich seiner jetzt entledigt hat. Aber in der Auferstehung wird Johannes sein Zeugnis gegen sie wiederholen, und sie wird in die Hölle geworfen werden.
Nachdem Johannes getötet ist, nehmen seine Jünger seinen Leichnam, begraben ihn und gehen danach zum Herrn, um Ihm alles zu erzählen. Es ist auffallend, dass Johannes immer noch Jünger hatte, obwohl der Herr Jesus jetzt gekommen war. Das beweist, wie schwer es uns Menschen fällt, Traditionen abzuschütteln.
13 - 14 Der Herr sucht die Einsamkeit
13 Als aber Jesus es hörte, zog er sich in einem Schiff von dort zurück an einen öden Ort für sich allein. Und als die Volksmengen es hörten, folgten sie ihm zu Fuß aus den Städten. 14 Und als er ausstieg, sah er eine große Volksmenge, und er wurde innerlich bewegt über sie und heilte ihre Schwachen.
Als der Herr hört, was Johannes widerfahren ist, sucht Er die Einsamkeit und Ruhe. Wir sehen hier, wie wahrhaftig Er Mensch geworden ist. Als der ewige Gott weiß Er natürlich genau, was geschehen ist und hätte Er es auch verhindern können. Als wahrhaftiger Mensch aber übergibt Er alles seinem Gott.
So sucht Er also einen wüsten Ort in der Einsamkeit auf, um wegen dieses Geschehens mit seinem Gott allein zu sein. Obwohl Er über Johannes hoch erhaben war, hatte Er doch mit ihm zusammen inmitten des Volkes Israel ein Zeugnis für Gott abgelegt. In seinem Herzen fühlte Er sich mit Johannes verbunden. So zieht Er sich jetzt zurück – nicht nach Jerusalem, sondern an einen wüsten Ort.
Lange kann der Herr mit seinem Schmerz allerdings nicht allein sein, denn auch dort laufen die Menschen Ihm nach. Und als Er sie sieht, ist Er gleich wieder von Erbarmen über sie bewegt. Die Gleichgültigkeit in Nazareth und die Bosheit des Herodes haben Ihn nicht verändert. Sein Herz ist voll unwandelbaren Mitleids mit Menschen in Not, um ihnen Gutes zu tun. Er kann nicht anders als gemäß seiner vollkommen guten Natur zu handeln. Deshalb versorgt Er sein Volk in der nun folgenden Geschichte mit Brot.
15 - 21 Speisung der Fünftausend
15 Als es aber Abend geworden war, traten die Jünger zu ihm und sprachen: Der Ort ist öde, und die Zeit ist schon vergangen; entlass die Volksmengen, dass sie hingehen in die Dörfer und sich [etwas] zum Essen kaufen. 16 Jesus aber sprach zu ihnen: Sie haben nicht nötig wegzugehen; gebt ihr ihnen zu essen. 17 Sie aber sagen zu ihm: Wir haben nichts hier als nur fünf Brote und zwei Fische. 18 Er aber sprach: Bringt sie mir her. 19 Und er befahl den Volksmengen, sich auf dem Gras zu lagern, nahm die fünf Brote und die zwei Fische, blickte auf zum Himmel und segnete [sie]; und er brach die Brote und gab [sie] den Jüngern, die Jünger aber [gaben sie] den Volksmengen. 20 Und sie aßen alle und wurden gesättigt. Und sie hoben auf, was an Brocken übrig blieb, zwölf Handkörbe voll. 21 Die aber aßen, waren etwa fünftausend Männer, ohne Frauen und Kinder.
Der Abend bricht an, während die Menschen in großen Scharen bei Ihm Erleichterung von ihren Beschwerden suchen, an denen sie leiden. Die Jünger, ganz praktisch orientiert, kommen zum Herrn mit dem Hinweis, Er möge die Scharen doch wegschicken, damit sie noch rechtzeitig in den Geschäften etwas zu essen kaufen können. Praktisch zu denken ist aber nicht immer ein gutes Denken. In diesem Fall bedeutet ihr Vorschlag, dass der Herr aufhören soll, Gutes zu tun. Damit zeigen sie, dass sie das Erbarmen des Herrn nicht teilen. Sie kennen Ihn immer noch nicht gut genug. Deshalb sind sie auch blind für die Macht seiner Gnade, die auch für tägliche Bedürfnisse sorgt. So hat der Herr nun eine Lektion für seine Jünger, die Ihm folgen und von ihrem Meister lernen sollen, damit sie so werden wie Er.
Der Herr tritt für die Volksmengen ein. Sie brauchen von Ihm, der die Quelle alles Guten ist, nicht wegzugehen. Die Bitte, die Mengen wegzuschicken, kehrt Er um, indem Er seinen Jüngern den Auftrag gibt, sie mit Essen zu versorgen. Er will sie zu Instrumenten machen, durch die Er die Mengen segnet. Er will ihre Hände mit Brot füllen, das sie an das Volk austeilen dürfen. So will Er durch ihre Mithilfe seine Macht in Gnade den Volksmengen zu Gute kommen lassen.
Das gilt auch heute, denn der Grundsatz des Glaubens ist zu allen Zeiten derselbe. Der Herr will auch uns zeigen, dass der Glaube an seine Macht uns zu Instrumenten des Segens für andere werden lässt. Die Jünger wollten die Volksmengen wegschicken, weil sie nicht wussten, wie sie die Macht Christi zum Einsatz bringen konnten. Das wissen auch wir oft nicht, aber der Herr will uns dazu anleiten.
Dann sagt der Herr ihnen, sie sollten ihnen zu essen geben. Er leitet sie an, anderen Nahrung zu geben. Als sie diesen Auftrag bekommen, wird erst die völlige Ohnmacht der Jünger offenbar. Das kommt daher, dass sie nur an ihre eigenen Möglichkeiten denken und nicht an die des Herrn. Das Problem besteht nicht darin, dass nichts vorhanden ist, sondern dass das wenige Vorhandene nach den Berechnungen des Menschen völlig unzureichend ist.
Nach menschlichen Normen traf das auch zu. Wir müssen aber lernen, mit der Macht des Herrn zu rechnen. Eines der Probleme, die uns zu schlechten Jüngern machen, ist dies, dass wir das, was uns selbst zur Verfügung steht, unterschätzen, weil wir es nach unseren eigenen Möglichkeiten beurteilen und nicht nach den Möglichkeiten, die der Herr hat, um daraus etwas Gutes zu machen. Unser Argument ist oft: „Wir haben hier nichts als ...“ Gläubige haben aber immer etwas und sei es in ihren Augen noch so wenig. So befiehlt der Herr ihnen, die Brote und die Fische zu Ihm zu bringen. Wir müssen lernen, alles in seine Hände zu legen. Dazu fordert Er selbst uns auf. Was wir Ihm dann in die Hände legen, vervielfältigt Er.
Nachdem der Herr Ordnung und Ruhe geschaffen hat, geht Er ans Werk. Zuerst befiehlt Er allen, sich hinzusetzen. Dadurch lenkt Er aller Augen auf sich selbst. Alle sehen, wie Er die fünf Brote und zwei Fische nimmt, und alle hören, wie Er als der abhängige Mensch zu seinem Gott um Segen für dieses Essen betet. Dann beginnt Er in Allmacht, in Abhängigkeit und in Gnade zu handeln und bezieht die Jünger dabei mit ein. Er bricht die Brote und gibt sie den Jüngern, die sie ihrerseits an die Volksmengen weiterreichen.
Die Nahrung, die die Volksmenge bekommt, ist auf zweierlei Weise zur Nahrung geworden. Da ist zunächst das Brot, das zuerst einmal einen Entstehungsprozess durchlaufen hat. Das zeigt uns, dass, bevor wir dem Herrn etwas in die Hand geben können, damit Er es gebrauchen kann, wir in manchen Fällen zuerst selbst daran gearbeitet haben müssen. Aber dann sind da auch noch die beiden Fische, zu deren Entstehung wir nichts beigetragen haben. Die hat sozusagen der Herr selbst bereitet. Das zeigt uns, dass wir auch das, was wir unmittelbar vom Herrn bekommen haben, Ihm geben dürfen, damit Er mehr daraus mache, um es erst dann weiterzureichen. Was wir nicht tun können, nämlich die Vermehrung, tut der Herr. Dann gibt Er es uns zurück, damit wir damit das tun, was wir wohl können, nämlich: es weiterreichen.
Durch diese Tat gibt der Herr in seiner eigenen Person Zeugnis davon, dass Er Jahwe ist, der die Armen mit Brot sättigt (Ps 132,15). In Ihm ist Jahwe, der Davids Thron befestigt hat, selbst in ihrer Mitte.
Durch die Güte des Herrn können alle essen, bis sie gesättigt sind. Der Herr hätte sein Wunder auch so vollbringen können, dass alles verzehrt wurde und nichts übrigblieb. Er wusste doch genau, wie viel erforderlich war. Aber gerade dass so viel übrig blieb, zeigt uns, dass der Herr ein Gott des Überflusses ist. Er gibt nicht nur das Nötige, sondern weit darüber hinaus.
Dieser Reichtum wird aber nicht als etwas Überflüssiges behandelt. Auch mit dem Überfluss hat der Herr eine Absicht. Er lässt das Übriggebliebene einsammeln, damit es an andere verteilt werden kann, die nicht anwesend waren. Was wir dem Herrn aushändigen, wird zu einem Überfluss, durch den eine Menge gesättigt wird und der auch noch für andere ausreicht. So läuft es bei Gott: Was wir weggeben, haben wir nicht verloren, sondern das vervielfältigt Er (Spr 11,24).
Auch die Zahl Zwölf weist darauf hin, dass der Herr mit dem Überschuss eine Absicht hat. Der Herr hat mit vollem Bewusstsein mehr vervielfältigt, als für die Anwesenden nötig war. Damals hat Er diejenigen gesättigt, die aus ihren Wohnorten zu Ihm gekommen waren. In der Zukunft aber wird Er alle zwölf Stämme mit seinem Segen sättigen. Es bleibt noch ein Segen übrig für das Volk Gottes, das Er zunächst wieder wegschicken musste.
22 - 27 Die Jünger im Sturm
22 Und sogleich nötigte er die Jünger, in das Schiff zu steigen und ihm an das jenseitige Ufer vorauszufahren, bis er die Volksmengen entlassen habe. 23 Und als er die Volksmengen entlassen hatte, stieg er auf den Berg für sich allein, um zu beten. Als es aber Abend geworden war, war er dort allein. 24 Das Schiff aber war schon mitten auf dem See und litt Not von den Wellen, denn der Wind war [ihnen] entgegen. 25 Aber in [der] vierten Nachtwache kam er zu ihnen, gehend auf dem See. 26 Als aber die Jünger ihn auf dem See gehen sahen, wurden sie bestürzt und sprachen: Es ist ein Gespenst! Und sie schrien vor Furcht. 27 Sogleich aber redete Jesus zu ihnen und sprach: Seid guten Mutes, ich bin es; fürchtet euch nicht!
Danach befiehlt der Herr seinen Jüngern, an Bord zu gehen und ohne Ihn auf die andere Seite des Sees zu fahren. Dann verabschiedet Er selbst die Volksmengen. Nach einem letzten Beweis seiner segensreichen Anwesenheit durch die Speisung kommt nun unvermeidlich der Augenblick, dass Er das Volk wegschicken muss. Es ist prophetisch ein Bild dessen, was Gott mit seinem Volk tun musste, nachdem es den Herrn Jesus verworfen hatte. Gott hat sein Volk weggeschickt, allein die stürmische See dieser Welt zu durchqueren.
Während sie aber den Herrn nicht wahrnehmen, sieht Er sie sehr wohl. Und Er betet für sie. Der Herr sucht in der Einsamkeit auf dem Berg die Gemeinschaft mit seinem Vater. Während Er betet, sind die Jünger in Not. Es herrscht Gegenwind – ein Bild des täglichen Lebens. Er erlaubt es, dass Stürme unseren Glauben auf die Probe stellen. In den Jüngern, die sich auf dem See abmühen, können wir ein Bild des Überrestes Israels sehen, der im Meer der Völker in der Zeit der großen Drangsal gequält wird.
Die Jünger meinen, der Herr habe sie vergessen. Das werden die gläubigen Juden während der großen Drangsal auch glauben. In mehreren Psalmen sprechen sie das aus (Ps 10,11; 13,2; 77,10). Aber der Herr vergisst sie nicht. Er kommt erst zu ihnen, wenn die Nacht am dunkelsten ist, in der vierten Nachtwache. Das ist zugleich auch gegen Tagesanbruch, die Zeit, wenn der Morgenstern aufgeht. Prophetisch gesehen leben wir am Ende der Nacht, die schon weit vorgerückt ist (Röm 13,12). Auch wir sind im dunkelsten Teil der Nacht angelangt. Aber gerade dann können wir die Nähe des Herrn am ehesten erfahren und können erleben, dass Er zu uns kommt.
Wir ähneln allerdings oft den Jüngern, die den Herrn für einen Spuk hielten. Das passiert, wenn wir in ungünstigen Lebenslagen immer nur den Teufel sehen, als würde dieser uns das Leben schwer machen und wir dann ganz aus den Augen verlieren, dass alle unsere Umstände in der Hand des uns liebenden Herrn liegen. Hiob sah das anders. Er sagte nicht: „Der HERR hat gegeben und der Satan hat genommen“, sondern: „Der HERR hat gegeben und der HERR hat genommen“ (Hiob 1,21). Wir müssen in allen unseren Umständen den Herrn zu entdecken lernen, der ganz nah bei uns ist und Macht über alles hat, was uns betrifft.
Der Herr geht auf dem Wasser wie auf festem Grund. Er, der die Elemente so geschaffen hat, wie sie sind, kann nach seinem Wohlgefallen über ihre Eigenschaften verfügen. Er geht zwar auf dem Wasser, doch Er tut das nicht vor den Augen und für die Sensationsgier der Volksmengen, sondern nur um seine ängstlichen Jünger von seiner Macht zu überzeugen. Er beruhigt auch die Wellen noch nicht – das geschieht erst am Ende.
Als die Jünger vor Angst schreien, spricht der Herr sie beruhigend an. Zuerst sagt Er, sie sollen guten Mutes sein. Dasselbe ermutigende Wort hatte Er schon früher in diesem Evangelium an Menschen gerichtet, die es dringend nötig hatten (Mt 9,2.22). Dann verweist Er auf sich selbst, denn nur durch Ihn kann es guten Mut geben. Und schließlich sagt Er ihnen, dass sie keine Furcht zu haben brauchen, denn diese verhindert den guten Mut.
28 - 33 Petrus geht auf dem Wasser
28 Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, wenn du es bist, [so] befiehl mir, zu dir zu kommen auf den Wassern. 29 Er aber sprach: Komm! Und Petrus stieg aus dem Schiff und ging auf den Wassern und kam zu Jesus. 30 Als er aber den starken Wind sah, fürchtete er sich; und als er anfing zu sinken, schrie er und sprach: Herr, rette mich! 31 Sogleich aber streckte Jesus die Hand aus, ergriff ihn und spricht zu ihm: Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? 32 Und als sie in das Schiff gestiegen waren, legte sich der Wind. 33 Die aber in dem Schiff waren, warfen sich vor ihm nieder und sprachen: Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn!
Petrus antwortet als Erster auf die Worte des Herrn. Er möchte sicher sein, dass es wirklich der Herr ist. Nur Matthäus berichtet, dass Petrus das Schiff verlässt. Die anderen Jünger haben auch Angst, aber sie sind ja noch im Schiff: So lange das der Fall ist, wird es ja wohl gut gehen. Das macht die Glaubenstat des Petrus so groß. Auch diese letzte Sicherheit gibt er auf und vertraut sich vollständig dem Herrn an.
Auch bei uns ist es oft so, dass wir wohl auf den Herrn vertrauen, aber zugleich auch froh sind, wenn wir noch die Sicherheit unseres „Schiffes“ haben. Ein Beispiel dafür ist das Verlassen der Sicherheit des judaistischen Systems oder auch der Sicherheit eines traditionsreichen christlichen Systems, von dem uns die Trennung so schwer fällt. Das gilt für jede Gemeindeform, in der das Gewohnte zur Norm geworden ist und der Geist nicht frei wirken kann. Menschliche Formen und Traditionen vermitteln ein Gefühl der Sicherheit, obwohl wir wissen und bekennen, dass uns eigentlich der Heilige Geist leiten soll.
Die Initiative geht von Petrus aus. Er sieht den Herrn und bittet um seinen Befehl. Dabei will er gar nicht als Held dastehen, sondern einfach als gehorsamer Gläubiger, der glaubend die Sicherheit des Schiffes preisgibt, um zum Herrn zu gelangen. Damit ist auch die Furcht vor dem Wasser überwunden. Er will wirklich so sein wie sein Meister. Über diesen spontanen Wunsch wird der Herr sich sehr gefreut haben.
Der Herr spricht nur ein einziges Wort, und Petrus gehorcht. So kommt es zu einer Tat des Glaubens (er klettert aus dem Schiff) und zu einem Wandel des Glaubens (er geht auf dem Wasser). Das Gehen auf dem Wasser ist ein gewagtes Unternehmen, aber da es auf das Wort des Herrn gegründet ist („Komm!“), ist es auch ein sicheres Unternehmen. Das Fundament besteht in den Worten „Herr, wenn du es bist“, d. h. also in dem Herrn Jesus selbst.
Solange Petrus auf den Herrn blickt, geht alles gut. Dann aber kommt der Augenblick, dass seine Augen vom Herrn weggelenkt werden und er den starken Wind sieht. Da ist plötzlich die Angst wieder da. Es steht noch nicht einmal da, dass er das Wasser sah, auf dem er lief, sondern nur den starken Wind, der das Wasser in Aufruhr brachte. Seine Angst ist auch nicht logisch, denn es ist ebenso unmöglich, auf ruhigem Wasser zu laufen wie auf hohen Wellen. Der Glaube ist nur dann stark, wenn er ausschließlich den Herrn vor Augen hat. Sobald er auf die Umstände blickt, wird der Glaube schwach.
Wenn man Christus aus dem Auge verliert, ist keinerlei Stütze, keinerlei Möglichkeit mehr da, im Glauben zu wandeln. Alles hängt von Ihm ab. Ein Schiff ist ein bewährtes Hilfsmittel, um über einen See zu fahren, aber nur der Glaube, der den Herrn vor Augen hat, kann auf dem Wasser gehen. Wer einmal wie der Herr auf dem Wasser geht, ist viel besser dran als die, die in einem schwankenden Schiff sitzen, das zu kentern droht. Für den, der mit dem Herrn auf dem Wasser geht, spielt es keine Rolle, ob es stürmt oder windstill ist.
Als Petrus zu sinken beginnt, ruft er zum Herrn um Hilfe. Der Herr reagiert unmittelbar und rettet ihn. Gott sei gelobt! Er, der in seiner eigenen Macht auf dem Wasser wandelt, ist da, um den Glauben und die ohnmächtigen Schritte des armen Jüngers zu unterstützen. Auf jeden Fall hatte sein Glaube Petrus so nah zum Herrn gebracht, dass dessen ausgestreckte Hand ihn aufrichten konnte. Sein Hilferuf brachte die Hand des Herrn in Bewegung, ihn zu retten, während sein Glaube schon vorher die Hand des Herrn in Bewegung gebracht hatte, um ihn zu unterstützen. Petrus fing zwar zu sinken an, aber er hat doch eine Erfahrung gemacht, die die anderen Jünger nicht kennengelernt haben.
Mit Recht fragt der Herr Petrus, warum er gezweifelt habe, denn Petrus begann erst zu sinken, als er nicht mehr auf den Herrn blickte. Das Schiff erreichte Petrus nicht in der Kraft des Glaubens, mit dem er das Schiff verlassen hatte. Er kletterte gemeinsam mit dem Herrn wieder an Bord des Schiffes. Sein kurzes Versagen macht klar, dass er das Ziel allein durch die Kraft des Herrn erreichte.
Die Auswirkung ist – und so muss es immer sein –, dass die Jünger dem Herrn huldigen. Der Herr wird wegen seiner Macht geehrt, die Er angesichts der Elemente sowie wegen seiner Gnade, die Er an seinen geliebten Jüngern erwiesen hat.
34 - 36 Heilungen in Genezareth
34 Und als sie hinübergefahren waren, kamen sie ans Land, nach Genezareth. 35 Und als die Männer jenes Ortes ihn erkannten, schickten sie in jene ganze Gegend und brachten alle Leidenden zu ihm; 36 und sie baten ihn, dass sie nur die Quaste seines Gewandes anrühren dürften; und so viele [ihn] anrührten, wurden völlig geheilt.
In Vers 22 hatte der Herr seinen Jüngern gesagt, sie sollten Ihm zur anderen Seeseite vorausfahren. Jetzt ist es soweit, dass sie auf sein Wort hin das andere Ufer erreichen. In Genezareth angekommen setzt der Herr aufs Neue seine Macht ein, die in der Zukunft alles Übel von der Erde vertreiben wird, das Satan bewirkt hat. Denn wenn Er wiederkommt, wird die Welt Ihn anerkennen.
Bei seiner Ankunft in Genezareth wird der Herr sofort erkannt. Der große Heiler besucht jetzt auch ihr Gebiet! Deshalb machen die, die Ihm schon früher begegnet sind und Ihn bei seiner Arbeit gesehen haben, in der ganzen Umgebung bekannt, dass Er da ist. Nun werden alle Leidenden zu Ihm gebracht, und jeder, der Ihn anrührt, und sei es auch nur den Saum seines Gewandes, wird vollständig gesund.
Das Berühren seines Kleidersaums ist schon früher für eine blutflüssige Frau das Mittel zur Heilung gewesen (Mt 9,20). Der Saum seines Gewandes ist der Teil seiner Kleidung, der dem Erdboden am nächsten ist und weist deshalb auf seine Erniedrigung hin. Wer in diesem erniedrigten Menschen die Güte Gottes erkennt, der alle Menschen, die sich ihrer Not bewusst sind, gnädig aufnimmt, findet völlige Errettung.