1 Habakuk tritt auf seine Warte
1 Auf meine Warte will ich treten und auf den Turm mich stellen und will spähen, um zu sehen, was er mit mir reden wird und was ich erwidern soll auf meine Klage. –
Nach Habakuks zweiter Klage bleibt es eine Weile still. Es kommt nicht, wie beim ersten Mal, eine sofortige Antwort des HERRN. Das bringt Habakuk nicht zur Verzweiflung, sondern er tritt auf seine Warte und auf den Turm. Er spricht von „meiner Warte“, womit er andeutet, dass es ein Platz ist, den er persönlich einnimmt. Eine Warte und ein Turm sind erhöhte Stellen, von denen aus die Umgebung ausgespäht werden kann im Hinblick auf eine mögliche Gefahr. Für uns bedeutet das, dass wir uns über die Umstände erheben sollten, nahe bei Gott, damit wir die Dinge aus seiner Perspektive sehen und sein Wirken verstehen können.
Habakuk nimmt diesen erhabenen Platz ein, um erwartungsvoll auf die Antwort zu schauen, die Gott geben wird. Dies ist die angemessene Haltung, wenn wir um etwas gebeten haben. Eilig, wie wir oft sind, nehmen wir uns wenig oder gar keine Zeit und machen wenige oder gar keine Anstalten, auf die Wache zu treten und auf Gottes Antwort zu warten. Aber das Ausharren soll ein vollkommenes Werk haben (Jak 1,4). Wenn die Antwort nicht kommt, dann warten wir weiter auf sie. Sonst kann es sein, dass Gottes Antwort kommt und wir sie nicht sehen. Lasst uns aufschauen und spähen, wie Habakuk es tut. Er wartet auf die Morgendämmerung eines neuen Tages, an dem Gott wirken wird. Er freut sich auf Licht in den dunklen Umständen, in denen er sich befindet.
Gott nimmt nicht so sehr unsere Sorgen und Schwierigkeiten weg, sondern Er fügt etwas zu unserem Leben hinzu. Er bringt Licht in unser Leben in der Person des Herrn Jesus. Er kommt in unsere Umstände. Dann verschwinden die Probleme nicht, aber sie werden anders aussehen. Auch sollen wir offen sein für Gottes Stimme, um zu merken, was Er uns persönlich sagen will im Zusammenhang mit all den Fragen, die seine Wege in uns aufwerfen. Und auf Gottes Antwort, in der eine Korrektur liegen kann, wird eine Reaktion von unserer Seite kommen, eine Reaktion, die Gott auch erwartet. Wenn diese Haltung da ist, so kann Gott in Vers 2 weitersprechen. Es wird weitere Mitteilungen geben.
Es geht nicht um eine buchstäbliche Warte und einen buchstäblichen Turm, sondern um das Stehen auf einer Höhe, wodurch jemand über das irdische Geschehen erhoben und in Verbindung mit dem Himmel und dem, der dort thront, gebracht wird. Propheten werden häufiger als Wächter bezeichnet (Jes 21,8.11; Jer 6,17; Hes 3,17; 33,2.3). Sie sollen auf die Ungerechtigkeit im Volk schauen und vor dem kommenden Verhängnis warnen. In diesem Geist der Achtsamkeit ist der Prophet bereit, die Antwort zu empfangen.
Wir müssen lernen zu warten. Unsere Ungeduld betrachtet die Zeit, die wir warten müssen, als verlorene Zeit. Dies ist bei Habakuk nicht der Fall. „Was er mit mir reden wird“ bedeutet, dass das Reden Gottes zu dem Propheten durch eine innere, nicht äußerlich hörbare Stimme geschieht. Mit der Antwort, die Gott ihm gibt, kann der Prophet seine Klage (Hab 1,13–17) für sich selbst beantworten und das auch anderen mitteilen.
2 Das Gesicht soll aufgeschrieben werden
2 Da antwortete mir der HERR und sprach: Schreibe das Gesicht auf, und grabe es in Tafeln ein, damit man es geläufig lesen könne;
Habakuk erhält Antwort vom HERRN. Wie lange er gewartet hat, wird nicht gesagt. Die Antwort kommt in einem Gesicht, einer Vision, einer innerlich wahrnehmbaren Offenbarung Gottes. Er empfängt eine sichtbare Botschaft. Diese Antwort ist nicht nur für ihn, sondern auch für andere, nämlich für das Volk. Deshalb wird er beauftragt, das Gesicht aufzuschreiben. Er soll dieses Gesicht nicht auf Papier aufschreiben, sondern auf Steintafeln eingraben.
Durch das Aufschreiben wird das Gesicht für die Zukunft bewahrt, und durch das Eingraben wird es unauslöschlich und geht nicht verloren (Jes 30,8; 2Mo 17,14; Ps 102,19; Jer 30,2). Zugleich wird das Gesicht nicht vom Gedächtnis der Menschen abhängig. Der Grund für das Aufschreiben wird in Vers 3 genannt.
Es muss auch deutlich aufgeschrieben werden (vgl. 5Mo 27,8). Die Botschaft ist so wichtig, dass jedes Missverständnis oder unachtsames Vorbeigehen ausgeschlossen sein muss. Dass sie für jemanden, der schnell vorbeiläuft, lesbar sein muss, hat mit der kurzen Zeit zu tun, die bleibt, bis die Erfüllung kommt. Wer sie liest, muss sie weitergeben. Es ist eine Botschaft der Freude für Israel. Denn der Untergang des Feindes bedeutet die Befreiung Israels.
In der Antwort sehen wir einige wichtige Prinzipien:
1. Das Gesicht oder die Weissagung muss klar angekündigt werden.
2. Alles bleibt ein Gesicht für eine bestimmte Zeit, d. h. für die Zeit, in der es unerfüllt bleibt.
3. Während dieser Zeit wird der ungläubige Mensch in seinem Stolz wachsen und dadurch reif für das Gericht Gottes werden.
4. Während dieser Zeit wird der Gerechte durch seinen Glauben leben.
5. Zur festgesetzten Zeit, die von Gott bestimmt ist, wird sich das angekündigte Gesicht erfüllen. Deshalb ist es lohnend, auf die Erfüllung zu warten.
3 Die bestimmte Zeit
3 denn das Gesicht geht noch auf die bestimmte Zeit, und es strebt zum Ende hin und lügt nicht. Wenn es sich verzögert, so harre darauf; denn kommen wird es, es wird nicht ausbleiben.
„Das Gesicht geht noch auf die bestimmte Zeit“ bedeutet, dass die Befreiung nicht sofort kommen wird, sondern dass Geduld erforderlich ist. Aber es ist sicher, dass die Befreiung kommen wird. Gott wird das Gesicht von der Vernichtung der Zuchtrute, Babylon, Wirklichkeit werden lassen, denn es „lügt nicht“. Nach siebzig Jahren wird Babylon von den Medern und Persern erobert werden. Gottes Absicht kann weder beschleunigt noch verzögert werden. Sie wird zur „bestimmten Zeit“ erfüllt werden.
Die bestimmte Zeit ist auch das Streben zum Ende hin oder die Endzeit. Das ist „das Ende“. Dies ist der doppelte Boden der Prophezeiung. „Das Ende“ hat eine tiefere Bedeutung als nur ein kurzfristiges Ereignis. Es geht um das Kommen Christi und die Errichtung des Friedensreichs (Vers 14). Das geht aus dem Zitat des letzten Teils dieses Verses im Hebräerbrief hervor (Heb 10,37). Dort wird deutlich, dass es in diesem Vers um das zweite Kommen Christi geht. Gott hat eine Zeit für das zweite Kommen von Christus bestimmt, der alle Verheißungen erfüllen wird. Wir sehen hier, dass Jesus Christus der Inhalt des Gesichts ist.
„Wenn es sich verzögert“ wird in Hebräer 10 aus der Septuaginta zitiert und in „denn noch eine ganz kleine [Zeit]“ geändert. Das „Gesicht“ lässt den Gläubigen heute auf Ihn schauen, auf sein Kommen, als ein Ereignis, das nahe ist. Wenn Er wiederkommt, wird Er alles in Ordnung bringen. In der Endzeit werden die Gottlosen gerichtet, das Volk wiederhergestellt und die Gerechten belohnt werden (2Thes 1,6.7). Wenn die Antwort auf sich warten lässt, dann deshalb, weil das Ausharren „ein vollkommenes Werk“ haben muss (Jak 1,4).
Die Befreiung kommt keinen Augenblick später als zu dem Zeitpunkt, den Gott in seiner Weisheit dafür festgelegt hat. In dieser Zeit des Wartens zeigt sich, dass der Gerechte durch seinen Glauben lebt, das heißt durch sein Glaubensvertrauen, das er auf Gott setzt. Wir sehen das im folgenden Vers.
4 Der Aufgeblasene und der Gerechte
4 Siehe, aufgeblasen, nicht aufrichtig ist in ihm seine Seele. Der Gerechte aber wird durch seinen Glauben leben.
In Vers 2 geht es um die Kraft des Gesichts, in Vers 3 um die Gewissheit des Gesichts. Vers 4 zeigt die Bedeutung des Glaubens für den Fall, dass sich die Erfüllung des Gesichts verzögert. Wenn es notwendig ist zu warten, ist das eine Gelegenheit für den Glauben, sich als Gewissheit dessen zu erweisen, was man hofft (Heb 11,1). Das ist nur demjenigen möglich, der sich mit dem Zentrum der Prophetie beschäftigt, nämlich mit Christus.
In diesem Vers wird die Menschheit in zwei Gruppen eingeteilt, und zwar so, wie Gott sie sieht. Dies ist die Antwort auf den Kampf des Propheten, der in Habakuk 1,12–17 beschrieben wird. Der erste Teil dieses Verses betrifft den stolzen, aufgeblasenen, übermütigen Chaldäer. Gott kennt sein Inneres. Dennoch benutzt Gott ihn.
„Seine Seele“ bezieht sich vor allem auf seine Gier und Begierde. Was er begehrt, kommt nicht aus ehrlichem Verlangen, sondern aus einem verdorbenen, unaufrichtigen, verbogenen Geist. Ein arroganter Mensch ist niemals aufrichtig. Was von diesem Mann gesagt wird – wir können z. B. an Belsazar denken (Dan 5,22–28) – gilt auch allgemein für jeden Menschen, der im Unglauben lebt.
Der zweite Teil des Verses bezieht sich auf den Gerechten, d. h. den Gläubigen in Israel. Er wird durch seinen Glauben leben, d. h. durch sein Vertrauen auf Gott (1Mo 15,6; 2Chr 20,20; Jes 7,9). Der Gerechte steht in scharfem Gegensatz zum Stolzen. Der Gerechte lebt aus seinem Glauben, und sein Glaube bringt ihn zur Demut vor Gott. Habakuk braucht nicht daran zu zweifeln, dass die Aufgeblasenheit des Chaldäers sein eigenes Verderben bewirken wird, während der Gottesfürchtige ständig zum HERRN aufblickt und leben wird.
Der Gerechte kann durch seinen Glauben in einer Welt voller Ungerechtigkeit leben, seine Fragen an Gott richten und im Vertrauen auf Ihn seinen Weg gehen, auch wenn sich die Situation um ihn herum nicht ändert. Erst wenn der Herr Jesus wiederkommt, wird Er alles in Ordnung bringen. Bis dahin lebt der Gläubige durch seinen Glauben.
Paulus ist ein solcher Leser und Läufer, um den es in Vers 2 geht. Er hat die Antwort gelesen und sie an den Gläubigen und an den Sünder weitergegeben. Er zitiert diesen Vers 4
1. im Römerbrief (Röm 1,17) und
2. im Galaterbrief (Gal 3,11).
Es wird auch noch zitiert
3. im Hebräerbrief (Heb 10,37).
Wir sehen, dass jedes Mal ein anderer Akzent gesetzt wird.
1. In Römer 1 beantwortet er mit diesem Vers die Frage von Hiob: Wie könnte ein Mensch gerecht sein vor Gott (Hiob 9,2)? Die Antwort ist, dass es durch das von Christus vollbrachte Erlösungswerk möglich ist. Christus hat alles getan, um die Schuld zu tilgen. Wer das glaubt, ist ein Gerechter, der durch seinen Glauben leben kann. Die Betonung liegt hier auf dem Gerechten. Hier sehen wir, wie eine Aussage aus dem kleinen Buch Habakuk von fundamentaler Bedeutung für die Rechtfertigung durch Gott im Evangelium ist. Die Gerechtigkeit ist kein Prozess, sondern ein endgültiger Akt mit einem bleibenden Ergebnis.
2. In Galater 3 geht es um den Glauben im Gegensatz zu den Werken des Gesetzes. Paulus zitiert diesen Vers von Habakuk, um zu zeigen, dass es unmöglich ist, das Leben aufgrund von Gesetzeswerken zu erlangen. Gesetz und Glaube haben überhaupt keine Schnittstelle. Die Betonung liegt hier auf dem Glauben. Nur durch den Glauben an Gott und seinen Christus ist es möglich, als ein Gerechter zu leben.
3. In Hebräer 10 geht es, wie der Kontext zeigt, um den Gegensatz zwischen Leben und Tod oder Zurückziehen zum Verderben (Heb 10,37.38). Die Warnung ist, sich nicht zurückzuziehen und umzukommen, sondern durch den Glauben zu leben. Alle Glaubenshelden des folgenden Kapitels, Hebräer 11, haben durch Glauben gelebt. Die Betonung liegt hier auf dem Leben im Blick auf das bessere Vaterland.
Solange sich das prophetische Wort noch nicht erfüllt hat und noch Chaos in der Welt herrscht, hat der Gottesfürchtige nur einen Halt und das ist der Glaube. Es geht um den praktischen Glauben für das Leben auf der Erde. Glaube ist das unerschütterliche Vertrauen in die Treue Gottes, dass Er seine Verheißungen erfüllen wird (Ps 89,34.35). Der Glaube unterwirft sich Gott im Vertrauen, während der Chaldäer aufgeblasen ist und auf sich selbst vertraut.
5 Der übermütige Mann hat keinen Erfolg
5 Und überdies: Der Wein ist treulos; der übermütige Mann, der bleibt nicht, er, der seinen Schlund weit aufsperrt wie der Scheol, und er ist wie der Tod und wird nicht satt; und er rafft an sich alle Nationen und sammelt zu sich alle Völker.
Dieser Vers schließt an Vers 4a an, der sich in seiner direkten Anwendung auf Belsazar bezieht. Hier geht die Beschreibung weiter. Belsazar gibt sich dem Wein hin (Dan 5,1–4). Das trübt sein Denken und führt ihn zur Treulosigkeit. Der Wein gibt seinem Trinker nicht die gewünschte Freude und Kraft, sondern führt ihn in den sicheren Untergang (Spr 23,31.32). In seinem Übermut glaubt er, über alles zu herrschen, aber es wird ihm nicht gelingen, seine Position zu halten.
Die Babylonier sind so unersättlich wie der Scheol und der Tod, der seine Opfer mit offenem Schlund verschlingt. Sie sind so unersättlich darin, „alle Nationen“ an sich zu raffen und zu unterjochen, wie der Tod alle Menschen an sich rafft (Spr 30,15.16). In seiner unaufhörlichen Gier nach mehr sammelt er „alle Völker“ zu sich (vgl. Pred 5,9). Hinter diesem stolzen, hochmütigen Vielfraß erhebt sich die Gestalt des Gottlosen in der Endzeit, das Tier, das aus dem Meer aufsteigt (Off 13,1–10).
6 - 8 Spruch, Spottrede, Rätsel – Erstes „Wehe“
6 Werden nicht diese alle über ihn einen Spruch und eine Spottrede anheben, Rätsel über ihn? Und man wird sagen: Wehe dem, der aufhäuft, was nicht sein ist – bis wann? –, und der Pfandlast auf sich lädt! 7 Und werden nicht plötzlich aufstehen, die dich beißen, und aufwachen, die dich fortscheuchen werden? Und du wirst ihnen zur Beute werden. 8 Denn du hast viele Nationen beraubt; und so werden alle übrig gebliebenen Völker dich berauben wegen des Blutes der Menschen und der Gewalttat an Land [und] Stadt und an allen ihren Bewohnern.
In Form einer Spottrede wird in den Versen 6–20 der Untergang Babylons beschrieben. In Vers 6 sprechen „diese alle“, das sind die Nationen. Sie äußern sich in einer Spottrede. Diese Rede hat einen prophetischen Inhalt und ist für alle Zeiten und Nationen gültig (vgl. Mich 2,4; Jes 14,4).
„Eine Spottrede“ ist eine Aktion von Menschen, die Spaß daran haben, andere zu verhöhnen. „Ein Spruch“ kann ein kurzer und prägnanter Spruch sein, oder er kann ein ausgedehntes Gleichnis sein. Es kann auch die Beschreibung einer Situation sein, die eine Lektion beinhaltet. Letzteres ist hier die Absicht. Ein „Rätsel“ ist hier eine verschleierte Form des Spottes, die es zu entschlüsseln gilt. Das Rätsel liegt darin, dass es sich auf Babylon bezieht, aber dann auch auf die Meder, die Griechen und so weiter.
Alle Völker werden Babylon nicht nur verhöhnen, sondern auch als Beispiel benutzen, um anderen zu zeigen, was mit denen geschehen wird, die keinen Respekt vor Gott oder ihren Mitmenschen haben.
Das Lied hat fünf Strophen. Jede Strophe enthält ein „Wehe dem“. Die ersten vier beginnen damit; in der fünften Strophe steht es an anderer Stelle (Verse 6b.9.12.15.19). Jede Strophe besteht aus drei Versen. Es gibt auch stets eine weitere Erklärung, die mit „denn“ beginnt.
Das erste „Wehe“ kommt über es wegen der Aneignung von Gütern, die es nicht gehört. Es betrifft sein Aufhäufen und Ausplündern. Es ist die Sünde der Gier, sich nicht mit dem zufriedenzugeben, was man hat. Wir leben in einer Zeit, in der das Reich des Tieres, das heißt das vereinte Europa, immer mehr Gestalt annimmt. Es ist ein Reich der Gewalt, das sich aneignet, was ihm nicht gehört.
„Bis wann?“ ist wieder die Frage der gequälten Seele. Die Antwort auf diese Frage lautet: 70 Jahre. Alle, an denen sich Babylon bereichert hat, werden sich gegen es wenden (Vers 7). Dann ist Babylon selbst die Beute der Völker, die es ausgebeutet hat. Es wird von den Medern und Persern erobert.
Der Grund dafür wird in Vers 8 genannt. Die umliegenden Nationen werden Babylon schlagen und es leer schütteln. Babylon wird mit demselben Maßstab gemessen werden, mit dem es gemessen hat (Mt 7,2).
9 - 11 Zweites „Wehe“
9 Wehe dem, der bösen Gewinn macht für sein Haus, um sein Nest hoch zu setzen, um sich zu retten aus der Hand des Unglücks! 10 Du hast Schande für dein Haus geplant, die Vertilgung vieler Völker, und hast dein Leben verwirkt. 11 Denn der Stein wird schreien aus der Mauer, und der Sparren aus dem Holzwerk ihm antworten.
Das zweite „Wehe“ kommt über Babylon wegen seiner Habgier und Selbstüberhebung. Nach der Plünderung und dem Raub des „Wehe“ der vorangegangenen Verse ist der „böse Gewinn“ ein natürlicher Nachfolger, mit dem es seinem Haus Standhaftigkeit und Beständigkeit sichern will (Vers 9). „Gewinn“ ist hier negativ, es ist „böser Gewinn“, denn dieser Gewinn ist unrechtmäßig, auf böse Weise, erlangt worden.
Babylon hat sich mit seiner Beute so abgesichert, dass es denkt, es sei unantastbar und unerreichbar für das Böse, egal von welcher Seite es kommen mag. Niemand kann sich ihm nähern. Es denkt in seinem Stolz, dass es sich dem Zugriff des Bösen entziehen wird. Es betrachtet seine Herrschaft als uneinnehmbar wie ein Adlernest in der Höhe. Sein Nest in der Höhe zu bauen, kennzeichnet die hochfliegenden Gedanken des Herzens. Mit dieser arroganten Haltung und seiner hoch oben gebauten Festung ähnelt Babylon Edom, das sich ebenfalls in einer uneinnehmbaren Höhe sicher fühlte (Obad 1,3.4).
Mit „seinem Haus“ (Vers 9) und „deinem Haus“ (Vers 10) ist die Dynastie Nebukadnezars gemeint, zu der die königliche Familie, einschließlich des Königs, gehört. So wie ein Adler sein Nest hoch oben baut, um es vor Zerstörung zu schützen (Hiob 39,27), so versucht der Chaldäer, sein Reich durch Raub und Plünderung zu erhöhen und zu stärken, damit ihm seine Familie nicht weggenommen werden kann.
Durch gottloses Handeln hat Babel das Grab seines eigenen Aufbaus gegraben (Vers 10). Was es als Stärkung seiner selbst meint, wird ihm zur Schande werden. Alles, was gegen Gott gerichtet ist, wird wie ein Bumerang auf es zurückkommen (Jer 7,19). Was auch immer der Gottlose im Sinn hat, um seinen Ehrgeiz, seine Gier, sein Vergnügen oder welches Verlangen auch immer zu befriedigen, das einzige, wozu dieses selbstsüchtige Streben führt, ist Schande und Tod.
Gott sagt: „Wer aber an mir sündigt, tut seiner Seele Gewalt an; alle, die mich hassen, lieben den Tod“ (Spr 8,36b). Dies trifft in hohem Maß auf Babylon zu. Das Gericht, das es heimsucht, ist das Gegenstück zu den Gerichten, die es selbst über andere gebracht hat. Was immer der Mensch sät, wird er ernten.
Selbst die unbelebten Dinge werden Babylon der Blutschuld und der Sünde anklagen und von seinen bösen Taten zeugen (Vers 11; vgl. Lk 19,40). Ähnlich verhält es sich mit allen Werken Gottes: Sie haben eine Stimme und zeugen von dem, durch den sie geschaffen wurden. Ebenso haben alle Werke eines Menschen eine Stimme und zeugen von dem, der sie geschaffen oder benutzt hat. Das Schreien der Steine ist wegen der Verbrechen, die begangen wurden, um mit ihnen zu bauen. Die Steine schreien nach Rache (vgl. 1Mo 4,10), weil sie geraubt oder mit geraubtem Geld gekauft wurden, um zu bauen. Die Antwort der Sparren hat die Bedeutung, dem Schrei der Steine zuzustimmen.
12 - 14 Drittes „Wehe“
12 Wehe dem, der Städte mit Blut baut und Städte mit Ungerechtigkeit gründet! 13 Siehe, ist es nicht von dem HERRN der Heerscharen, dass Völker sich fürs Feuer abmühen und Völkerschaften sich vergebens plagen? 14 Denn die Erde wird voll der Erkenntnis der Herrlichkeit des HERRN sein, so wie die Wasser den Meeresgrund bedecken.
Das dritte „Wehe“ kommt über Babylon wegen der Unterdrückung der eroberten Völker. Das Streben Babylons, sein Reich durch sündhaften Gewinn dauerhaft zu gründen, zeigt sich auch im Bau von Städten mit dem Blut und Schweiß unterworfener Völker (Vers 12). Das Material, mit dem Babylon seine Städte baut, wird durch Blutvergießen gewonnen. Gefangene werden zu ihrem Bau verwendet.
Das Ergebnis der Menschheitsgeschichte liegt nicht in den Ereignissen selbst, sondern in der offenbarten Absicht „des HERRN der Heerscharen“, der das Geschehen lenkt (Vers 13). Er ist die Ursache dafür, dass alle auf diese Weise entstandenen Bauwerke keinen Bestand haben werden.
Die Tatsache, dass Er sich hier als „der HERR der Heerscharen“ vorstellt, bedeutet, dass alle Heerscharen im Himmel und auf der Erde in seinem Dienst stehen, sie sind unter seiner Autorität. Er ist der oberste Befehlshaber über alle geschaffenen Mächte, aber besonders über Israel. Alles, was sich gegen Ihn erhebt, wird von Ihm gerichtet. Babylon wird es erleben, wenn sein Reich durch Feuer sein Ende findet. Alle Arbeit ihrer Bewohner ist vergeblich. „Fürs Feuer abmühen“ bedeutet, dass ihre harte Arbeit, die die Kräfte verzehrte, mit denen sie die Stadt bauten, all diese harte Arbeit und ihre Ergebnisse werden sich als Brennstoff für das Feuer erweisen, das sie verzehren wird. Nichts bleibt von ihr übrig (Jer 51,58).
Im Gegensatz zu Vers 13 bleibt aber das, was an seine Stelle tritt: das Reich Gottes (Vers 14). Wenn alle menschlichen feindlichen Mächte ausgelöscht sind, wird das Reich Gottes und seines Christus alle Reiche ersetzen. Infolgedessen wird die Erde „mit der Erkenntnis der Herrlichkeit des HERRN“ erfüllt sein (4Mo 14,21; Jes 11,9). „Die Wasser“, die „den Meeresgrund bedecken“, sind ein Bild für die überwältigende Fülle, in ihrer Länge, Breite und Tiefe.
Gottes Absicht, als Er die Erde erschuf, war, dass sie seine Herrlichkeit widerspiegeln sollte. Seine Herrlichkeit erfüllte später die Stiftshütte und den Tempel, seine Wohnstätte auf der Erde. Bald wird die ganze Erde seine Wohnstätte sein. Alles auf der Erde wird dann in völliger Übereinstimmung mit Ihm sein, sodass Er wieder in seinen Werken ruhen kann. Er wird dann für immer gepriesen werden (Ps 72,19).
15 - 17 Viertes „Wehe“
15 Wehe dem, der seinem Nächsten zu trinken gibt, indem du deinen Zorn beimischst und sie auch betrunken machst, um ihre Blöße anzuschauen! 16 Du hast dich mit Schande gesättigt anstatt mit Ehre: Trinke auch du und zeige dein Unbeschnittensein; der Becher der Rechten des HERRN wird sich zu dir wenden, und schimpfliche Schande [wird] über deine Herrlichkeit [kommen]. 17 Denn die Gewalttat am Libanon wird dich bedecken, und die Zerstörung der Tiere, die sie in Schrecken versetzte: wegen des Blutes der Menschen und der Gewalttat an Land [und] Stadt und an allen ihren Bewohnern.
Von der Grausamkeit im dritten „Wehe“ geht der Prophet im vierten „Wehe“ über Babylon zu seinem schamlosen Umgang mit seinen „Nächsten“ über, die er lieben sollte. Trunkenheit macht schamlos (Vers 15; 1Mo 9,21). Babylon macht die Nationen betrunken, um seinen Lüsten freien Lauf zu lassen.
Gott wird Babylon betrunken machen, ihm alle Schamgefühle nehmen, es nackt machen und alle Ehre wegnehmen (Vers 16; Jer 25,15). Babylon bekommt den Becher zu trinken, den es anderen zu trinken gegeben hat, damit es sich auch selbst betrunken niederlegt. Dieser Kelch wird ihm vom HERRN gegeben. Jeremia spricht auch von dem Kelch des HERRN, der voll ist von seinem Zorn und den Er den Nationen zu trinken gibt (Jer 25,26).
„Schimpfliche Schande“ kann auch mit „schändliches Erbrechen“ übersetzt werden. Das zeigt, dass alles, was sie in ihrer Gefräßigkeit verschluckt haben, als Erbrochenes wieder herauskommt. Was damals ihre Herrlichkeit war, wird nun mit diesem Erbrochenen bedeckt sein. So wird der HERR Babylon dazu bringen, sich wie ein Betrunkener in seinem eigenen Erbrochenen zu suhlen, was ein ekelhafter und widerlicher Anblick sein wird.
Seine Soldaten haben den Libanon im Norden, wo sie im Land eingedrungen sind, durch ihre Militärkampagnen abgeholzt, entblößt und kahl gemacht (Vers 17). Sie töteten die Tiere, die dort waren. Land, Stadt und Einwohner in Vers 8 beziehen sich auf die Nationen, während hier Juda und Jerusalem mit ihren Einwohnern gemeint sind. Babylon hat dort ein Massaker angerichtet. Aber die Gewalt, die es anderen angetan hat, wird auf sein eigenes Haupt zurückkehren, sodass es darunter zugedeckt wird.
18 - 19 Fünftes „Wehe“
18 Was nützt ein geschnitztes Bild, dass sein Bildner es geschnitzt hat, ein gegossenes Bild und das Lügen lehrt, dass der Bildner seines Bildes darauf vertraut, um stumme Götzen zu machen? 19 Wehe dem, der zum Holz spricht: „Wache auf!“, zum schweigenden Stein: „Erwache!“ – Er sollte lehren? Siehe, er ist mit Gold und Silber überzogen, und gar kein Odem ist in seinem Innern.
Das fünfte und letzte „Wehe“ kommt über Babylon wegen der größten aller Sünden: Götzendienst. Dieses „Wehe“ wird im zweiten Teil dieser Strophe ausgesprochen (Vers 19). Dieses Übel richtet sich direkt gegen den HERRN selbst. Der HERR wird durch ein selbst geschaffenes Bild ersetzt.
Um eindringlich auf seine völlige Wertlosigkeit hinzuweisen, fragt der Prophet, welchen Nutzen ein Götzenbild hat (Vers 18; Jes 44,9.10; Jer 2,11). Natürlich ist ein Götzenbild überhaupt nicht von Nutzen. Der Götze ist „ein geschnitztes“ Bild, das Lügen lehrt. Der Götze ist ein „Lehrer der Lüge“, der seinen Anbetern die Illusion vermittelt, er sei Gott und könne tun, was man vom wahren Gott erwarten kann, während er ein nichtiger Götze ist. Wie töricht ist es, sich auf etwas zu verlassen, das man mit seinen eigenen Händen gemacht hat.
Ein Götze kann noch so sehr mit allen irdischen Reichtümern überzogen sein, er ist und bleibt ein totes Ding, es ist kein Leben in ihm und Leben kommt nie in ihn hinein (Vers 19). Ein solcher Gott kann nichts für jemanden tun. Es ist höchste Torheit, tote Materie anzurufen in der Erwartung, dass es eine Reaktion geben wird. Noch schlimmer ist, dass durch eine solche Anbetung eines Götzen der wahre Gott verleugnet wird. Gott gibt seine Herrlichkeit keinem anderen. Wer Ihn verachtet, wird von Ihm verachtet werden (1Sam 2,30b). Er spricht sein „Wehe“ über diejenigen aus, die einen Götzen anrufen.
20 Schweige vor Gott
20 Aber der HERR ist in seinem heiligen Palast: Schweige vor ihm, ganze Erde!
Nach der Rede kommt plötzlich der Kontrast aus Habakuks Mund. Habakuk ist ein anderer Mensch geworden. Er ist beeindruckt von allem, was er gesehen und gehört hat, wer Gott ist. Das Wort „aber“, mit dem er beginnt, weist auf den Kontrast hin, der zwischen den Götzen und dem lebendigen Gott besteht, der alles sieht und regiert. Er ist nicht hinter Gold und Silber verborgen, sondern lebendig im Himmel, „seinem heiligen Palast“, bereit und willig, seinem Volk zu helfen.
Er ist der Allmächtige, in dessen Gegenwart es angemessen ist, in Ehrfurcht zu schweigen (Sach 2,13; Zeph 1,7a), im Bewusstsein, dass Er das Gericht ergehen lassen wird. Das gilt für die ganze Erde, denn Er ist der Gott „der ganzen Erde“. Die Stille gebührt Ihm aufgrund seiner beeindruckenden Majestät. Es steht dem Menschen gut an, vor Gott zu schweigen. Was Er zu sagen hat, ist wichtiger als das, was wir zu sagen haben. Habakuk ruft besonders die stolzen Prahler auf, vor dieser Majestät den Mund zu halten.
Hiob schweigt auch, als er Gott von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht und verkündet: „Ich lege meine Hand auf meinen Mund“ (Hiob 40,4). Er wird still vor Gott. Dann kann Gott zu ihm sprechen. Darin ist Hiob ein Vorbild für uns. Wenn wir vor Gott still werden, kann Er unsere Fragen beantworten.