Einleitung
Die letzten drei Kapitel bilden eine Einheit. Hier finden wir historische Fakten über das Handeln heidnischer Mächte mit dem irdischen Volk Gottes von der Zeit der Herrschaft der Meder und Perser bis zur endgültigen Befreiung unter der Herrschaft Christi. Der Schlüsselvers lautet: „Und ich bin gekommen, um dich verstehen zu lassen, was deinem Volk am Ende der Tage widerfahren wird; denn das Gesicht geht noch auf ferne Tage“ (Dan 10,14). Dies zeigt, dass es um das geht, was mit Israel „am Ende der Tage“ passieren wird. Wir werden sehen, dass sich für Daniel dieses „Ende der Tage“ sowohl auf die nahe als auch auf die ferne Zukunft bezieht.
1. Daniel 10 ist die Einleitung. Dieses Kapitel berichtet uns über die Zeit, in der Daniel die Ankündigungen empfängt, über die Umstände, in denen er sich befindet, sowie über die Wirkung, die das Gesagte auf ihn selbst hat, was es bei ihm auslöst.
2. Daniel 11 zeichnet eine prophetische Skizze der Ereignisse, die sich im Zusammenhang mit den Königen der Länder nördlich und südlich des heiligen Landes abspielen. Die Gebiete nördlich und südlich von Israel sind die zwei wichtigsten der vier Teile, in die das griechisch-mazedonische Reich zerfallen ist.
3. Daniel 12 zeigt Gottes Handeln mit einem treuen Überrest der Juden in der Zeit, wenn das Volk durch die große Drangsal von dreieinhalb Jahren gehen wird, sowie in der Zeit unmittelbar danach, die zur Errichtung des Reiches Christi führt.
1 Daniel wird eine Sache offenbart
1 Im dritten Jahr Kores’, des Königs von Persien, wurde Daniel, der Beltsazar genannt wird, eine Sache offenbart, und die Sache ist Wahrheit und [betrifft] eine große Mühsal; und er verstand die Sache und bekam Verständnis über das Gesicht.
Wir befinden uns „im dritten Jahr Kores’, des Königs von Persien“, das ist das Jahr 536 v. Chr. Es ist die Zeit, in der ein erster Teil des Volkes, ein Überrest, in das Land zurückgekehrt ist. Das geschah im ersten Jahr Kores‘ (Esra 1,1–3.5). Daniel ist jedoch nicht mitgegangen, was zweifellos daran liegen wird, dass Gott ihn beauftragt hatte, in Babylon zu bleiben. Aber sein Herz ist bei den Rückkehrern. Trotz seines hohen Alters sind sein Interesse und seine Anteilnahme an den Höhen und Tiefen des Volkes Gottes nicht geschwunden, sondern immer noch so groß wie früher.
Eine Sache wird ihm offenbart. Bei aller Freude über die Rückkehr (eines kleinen Teils) des Volkes, hat er auch Einsicht darüber, was mit dem Volk passieren wird. Er weiß, dass die Rückkehr nicht den versprochenen Segen für das Land bringen wird. Die Wiederherstellung von Altar, Tempel und Stadt wird nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung gelten und nur vorübergehend sein.
Die Bemerkung: „die Sache ist Wahrheit“, zeigt die tiefe Überzeugung, dass das Geoffenbarte vollständig eintreffen wird; daran besteht kein Zweifel, obwohl die Zeit der Erfüllung noch lange auf sich warten lassen und erst lange nach seinem Tod kommen wird. Diese Gewissheit wird für die Juden, die durch die Zeit der großen Drangsal gehen müssen, die über das Volk kommen wird, von großem Nutzen und sehr tröstlich sein.
Im Gegensatz zu anderen Gesichten, zu denen er seine Fragen stellt, versteht er, was ihm jetzt offenbart wird. Über das, was ihm hier gezeigt wird, hat er völlige Klarheit.
2 - 3 Daniel trauert
2 In jenen Tagen trauerte ich, Daniel, drei volle Wochen. 3 Köstliche Speise aß ich nicht, und weder Fleisch noch Wein kam in meinen Mund; und ich salbte mich nicht, bis drei volle Wochen vorüber waren.
Diese Offenbarung der Sache empfängt Daniel, während er sich demütigt (Vers 12). Warum tut er das? Gibt es etwa keinen Grund, sich über die teilweise Rückkehr des Volkes Gottes in das verheißene Land zu freuen? Und bedeutet dies nicht einen Neuanfang in ihrer geistlichen Geschichte? Wären da nicht Ausdrücke von Freude und Feierlichkeit eher angebracht? Aber der Mann Gottes spürt die sündige Vergangenheit und die gegenwärtige Schwäche; er sieht auch das große Elend voraus, das in Zukunft über das Volk Gottes kommen wird.
Tatsächlich haben die Jugendlichen unter den Rückkehrern ihre Freude über den wiederaufgebauten Altar zum Ausdruck gebracht. Ihnen erscheint diese Freude völlig angemessen. Gleichzeitig weinen die Älteren, weil sie sich noch an die frühere Herrlichkeit des Hauses Gottes erinnern, zu dem der wiederhergestellte Altar in krassem Gegensatz steht (Esra 3,12; vgl. Hag 2,3).
Es ist gut, wenn eine durch die Gnade Gottes herbeigeführte Erweckung auch Raum lässt für die Äußerung dieser beiden Empfindungen. Ebenso wie die Jugendlichen werden auch Ältere eine Erweckung als Erfrischung erleben. Allerdings werden sie sich darüber hinaus auch bewusst machen, dass Ehrung und Lobpreis für Gott erst dann vollkommen sein werden, wenn Christus kommt. Daher werden sie bei jeder Erweckung eher durch Gebet und Bekenntnis geprägt sein als durch Freude, obwohl auch bei ihnen die Freude ihren Platz haben wird.
Daniels Empfindungen zeigen: Er kennt das Volk. Er kennt auch die Rückkehrer. Er weiß, was sie in Zukunft erleben werden, und das überwiegt jetzt bei ihm und versetzt ihn in Trauer. Seine Demütigung betrifft nicht nur seinen Geist; auch sein Körper ist daran beteiligt. Drei Wochen lang nimmt er nichts Köstliches oder – wie wir sagen würden – Leckeres zu sich. Er gönnt sich nur das Nötigste. Er verzichtet sogar darauf, sich um seinen Körper zu kümmern. So sehr beschäftigt ihn das Volk Gottes, mit dem er sich ganz eng verbunden fühlt, dass alle Annehmlichkeiten, alles Erlaubte und Lebensnotwendige in den Hintergrund gerät.
4 - 6 Daniel sieht den Herrn Jesus
4 Und am vierundzwanzigsten Tag des ersten Monats, da war ich am Ufer des großen Stromes, das ist der Hiddekel. 5 Und ich erhob meine Augen und sah: Und siehe, da war ein Mann, in Leinen gekleidet, und seine Lenden waren umgürtet mit Gold von Uphas; 6 und sein Leib war wie ein Chrysolith und sein Angesicht wie das Aussehen des Blitzes und seine Augen wie Feuerfackeln und seine Arme und seine Füße wie der Anblick von leuchtendem Kupfer; und die Stimme seiner Worte war wie die Stimme einer Menge.
Daniels Gesinnung und Einstellung versetzt ihn in die Lage, Mitteilungen von Gott zu empfangen. In einem Gesicht sieht er sogar eine Erscheinung des Herrn Jesus – zumindest lässt die hier gegebene Beschreibung an Ihn denken. Diese Beschreibung ähnelt der des Menschensohnes in Offenbarung 1 (Off 1,13–15). In der Prophetie geht es um Ihn; und Er wird alles erfüllen.
Seine ganze Erscheinung strahlt überwältigende Herrlichkeit, Heiligkeit, Majestät, Macht und Autorität aus:
1. Er ist „in Leinen gekleidet“. Dies spricht von Sauberkeit und Reinheit sowie von vollkommener Gerechtigkeit (vgl. Off 19,8).
2. „Seine Lenden“, ein Bild der Kraft des Wandels, sind „mit Gold von Uphas“ umgürtet. Gold spricht von göttlicher Herrlichkeit.
Die verschiedenen Eigenschaften seiner Person werden jedes Mal mit einem Element aus der Natur verglichen, was man an dem Wort „wie“ erkennen kann.
3. „Sein Leib“, seine Gestalt, erinnert an einen Chrysolith (ein Edelstein von goldgelber, blauer oder grünblauer Farbe).
4. „Sein Angesicht“ und „seine Augen“ strahlen wie Blitze und Feuer. Dies spricht von seiner Allgegenwärtigkeit und seinen richterlichen Fähigkeiten; seiner Aufmerksamkeit kann nichts entgehen.
5. „Seine Arme und seine Füße“, die von seinem Handeln und Wandeln sprechen, sind wie leuchtendes Kupfer, was von einer unbestechlichen Ausübung des Rechts zeugt. Sein Gericht ist vollkommen gerecht.
6. Schließlich erinnert seine Stimme an die Stimme einer Menge. „Seine Worte“, die er ausspricht, übertönen jeden anderen Klang.
7 - 11 Kraftlos
7 Und ich, Daniel, allein sah das Gesicht; die Männer aber, die bei mir waren, sahen das Gesicht nicht; doch fiel ein großer Schrecken auf sie, und sie flohen und verbargen sich. 8 Und ich blieb allein übrig und sah dieses große Gesicht; und es blieb keine Kraft in mir, und meine Gesichtsfarbe verwandelte sich an mir bis zur Entstellung, und ich behielt keine Kraft. 9 Und ich hörte die Stimme seiner Worte; und als ich die Stimme seiner Worte hörte, sank ich betäubt auf mein Angesicht, mit meinem Angesicht zur Erde. 10 Und siehe, eine Hand rührte mich an und machte, dass ich auf meine Knie und Hände emporwankte. 11 Und er sprach zu mir: Daniel, du vielgeliebter Mann! Höre auf die Worte, die ich zu dir rede, und steh an deiner Stelle; denn ich bin jetzt zu dir gesandt. Und als er dieses Wort zu mir redete, stand ich zitternd auf.
Was Daniel sieht, macht einen großen Eindruck auf ihn und nimmt ihm seine Kraft. Etwas Ähnliches sehen wir bei Johannes auf Patmos als er den Menschensohn sieht (Off 1,17a). So zeigt sich der Herr auch uns, wenn wir uns mit seiner Zukunft und der seines Volkes befassen. Wenn wir Ihn in seiner Majestät sehen und bedenken, dass Er die Zukunft in seiner Hand hält und regiert, werden auch wir voller Ehrfurcht vor Ihm niederfallen.
Die Erscheinung des Herrn Jesus geschieht ganz persönlich für Daniel. Die Männer, die bei ihm sind, sehen Ihn nicht. Aber seine Erscheinung nur für Daniel wirkt sich auf sie aus. Sie spüren die Gegenwart einer beeindruckenden Himmelsgestalt, können jedoch nichts berühren, sehen oder hören. Das erfüllt sie mit Entsetzen. Sie fliehen und verstecken sich. Ähnlich ist es auch bei Saulus und seinen Gefährten als der Herr Jesus Saulus erscheint (Apg 22,7–9).
Daniel bleibt allein; und seine ganze Kraft ist aus ihm entwichen. Er fühlt sich völlig kraftlos, was hier zweimal erwähnt wird. Außerdem verwandelt sich seine Gesichtsfarbe. Als er die Stimme der Worte des Herrn Jesus hört, fällt er in einen tiefen Schlaf. Körperlich (durch das Fasten) und geistig (durch das, was er sieht und hört) ist er so erschöpft, dass er bewusstlos wird. Er liegt mit dem Gesicht auf dem Boden, was darauf hindeutet, dass er nicht auf die übliche Weise eingeschlafen ist.
Bei Daniel sehen wir, welche Wirkung es auf den Menschen hat, wenn ihn das Wort Gottes mit voller Wucht trifft und in ihn eindringt. Die Worte des Herrn Jesus haben dieselbe Wirkung wie seine Erscheinung. Das Wort Gottes und der Herr Jesus sind identisch. Im Reden des Herrn Jesus offenbart sich, wer Er ist. Seine Worte widerspiegeln seine Person.
Dann wird Daniel von einer Hand berührt. Dies ist nicht die Hand des Herrn Jesus, sondern die eines Engels. Im weiteren Verlauf zeigt sich, dass nicht mehr der Herr Jesus handelt und spricht, sondern ein Engel. Aber in der Berührung liegt Macht, denn durch sie kommt Daniel, wenn auch wankend, aus seiner Liegestellung auf seine Knie und Hände hoch. Dann ermutigt ihn der Engel, indem er seinen Namen ruft und ihn „vielgeliebter Mann“ nennt.
Dies sagt ihm, dass er in der Gunst Gottes steht (Dan 9,23). So ist er in der Lage, auf die Worte zu achten, die der Engel nun sprechen wird. Dazu muss er aufstehen. Nur im Stehen kann er aufmerksam auf das hören, was der Engel zu sagen hat, denn genau dazu ist er gerade jetzt gekommen. Daniel tut, was der Engel sagt, und steht wankend auf. Noch immer steht er unter dem Eindruck des Erlebten.
Auch hier sehen wir, dass Propheten gewöhnliche Menschen sind. Auch sie erholen sich nicht immer sofort von einer schockierenden Erfahrung, trotz der darin auch erlebten Ermutigung. Hier geht es nicht um Gottesfurcht, sondern um die Reaktion von Körper und Geist auf das, was sie erleben. Propheten sind keine Übermenschen, die unberührt Botschaften empfangen und weiter geben. Ihr ganzes Wesen ist an dem Dienst, den sie leisten, beteiligt.
So wird es auch bei uns sein, wenn wir unter Gebet das Wort Gottes lesen und hören. Was uns dabei auffällt, hat eine Wirkung auf uns, wenn wir wirklich die Bedeutung des Wortes Gottes erkennen und das Wohlergehen seines Volkes, der Gemeinde, im Blick haben wollen.
12 - 13 Der Kampf hinter den Kulissen
12 Und er sprach zu mir: Fürchte dich nicht, Daniel! Denn vom ersten Tag an, als du dein Herz darauf gerichtet hast, Verständnis zu erlangen und dich vor deinem Gott zu demütigen, sind deine Worte erhört worden; und um deiner Worte willen bin ich gekommen. 13 Aber der Fürst des Königreichs Persien stand mir 21 Tage entgegen; und siehe, Michael, einer der ersten Fürsten, kam, um mir zu helfen, und ich trug dort den Sieg davon bei den Königen von Persien.
Ein besonderer Trost ist für Daniel der Zuspruch: „Fürchte dich nicht.“ Diese Worte waren im Lauf der Jahrhunderte für viele Gläubige in schwierigen Umständen eine große Ermutigung. Es scheint so als hätte Daniel Angst gehabt, sein Gebet würde nicht erhört werden, was sich aus dem nun folgenden Wort „denn“ ableiten lässt. So lange musste er auf eine Antwort warten.
Aber seine Angst ist unbegründet, „denn“, so wird ihm jetzt gesagt, sein Gebet ist vom ersten Tag an vor Gott gekommen; Gott sah sich dadurch auch zum Handeln veranlasst, denn Er sandte einen Engel, um auf Daniels Worte zu antworten. Dass die Antwort dann doch so lange auf sich warten ließ, liegt keineswegs daran, dass Gott sein Gebet nicht erhört hätte oder nicht beantworten wollte.
Was Daniel hier gesagt wird, kann auch uns in Bezug auf unsere Gebete ermutigen. Wir dürfen wissen, dass Gott unsere Gebete erhört, und zwar zu genau dem Zeitpunkt, an dem wir sie äußern. Selbst wenn wir auf eine Antwort warten müssen, dürfen wir wissen, dass unser Gebet bei Gott „angekommen“ ist und seine volle Aufmerksamkeit erfährt.
Warten zu müssen, ist für uns ein Ansporn, beharrlich für eine Sache zu beten. Gleichzeitig dürfen wir wissen, dass Gott sich schon vom ersten Mal an, wenn wir für etwas beten, mit einer Antwort darauf befasst. Die Verzögerung der Antwort ist ein Test für unseren Glauben und prüft unsere Beharrlichkeit im Vertrauen auf Ihn. Wenn das, wofür wir beten, uns wirklich ein Herzensanliegen ist, werden wir das Wort zu Herzen nehmen: „Betet unablässig“ (1Thes 5,17).
Bevor der Engel Daniel Gottes Antwort überbringt, lüftet er den Schleier von einem Geschehen in der unsichtbaren Welt. Was er dazu sagt, ist einzigartig und für uns äußerst lehrreich. Es gibt uns Einblick in die Kämpfe, die in den himmlischen Örtern geführt werden. Wir blicken hier hinter die Kulissen. Was der Engel sagt, macht deutlich, dass hinter den irdischen Mächten geistliche Mächte stehen. Wir hören gleichsam Paulus über die eigentliche Macht sprechen, mit der wir es zu tun haben, wie etwa im Epheserbrief. Hier geht es nicht um Fleisch und Blut, sondern um die geistlichen Mächte, die Fürstentümer, die Weltherrscher in den himmlischen Örtern – und somit nicht auf der Erde, sondern in der Luft (Eph 6,12).
Jeder Krieg auf der Erde ist das Ergebnis einer Absprache zwischen teuflischen Mächten in der unsichtbaren Welt. Dort gibt es keine Unterschiede zwischen rivalisierenden Parteien. So werden beispielsweise die Machtverhältnisse in der Welt zwischen Ost und West nicht von den Parteien oder Ländern auf der Erde, sondern von der geistlichen Welt bestimmt. In der geistlichen Welt gibt es keine Gegensätze zwischen den Mächten der Finsternis. Es gibt keinen Kampf, sondern eine vollkommene dämonische Gleichgesinntheit. Die finsteren Mächte arbeiten zusammen, um die Menschheit zu zerstören, und konzentrieren sich dabei vor allem auf das Volk Gottes.
Der Fürst des Königreichs Persien ist nicht der irdische Fürst, sondern ein Engelsfürst. Ein irdischer Fürst könnte niemals einen Engel mit einer Botschaft Gottes auf seinem Weg zu einem der Seinen aufhalten. Dämonische Fürsten sind jedoch so mächtig, dass sie sehr wohl in der Lage sind, einen Engel Gottes so lange aufzuhalten. Dieser dämonische Fürst, der vor allem das Königreich Persien beeinflusst, ist so mächtig, dass sich sogar der Erzengel Michael einschalten muss. Michael ist der Fürst Israels. In Vers 21 wird Daniel gesagt, dass Michael „euer Fürst“ ist. Das Volk Gottes hat seinen eigenen Engel. Michael wird hier „einer der ersten Fürsten“ und im letzten Kapitel „der große Fürst“ genannt (Dan 12,1).
Wir wissen, dass Engel auf besondere Weise von Gott zum Schutz der Seinen eingesetzt werden (Heb 1,14). Hier erfahren wir außerdem, dass sie die Vollstrecker des Willens Gottes in seiner Vorsehung im Blick auf Menschen sind. Sie teilen den Menschen mit, was Gott ihnen sagt. Hier sehen wir auch, dass sich auserwählte Engel im Kampf gegen die abtrünnigen Engel gegenseitig helfen. Michael wurde geschickt, um dem Engel zu helfen, der zu Daniel geschickt wurde. Er war durch den Engelsfürst Persiens gestoppt worden; und so war es ihm unmöglich, seine Aufgabe zu erfüllen. Aber Michael kam, um ihm zu helfen, und er trug den Sieg davon bei den Königen von Persien. Den bösen Mächten ging es darum, das Werk Gottes in Persien zu behindern.
14 Der Inhalt der Prophezeiung
14 Und ich bin gekommen, um dich verstehen zu lassen, was deinem Volk am Ende der Tage widerfahren wird; denn das Gesicht geht noch auf [ferne] Tage.
Dieser Vers gibt uns einen wichtigen Hinweis auf den Hauptzweck der Prophetie. Wir können ihn als Schlüsselvers bezeichnen, denn er öffnet die Tür zum Inhalt und Zweck der Prophetie. Der Engel sagt, dass er gekommen ist, um Daniel „verstehen zu lassen, was deinem Volk am Ende der Tage widerfahren wird.“ Es geht um das Volk Daniels, das Volk der Juden. Alle Pläne Gottes für die Erde sind mit seinem irdischen Volk, den Juden, verbunden. Auch das nächste Kapitel müssen wir in diesem Licht sehen. Dann werden wir vor allen möglichen falschen Erklärungen bewahrt.
Der Hauptzweck dieser Prophezeiung ist es, zu zeigen, was „am Ende der Tage“ mit Israel, dem irdischen Volk Gottes geschehen wird. Wie zu Beginn dieses Kapitels erwähnt, bezeichnet „am Ende der Tage“ sowohl Ereignisse in der nahen Zukunft als auch Ereignisse in ferner Zukunft. Im Anschluss an die Ankündigungen des Engels zu diesem Thema werden wir Mitteilungen über vorhergesagte Ereignisse erhalten, die sich schon recht bald danach erfüllt haben. Hinzu kommen jedoch auch andere Ereignisse, die auf die ferne Zukunft hindeuten und heute noch zukünftig sind. Dabei müssen wir an die Offenbarung des Antichrists und an die große Drangsal denken, die über den ganzen Erdkreis kommen wird.
In Gottes Gedanken und Plänen steht Israel im Zentrum, und zwar in Verbindung mit seinem Messias, dem wahren Zentrum aller Pläne Gottes. Auch im Hinblick auf die hier beteiligten Nationen geht es in erster Linie um Israel, und nicht um die Könige des Nordens oder des Südens. Alle Spieler, die in der Endzeit auf der Bühne stehen, sind in gewisser Hinsicht nur Statisten; im Rampenlicht steht der Hauptakteur. Dann wird der Hauptakteur, Israel, in vollem Glanz erstrahlen, weil dieses Volk die Brillanz des Regisseurs widerspiegeln wird.
15 - 19 Daniel wird gestärkt
15 Und als er in dieser Weise mit mir redete, richtete ich mein Angesicht zur Erde und verstummte. 16 Und siehe, einer, den Menschenkindern gleich, berührte meine Lippen; und ich tat meinen Mund auf und redete und sprach zu dem, der vor mir stand: Mein Herr, wegen des Gesichts überfielen mich die Wehen, und ich habe keine Kraft behalten. 17 Und wie vermag ein Knecht dieses meines Herrn mit diesem meinem Herrn zu reden? Und ich – von nun an bleibt keine Kraft mehr in mir, und kein Odem ist in mir übrig. 18 Da rührte mich wieder einer an, von Aussehen wie ein Mensch, und stärkte mich. 19 Und er sprach: Fürchte dich nicht, du vielgeliebter Mann! Friede dir! Sei stark, ja, sei stark! Und als er mit mir redete, fühlte ich mich gestärkt und sprach: Mein Herr möge reden, denn du hast mich gestärkt.
Erneut ist Daniel überwältigt von dem, was er gehört hat. Er neigt den Kopf und kann kein Wort mehr sagen. Im Licht der ihm gegebenen Ankündigungen fühlt er seine Unwürdigkeit und Ohnmacht. Er fühlt sozusagen das ganze Gewicht der Zukunft auf ihm liegen und weiß nicht, was er sagen soll. Es ist, als ob beim Sehen des Gesichts Wehen über ihn kommen, wie er es selbst ausdrückt, nachdem seine Lippen berührt werden und er wieder sprechen kann.
Seine Lippen werden berührt von einem, der „den Menschenkindern“ gleich ist. Das scheint jemand anderes zu sein als der Engel, der bisher zu ihm gesprochen hat. Wenn ja, dann spricht viel dafür, dass es sich hier um eine Erscheinung des Herrn Jesus handelt. Er berührt Daniels Lippen, damit er wieder sprechen kann (vgl. Jes 6,6.7). Es kann aber auch sein, dass es der Engel ist, der zu ihm gesprochen hat. Daniel spricht ihn respektvoll als „Herr“, also als Gebieter, Herrscher, an. Er erkennt den Engel als jemanden an, der größer ist als er. Ihm gesteht er auch seine Machtlosigkeit im Blick auf alles, was er gesehen hat.
Dass ihn alle seine Kräfte verließen, liegt daran, dass er das Gesicht voll und ganz erlebte. Er war voll beteiligt, und das nahm ihm alle seine Kraft. Nun hat er nicht einmal mehr die Kraft, mit diesem mächtigen Engelsfürsten zu sprechen. Ein Thema, das einen Menschen mit seiner ganzen Persönlichkeit in Beschlag nimmt, kann nicht nur intellektuell erörtert werden. Auch die Emotionen werden hier angesprochen. So intensiv kann ein Thema wirken, dass man sich völlig unfähig fühlt, etwas darüber zu sagen. Schon der Gedanke an etwas so Einschneidendes, und erst recht die Erwägung, sich dazu äußern zu müssen, nimmt einem alle Lebenskraft.
Dann berührt das himmlische Wesen Daniel zum zweiten Mal und stärkt ihn. Dies scheint darauf hinzudeuten, dass wir es immer noch mit dem Engel zu tun haben, der zu Daniel kam. Auch dem Herrn Jesus erschien „ein Engel vom Himmel, der ihn [körperlich] stärkte“ als er in Gethsemane heftig betete (Lk 22,43). Wieder hört Daniel die ermutigenden Worte: „Fürchte dich nicht“ (Vers 19; Vers 12), verbunden mit seiner Bezeichnung als „vielgeliebter Mann“ (Vers 19; Vers 11). Und dann wird ihm das wunderbare Wort „Friede dir“ zugerufen.
Es gibt kaum etwas Größeres als mit dem Frieden Gottes im Herzen zu leben. Wenn der Friede Gottes in unseren Herzen ist, werden wir uns nicht von den Umständen entmutigen lassen, weil wir wissen, dass Gott sie in seiner Hand hat. Und macht Ihn etwas unruhig? Gibt es etwas im Universum, das Ihm seinen Frieden nehmen könnte? Natürlich nicht. Wenn nun der Friede, den Er hat, in uns ist, wird das unsere Herzen und unseren Sinn in Christus Jesus bewahren, der unser Friede ist (Phil 4,6.7).
Dies gibt uns die Kraft, das zu tun, was von uns verlangt wird. Darauf wird auch Daniel hingewiesen (vgl. Jos 1,9). Er ist bereits durch die Berührung gestärkt worden (Vers 18). Auf Grund des Friedens kann nun zu ihm gesagt werden, dass er stark sein soll (Vers 19a), d. h., dass er auch die gewonnene Kraft nutzen muss. Jetzt folgt noch (Vers 19b), dass er gestärkt wird, während man zu ihm spricht. Das weist auf die Wirkung guter Worte hin. Gute Worte geben Kraft. Wenn uns etwas gesagt wird, was uns glücklich macht, gibt uns dies neue Energie. Gleichzeitig hat man den Wunsch, noch mehr solcher bestärkender Worte zu hören. Diesen Wunsch äußert auch Daniel.
20 - 21 Das Buch der Wahrheit
20 Da sprach er: Weißt du, warum ich zu dir gekommen bin? Und jetzt werde ich zurückkehren, um mit dem Fürsten von Persien zu kämpfen; aber wenn ich ausziehe, siehe, so wird der Fürst von Griechenland kommen. 21 Doch will ich dir kundtun, was im Buch der Wahrheit verzeichnet ist. Und kein Einziger steht mir gegen jene mutig bei als nur Michael, euer Fürst.
Von diesem Punkt an wird Daniel zum Zuhörer. Der Engel teilt ihm mit, dass er bald wieder zurückkehren wird, um gegen die satanischen Engelsfürsten von Persien und Griechenland zu kämpfen. Dies ist immer ein Kampf zwischen Dämonen und Engeln Gottes; und gekämpft wird um den treuen Überrest. Der Machtwechsel auf der Erde ist das Ergebnis eines Kampfes im Himmel. Um dies zu sehen, müssen unsere Augen dafür geöffnet werden (2Kön 6,15–17). Unsere wahren Gegner befinden sich in der unsichtbaren Welt. Der eigentliche Widerstand richtet sich gegen das Volk Gottes.
Bevor der Engel in diesen neuen Kampf mit den geistlichen Mächten der Bosheit eintritt, wird er Daniel noch sagen, was im „Buch der Wahrheit“ geschrieben steht. Das Buch der Wahrheit ist das, was bei Gott bekannt ist. Gott schreibt die Geschichte und den Lauf der Dinge, d. h., bei Ihm steht es fest; in seiner himmlischen Geschichtsschreibung ist es aufgeschrieben. In den nächsten beiden Kapiteln wird der Engel erzählen, was darin über spätere Zeiten geschrieben steht. Für uns ist „das Buch der Wahrheit“ das Wort Gottes. Alles ist darin dokumentiert. Deshalb müssen wir dieses Buch lesen und studieren. Der Geist Gottes will uns dabei leiten und uns die Bedeutung klar machen.
Daniel wird zugesichert, dass „Michael, euer Fürst“, diesem Engel in der ihm übertragenen Aufgabe mutig beistehen wird. Der Engel steht vor einer Übermacht, die aus den Fürsten der Reiche von Persien und Griechenland besteht, also den dämonischen Mächten, die diese Reiche regieren. Durch diese Reiche versuchen diese bösen Geister, das Volk Gottes zu vernichten. Sie werden alles tun, um den Engel an der Erfüllung seines Dienstes an Daniel und dem Volk Gottes zu hindern. Aber mit der Hilfe von Michael wird der Engel in der Lage sein, seine Aufgabe gegenüber Daniel und Daniels Volk zu erfüllen.