1 - 18 Der Mann, der Elend gesehen hat
1 Ich bin der Mann, der Elend gesehen hat durch die Rute seines Grimmes.
2 Mich hat er geleitet und geführt in Finsternis und Dunkel.
3 Nur gegen mich kehrt er immer wieder seine Hand den ganzen Tag.
4 Er hat verfallen lassen mein Fleisch und meine Haut, meine Gebeine hat er zerschlagen.
5 Bitterkeit und Mühsal hat er gegen mich gebaut und mich damit umringt.
6 Er ließ mich wohnen in Finsternissen wie die Toten der Urzeit.
7 Er hat mich umzäunt, dass ich nicht herauskommen kann; er hat schwer gemacht meine Fesseln.
8 Wenn ich auch schreie und rufe, so hemmt er mein Gebet.
9 Meine Wege hat er mit Quadern vermauert, meine Pfade umgekehrt.
10 Ein lauernder Bär ist er mir, ein Löwe im Versteck.
11 Er hat mir die Wege entzogen und hat mich zerfleischt, mich verwüstet.
12 Er hat seinen Bogen gespannt und mich wie ein Ziel für den Pfeil hingestellt.
13 Er ließ die Söhne seines Köchers in meine Nieren dringen.
14 Meinem ganzen Volk bin ich zum Gelächter geworden, [bin] ihr Saitenspiel den ganzen Tag.
15 Mit Bitterkeiten hat er mich gesättigt, mit Wermut mich getränkt.
16 Und er hat mit Kies meine Zähne zermalmt, hat mich niedergedrückt in die Asche.
17 Und du verstießest meine Seele vom Frieden, ich habe das Gute vergessen.
18 Und ich sprach: Dahin ist meine Lebenskraft und meine Hoffnung auf den HERRN.
In Vers 1 gibt es eine neue „Ich“-Person. In Klagelieder 1 ist die „Ich“-Person die Stadt, die über das Leid spricht, das über sie gekommen ist. In Klagelieder 2 ist es Jeremia, der von und zu der Stadt spricht, damit sie ihre Klage vor dem HERRN ausspricht. Kapitel 2 schließt dann auch damit. Nun kommen wir zu einem dritten „Ich“. Die Stadt hat in der weiblichen Form gesprochen. Doch jetzt spricht ein Mann. Es ist jemand aus dem Volk, der selbst das Leid erfahren hat und es nun als sein persönliches Leid beschreibt. Wer sonst könnte das sein als Jeremia?
Das Wort „gesehen“ beinhaltet hier nicht nur das Beobachten, sondern auch das Teilnehmen daran. Es bedeutet hier ein tatsächliches Erleben. Darüber hinaus zeigt sich, dass dieser Mann unschuldig ist. Er macht sich zwar eins mit dem schuldigen Volk und spricht von „wir“, aber persönlich kann er in Vers 52 sagen, dass seine Feinde ihn ohne Ursache verfolgen. Das kann das Volk in Klagelieder 1 nicht sagen. Sie sind alle mitschuldig. Doch hier spricht jemand ganz persönlich, jemand aus dem schuldigen Volk, der aber selbst unschuldig ist.
Wir hören hier auch die Stimme des Heiligen Geistes, der in dem Überrest aus der damaligen Zeit spricht. So wird es in der Zukunft sein. Der treue Überrest wird alles mit erleiden müssen. Sie werden doppelt leiden: sowohl von außen durch die Hand der Feinde als auch von innen durch das abtrünnige Volk.
Das hat der Herr Jesus erfahren, der sich mit diesem Überrest eins macht. Wir hören das oft in den Psalmen. Seine Stimme macht sich eins mit der des Überrestes. Wir hören den Unschuldigen sprechen: „Ich bin der Mann.“ Die Rute des Grimmes Gottes kam auf Ihn herab.
Die Tiefe des Leidens, das Jeremia erfährt, kommt in den Versen 1-3 in den drei Klagen zum Ausdruck. Er hat Elend „gesehen“, erlebt und erfahren,
1. durch die Rute des Grimmes des HERRN (Vers 1),
2. weil der HERR ihn in die Finsternis geführt hat (Vers 2),
3. weil der HERR immer wieder seine Hand gegen ihn wendet (Vers 3).
Im Gegensatz zu der Erwartung, von Gott als seinem Hirten ins Licht und in die Freude geführt zu werden, ist er in die Finsternis, ins Elend, geleitet worden (Vers 2). Das Wort für „geleitet“ hat nicht die Bedeutung von Gottes gnädiger Führung, sondern es bedeutet, getrieben zu werden wie Tiere. Jeremia wurde mit der Rute des Grimmes Gottes hart getrieben.
Er leidet ohne Unterlass (Vers 3). Es geht weiter und weiter, ohne einen Moment des Verschnaufens. Wir können an die große Drangsal für den Überrest denken, aber auch an den Herrn Jesus und sein Leiden am Kreuz.
In den Versen 4–18 folgen dann die Kennzeichen seines Leidens. Wir hören, wie Jeremia es empfindet. Das Erste ist das Verfallen seines Fleisches und seiner Haut und das Zerschlagen seiner Gebeine (Vers 4). Fleisch, Haut und Gebeine machen den ganzen Körper aus. Der Zerfall der einzelnen Teile kann die Folge einer schweren Krankheit (vgl. Ps 38,4) oder eines Alterungsprozesses sein. Das Zerfallen (Zerschlagen) der Gebeine weist darauf hin, dass dem Körper alle Kraft und Lebensfähigkeit genommen wird (Jes 38,13).
Das zeigt den Ernst dieser Krankheit und der Entzug der Kraft, sie zu ertragen, zeigt die Tiefe seines Leidens. All seine Kraft verlässt ihn. Wir hören hier die Sprache von Psalm 22 und Psalm 69. Und wir hören auch jemanden wie Hiob in diesen Versen sprechen (Hiob 7,5; 19,20; 30,30).
In Vers 5 werden wir mit den Leiden konfrontiert, die von außen kommen. Jeremia benutzt das Bild einer belagerten Stadt, gegen die der Feind einen Belagerungswall errichtet, um die Bewohner der Stadt zu bedrängen. Sein Leid fühlt sich an, als ob der HERR einen Wall aus Bitterkeit und Mühsal gegen ihn gebaut hat. Er ist davon umzingelt und eingeschlossen. Von allen Seiten grinst ihm die Zerstörung entgegen wie eine hohe, uneinnehmbare Mauer. Nebukadnezar ist derjenige, der Jerusalem belagert und umzingelt hat (Jer 52,4), doch Jeremia weiß, dass es eigentlich der HERR ist.
Er fühlt sich so hoffnungslos und verzweifelt, dass er sich bereits zu denen zählt, die gestorben sind (Vers 6; Ps 143,3). Sein Vergleich mit „den Toten der Urzeit“ bedeutet auch, dass er nicht nur verlassen und allein ist, sondern auch vergessen und aus dem Gedächtnis verschwunden. Keiner denkt mehr an ihn. So hoffnungslos fühlt er sich. Innerlich verkümmert, um ihn herum eine Mauer, während er sich in der Dunkelheit des Todes befindet (Ps 88,10–12). Gibt es einen tragischeren Zustand, in dem sich ein Mensch befinden kann?
Die Verse 7–9 sind ein Höhepunkt und eine Bewertung der vorangegangenen drei Verse. Sie spiegeln seine Gefühle des totalen Verlusts der Bewegungsfreiheit wider. Jeremia fühlt sich wie jemand, der völlig eingezäunt ist (Vers 7). Er fühlt sich von einer Mauer des Elends umgeben, die der HERR um ihn errichtet hat, und fühlt sich in schweren Fesseln. Es ist, als sei er selbst mit den Fesseln gefesselt, mit denen Zedekia nach Babel gebracht wurde (Jer 39,7; 52,11). Das ist hart für den Propheten, dem der HERR versprochen hat, ihn zu einer ehernen Mauer gegen das Volk zu machen (Jer 1,18).
Jeremia fühlt sich so eingeengt, dass er glaubt, dass selbst sein Gebet Gottes Ohren nicht erreicht (Vers 8; Vers 44). Es ist dramatisch zu erleben, dass Gott nicht hört, dass Er seine Ohren dem Gebet verschließt (vgl. Ps 22,2.3; 77,10). So scheint auch der Ausweg nach oben verschlossen zu sein.
Es ist nicht nur ein enger, ummauerter Raum, in dem sich Jeremia eingeschlossen fühlt, er sieht auch, dass alle seine Wege mit Quadern versperrt sind (Vers 9; vgl. Hiob 19,8). Und scheint doch ein Weg frei zu sein, so erweist er sich, wie die Fußnote zu Vers 9 sagt, als von Grund auf zerstört. Einen Weg, der versperrt ist, können wir nicht betreten (vgl. Hos 2,8) und auf einem zerstörten Weg werden wir unser Ziel nicht erreichen. Wir werden nicht dort ankommen, wo wir hinwollen. Jeremia hat das Gefühl, dass der HERR seinen Weg zerstört hat und er nicht bei Ihm ankommt. Das macht ihn verzweifelt. Auch Bileams Weg wurde vom HERRN versperrt (4Mo 22,26), doch das hatte den Grund, dass dieser böse Mann auf einem Weg war, ein böses Werk zu tun.
In Vers 10 benutzt Jeremia ein anderes Bild (vgl. Hos 13,7.8; Amos 5,19). Gott ist ihm wie „ein lauernder Bär“ und „ein Löwe im Versteck“. Ein Bär und ein Löwe sind reißende Tiere, die kein Erbarmen kennen. Sie sind darauf aus, unerwartet anzugreifen und ihre Beute zu verschlingen. Sie lauern und verstecken sich und warten geduldig, bis ihre ahnungslose Beute in ihrer Nähe ist. Dann schlagen sie erbarmungslos zu.
Es ist ihm, als hätte der HERR seine Wege so ausgerichtet, dass er unweigerlich in die Klauen des Bären und des Löwen fallen müsse (Vers 11). Der HERR hat ihn in eine Falle laufen lassen und ihn so „zerfleischt“ und “verwüstet“. Es ist kein Leben mehr in ihm zu entdecken und wird wohl auch nicht mehr hervorkommen können.
Ein weiteres Bild taucht vor Jeremia auf. Es ist das eines Bogenschützen (Vers 12). Er fühlt sich als Beute des Pfeils Gottes, des Bogens, den Er gegen ihn gespannt und auf ihn gerichtet hat. Er hat das Gefühl, dass Gott ihn jagt.
Die Pfeile aus dem Köcher des HERRN trafen ihn in seine Nieren (Vers 13; vgl. 5Mo 32,23; Hiob 16,13). Die Nieren sind der Sitz der Weisheit (Ps 16,7). Er hat seine ganze Weisheit verloren und kann dies weder verstehen noch mit dem, was er von Gott weiß, in Einklang bringen.
Abgesehen davon, dass er sich als Zielscheibe für Gottes Pfeile fühlt, ist er auch zur Zielscheibe des Spottes seines Volkes geworden (Vers 14). Es ist hier nicht wie in Klagelieder 1, wo das Volk über seine Feinde klagt. Nein, hier spricht Jeremia als der Unschuldige über das, was sein eigenes Volk ihm antut (Jer 20,7b).
Was Jeremia in Vers 15 sagt, ist auch die Erfahrung Hiobs (Hiob 9,18; vgl. Rt 1,20). Der HERR hat gesagt, dass Er dies Juda und den falschen Propheten antun wird (Jer 9,14; 23,15), aber nun ereilt dieses Schicksal den treuen Propheten. Statt guter Speise bekommt er nichts anderes zu essen als nur bittere Speise. Es ist nicht einmal möglich, sie abzulehnen, denn sie wird ihm verabreicht. Er muss sie essen. Er wird damit gesättigt und getränkt.
Das Essen dieser bitteren Kost ist wie das Beißen auf Kies (Vers 16). Das Beißen auf Kies wiederum ist die Strafe für das Erzählen von Lügen (Spr 20,17). Wenn jemand diese Erfahrung macht, obwohl er immer die Wahrheit gesagt hat, fühlt er sich in Staub und Asche niedergedrückt (vgl. Jer 6,26). Dann ist der Friede dahin und auch die Erinnerung an das Gute (Vers 17).
Vers 18 ist eine Art Fazit der vorangegangenen Verse, in denen Jeremia seine Gefühle zum Ausdruck brachte (vgl. Vers 54b). Ein solch seelischer Zustand äußerster Hoffnungslosigkeit raubt einem Menschen alle Kraft. Was bleibt noch, wenn nichts mehr übrig bleibt von dem, was man vom HERRN erwartet hat? Die Klage endet in Verzweiflung. Doch die Verzweiflung hat nicht das letzte Wort. Sie führt ins Gebet und das Gebet bringt Hoffnung. Das sehen wir in den folgenden Versen.
Nun kann man durchaus die Frage stellen: Was tun wir mit unseren Klagen, wenn wir mutlos werden und denken, wir könnten nichts vom Herrn erwarten? Wenn diese Erwartung weg ist, warum dann noch beten? So sind viele Menschen vom Glauben abgefallen, was jedoch zeigt, dass sie keine lebendige Beziehung zum Herrn hatten. Doch für den Gläubigen ist gerade dann, wenn er verzweifelt ist, der einzige Ausweg, wieder erneut zu beten.
19 - 21 Gebet
19 Gedenke meines Elends und meines Umherirrens, des Wermuts und der Bitterkeit! 20 Beständig denkt meine Seele daran und ist niedergebeugt in mir. 21 Dies will ich mir zu Herzen nehmen, darum will ich hoffen:
Obwohl Jeremia denkt, dass der HERR nicht hört (Vers 8), betet er trotzdem weiter (Vers 19). Es kann einfach nicht sein, dass der HERR nicht hört. Sollte es Ihn unberührt lassen, wenn Er ihn so elend und heimatlos sieht? Sollte es Ihm nichts ausmachen, wenn Er sieht, wie der Elende Wermut und Bitterkeit als bittere und ekelerregende Speise zu sich nehmen muss?
Bei aller Verzweiflung kann er doch nicht anders, als an den HERRN zu denken (Vers 20) – und er bekommt neue Hoffnung (Vers 21). Er erinnert sich, mit was für einem Gott er es zu tun hat, dass Er barmherzig und gnädig ist und bleibt. Das nimmt er sich zu Herzen. Er rafft sich auf und fasst einen Herzensentschluss. Und so flammt plötzlich die Hoffnung wieder auf.
Geht es uns nicht auch manchmal so? Auch wir können manchmal die oben genannten Eigenschaften Gottes aus dem Auge verlieren. Wir können darüber verzagt werden, umso mehr, wenn wir nur Leid, Not und Verderben sehen. Doch wenn wir uns daran erinnern, dass Er größer ist als alle Not, dann werden wir mit Herzensentschluss bei Ihm verharren (vgl. Apg 11,23), weil er der Unveränderliche ist. Dann kehrt auch die Hoffnung zurück.
Es ist jedoch wichtig, den Unterschied zwischen einem Gläubigen des Alten Testaments und einem Gläubigen des Neuen Testaments im Auge zu behalten. Der alttestamentlich Gläubige kennt nicht die volle Errettung durch das Werk Christi. Er lebt in einem Moment in der Gewissheit, dass er von Gott angenommen ist, während er im nächsten Moment diese Gewissheit wieder verloren haben kann.
Der Gläubige, der nach dem Werk Christi am Kreuz lebt, darf in der vollen Gewissheit der Errettung leben. Dass er gelegentlich eine Zeit durchläuft, in der er dies nicht so erlebt, ist etwas anderes als der Zweifel an der Errettung.
Es kann jedoch sein, dass selbst Gläubige in der heutigen Zeit nicht in der vollen Heilsgewissheit leben. Die Ursache dafür ist meist eine falsche Belehrung aufgrund falscher Schriftauslegung. Das ist besonders bei denen der Fall, die das Gesetz als Maßstab für ihr Leben verwenden.
22 - 33 Einblicke und Perspektiven
22 Es sind die Gütigkeiten des HERRN, dass wir nicht aufgerieben sind; denn seine Erbarmungen sind nicht zu Ende;
23 sie sind alle Morgen neu, deine Treue ist groß.
24 Der HERR ist mein Teil, sagt meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen.
25 Gütig ist der HERR gegen die, die auf ihn harren, gegen die Seele, die nach ihm trachtet.
26 Es ist gut, dass man still warte auf die Rettung des HERRN.
27 Es ist gut für einen Mann, dass er das Joch in seiner Jugend trage.
28 Er sitze einsam und schweige, weil er es ihm auferlegt hat.
29 Er lege seinen Mund in den Staub: Vielleicht gibt es Hoffnung.
30 Dem, der ihn schlägt, halte er die Wange hin, werde mit Schmach gesättigt.
31 Denn der Herr verstößt nicht auf ewig;
32 sondern wenn er betrübt hat, erbarmt er sich nach der Menge seiner Gütigkeiten.
33 Denn nicht von Herzen plagt und betrübt er die Menschenkinder.
Anstatt zu klagen, beginnt er nun, von den Gütigkeiten des HERRN zu sprechen (Vers 22). Zum ersten Mal in diesem Kapitel bezieht er das ganze Volk mit ein. Er sagt nicht, „dass ich nicht aufgerieben bin“, sondern, „dass wir nicht aufgerieben sind“. In den Versen 40–47 spricht er ebenfalls in der Mehrzahl. Er weiß, dass seine Gefühle über die Güte, Erbarmungen und Treue des HERRN von allen geteilt werden, die sich in ihrer Not an den HERRN klammern.
Man muss geöffnete Augen haben, um das sagen zu können. Das lernen wir in unserem Umgang mit Gott. Wenn wir ein Auge für seine Gütigkeiten haben und dafür, dass seine Erbarmungen nicht zu Ende sind, dann erfahren wir jeden Tag den Trost seiner Gegenwart (Vers 23). Jeden Tag dürfen wir damit beginnen und darauf vertrauen, dass sie bei uns bleiben, denn seine Treue ist groß. An jedem neuen Tag erweist sich seine Güte aufs Neue.
Wenn sie sagen, dass der HERR gütig und barmherzig ist, heißt das, dass sie sich von Ihm in der gegenwärtigen Not unterstützt fühlen. Wenn sie sagen, dass seine Treue groß ist, bedeutet das, dass sie darauf vertrauen, dass Er seine Zusagen erfüllt. Das eine ist für die Gegenwart, das andere für die Zukunft. Bei dem einen blickt der Gläubige nach oben, bei dem anderen nach vorne. Beide Aspekte sind eine Ermutigung, an Ihm festzuhalten.
Was Jeremia in Vers 24 sagt, ist dasselbe, was der HERR in Bezug auf die Priester und die Leviten sagt, die kein Teil im Land haben, sondern deren Teil der HERR ist (4Mo 18,20; vgl. Ps 16,5a; 73,26; 119,57a). Er ist ihre Lebensgrundlage; Er wird sie versorgen und erhalten. „Der HERR ist mein Teil, sagt meine Seele“ – mit „meine Seele“ ist der ganze Mensch gemeint.
Keine einzige Hilfe ist ihm verblieben als nur der HERR allein. Es ist nun nicht mehr nur eine Hoffnung auf das, was der HERR gibt, wie in den Versen 21–23, auch nicht nur eine Hoffnung im allgemeinen Sinn, sondern eine Hoffnung auf den HERRN selbst. Auf diese Weise überwindet Jeremia seine Verzweiflung. Er teilt dies mit, damit alle, die großes Leid zu erdulden haben, auch diese Hoffnung bekommen. Gott als unser Teil zu haben, ist die einzige Grundlage für Hoffnung.
Die Verse 25–27 beginnen alle drei nicht nur mit demselben Buchstaben, sondern auch mit demselben hebräischen Wort tob, das übersetzt ist mit „gütig“ und „gut“ Dieses Wort bringt den Willen und die Absicht Gottes zum Ausdruck. Die Verse zeigen uns drei Aspekte der Güte. Der erste Aspekt ist die Güte des HERRN selbst, in seiner Natur, in seinem Wesen (Vers 25). Sobald der Prophet wieder einen Blick dafür hat, gibt er Zeugnis davon. Auch wenn der HERR Schmerz und Leid bringen muss, so ist es gerade dann nötig, an der Tatsache festzuhalten, dass Er gütig ist. Er drückt es so aus, dass der HERR gütig ist gegen die, die auf Ihn harren. Er ist es also nicht nur für ihn allein, sondern für alle, die nach Ihm trachten.
Der zweite Aspekt der Güte hat das Glück des Gläubigen im Blick. Es ist gut, wenn wir unsere Kraft nicht mit Klagen und Murren vergeuden, sondern auf Gottes Zeit warten und unsere Hilfe von Ihm erwarten (Vers 26). Er hilft zu seiner Zeit. Deshalb ist es gut, auf seine Rettung, seinen Ausgang zu hoffen und still darauf zu warten.
Auch wenn wir in großer Not sind und auch wenn wir uns selbst wegen unserer Sünden anklagen und in dem, was geschieht, Gottes Zorn sehen müssen, wenn wir zu Ihm fliehen, gibt Er Hilfe. Auch hier ist es wichtig, den bereits erwähnten Unterschied zwischen einem alttestamentlich Gläubigen und dem neutestamentlich Gläubigen (Vers 21) im Auge zu behalten.
Der dritte Aspekt ist das Tragen des Jochs, das der HERR jemandem in seiner Jugend auferlegt (Vers 27). Es bedeutet, sich darunter zu beugen und zu lernen, sich nicht dagegen aufzulehnen, sondern es in dem Wissen anzunehmen, dass Gottes Güte es so führt. Das Ziel ist, dass man schon in der Blütezeit des Lebens lernt, mit Situationen von Gebrochenheit und versagender Kraft umzugehen.
Ein solches Joch ist gut, denn es ebnet den Weg zum Guten der beiden vorherigen Verse. Es lehrt uns, uns dem Willen des HERRN zu unterwerfen. Dabei geht es um das Joch des Gehorsams und des Vertrauens. Wer nicht gelernt hat, dieses Joch in seiner Jugend zu tragen, hat später oft Probleme damit. Diejenigen, die darin geübt sind, werden es später leichter haben. Wenn wir unsere Kinder nur verwöhnen und ihnen immer das geben, was sie sich wünschen, werden sie später nicht wissen, wie sie mit Enttäuschungen und Niederlagen umgehen sollen.
Im Zusammenhang mit den vorherigen Versen sehen wir in den Versen 28-30, dass derjenige, der anerkennt, dass der HERR gut ist, dies in seiner Haltung im Leid zeigen kann. In diesen Versen steckt ein steigender Schwierigkeitsgrad: Vers 29 ist schwieriger als Vers 28, während Vers 30 noch schwieriger ist als Vers 29.
Das Joch in der Jugend (Vers 27) ist das Joch des Leids, das der HERR auferlegt (Vers 28). Dieses Joch wird einen Menschen vom gewöhnlichen Leben trennen und ihn zu einem Außenseiter machen. Einsam sitzen und schweigen heißt einerseits, den Willen Gottes zu akzeptieren und andererseits, nicht gegenüber den Menschen zu klagen.
Vor allem junge Menschen hatten es während der Belagerung und dem Fall Jerusalems besonders schwer, denn ihre ganze Zukunft lag mit der Stadt in Trümmern. Wie sollten sie ihr Schicksal ertragen? Wenn sie aber in diesen schrecklichen Umständen das gleiche feste Vertrauen in Gottes Verheißungen hatten, wie es Jeremia hier zum Ausdruck gebracht hat, wird es ihnen geistlich enormen Gewinn gebracht haben.
Dann gibt es keine Rebellion, sondern ein stilles Hinnehmen (Vers 29). Es ist ein Leiden um des Herrn willen. Dann tragen wir sein Joch. Mit dem Wort „vielleicht“ wird nicht die Gewissheit des Erhörens aufgehoben. Das Wort drückt aus, dass es kein Recht auf Erhörung gibt und dass diese nicht eingefordert werden kann.
So das Joch zu tragen, führt dazu, sich bereitwillig wie ein Sklave behandeln zu lassen (Vers 30). Das Hinhalten der Wange bedeutet hier, dass sich das Volk unter dem Gericht, das Gott ausübt, beugt. Er ist es, der schlägt. Wenn der Herr Jesus in Matthäus 5 davon spricht, die andere Wange hinzuhalten (Mt 5,39), dann hat dies damit zu tun, dass andere Menschen uns um seinetwillen verletzen. Das ist der Weg der Schmach in seiner Nachfolge und auf diesem Weg erfahren wir etwas davon, was sein Teil gewesen ist.
Wenn der Herr unser Teil ist, so ist das auch unser Teil. Er bot seinen Rücken den Schlagenden und seine Wangen den Raufenden (Jes 50,6). Viele ertragen in Geduld die Trübsale, die Gott ihnen auferlegt, doch wenn Menschen ihnen etwas antun, reagieren sie mit Zorn. Die Gottesfürchtigen ertragen das Letztere ebenso wie das Erstere als von Gott gesandt.
Auch die Verse 31–33 beginnen nicht nur mit demselben Buchstaben, sondern auch mit demselben Wort, dem Begründungswort „denn“. Sie bieten Hoffnung und Perspektiven, welche die Last des Jochs erleichtern. Wir mögen das Gefühl haben, dass Er uns für immer verworfen hat, aber das tut Er nicht (Vers 31). Für Jeremia ist Er „der Herr“ (Adonai), der alles unter Kontrolle hat und dem nichts aus der Hand läuft. Er bestimmt sowohl die Schwere als auch die Dauer des Leidens. Die Zeit des Leidens ist dann vorbei, wenn Er seinen Zweck damit erfüllt hat.
Erneut sehen wir hier einen enormen Kontrast zur Erfahrung des neutestamentlich Gläubigen. Wir können sagen: „Wir wissen.“ Das ist weder Hochmut noch ein falsches Gefühl von Sicherheit, sondern die Sprache dessen, der das Opfer Christi so sieht, wie Gott es sieht. Die Unsicherheit des alttestamentlich Gläubigen ist für den neutestamentlich Gläubigen aufgrund des Opfers beseitigt und ersetzt worden durch die Gewissheit, dass Gott für uns ist.
Ein weiterer Grund, das Joch zu tragen und nicht abzuwerfen, ist das Wissen, dass Er, wenn Er betrübt hat, sich auch erbarmt (Vers 32). Er tut dies auf überwältigende Weise. Er nimmt nicht nur allen Kummer weg, sondern Er tut es so, dass dieser Kummer angesichts „der Menge seiner Gütigkeiten“ vergessen wird. Diese große Güte ist so barmherzig, dass von der Traurigkeit nichts mehr übrig bleibt (vgl. 2Kor 4,16.17).
So ist das Kennen des Herzens Gottes (Vers 33) der dritte Grund, das Joch anzunehmen. Er ist kein Gott, der Freude daran hat, Menschen zu bedrängen und zu betrüben. Er tut dies mit Schmerz in seinem Herzen, doch Er weiß, dass es notwendig ist, damit der Mensch zu Ihm zurückkehrt. Und damit tut Er es auch aus Liebe.
34 - 39 Der Herr achtet auf Unrecht
34 Dass man alle Gefangenen der Erde unter seinen Füßen zertritt,
35 das Recht eines Mannes beugt vor dem Angesicht des Höchsten,
36 einem Menschen unrecht tut in seiner Streitsache – sollte der Herr nicht darauf achten?
37 Wer ist es, der sprach, und es geschah, ohne dass der Herr es geboten hat?
38 Das Böse und das Gute, geht es nicht aus dem Mund des Höchsten hervor?
39 Was beklagt sich der lebende Mensch? Über seine Sünden [beklage sich] der Mann!
Jeremia geht nun in einem langen Satz (Verse 34–36) auf die Einwände von Menschen ein gegen das, was er gerade gesagt hat. Das Wort „Dass“ ist die Einleitung zur Feststellung einzelner Tatsachen, die der Gläubige wahrnimmt, aber nicht mit der Güte Gottes in Einklang bringen kann; genau so wenig wie er es als Beweis der Liebe Gottes sehen kann, wenn Er dem Menschen Traurigkeit bereitet.
Jemand mag einwenden: „Es mag ja stimmen, dass der HERR nicht von Herzen Leid über uns bringt, aber was ist dann mit den Schwierigkeiten und Verletzungen, die Menschen uns antun?“ Gewiss, Gottes Volk litt sehr unter der unmenschlichen Behandlung der Babylonier (Vers 34). Der Feind zermalmte sie unter seinen Füßen.
Dazu kam, dass sie unter völliger Rechtlosigkeit litten und im Rechtsstreit betrogen wurden (Verse 35.36). Das Recht wurde gebeugt, ohne dass man sich darum kümmerte, dass dieses Unrecht „vor dem Angesicht des Allerhöchsten“ geschah. Warum auch? Es schien den Allerhöchsten nicht zu kümmern, denn Er griff nicht ein, um diese Ungerechtigkeit zu bestrafen.
Die Übeltäter denken nicht daran, dass Er allgegenwärtig ist und nichts vor Ihm verborgen ist. Das führt dazu, dass sie nicht nur das Recht verdrehen, sondern in völligem Widerspruch dazu handeln. Wer im Recht ist, wird ins Unrecht gesetzt. Die Gläubigen fragen sich, ob Gott überhaupt weiß, ob Er sieht, und ob Er sich noch um sie kümmert.
Jeremia antwortet darauf mit der Frage, die zugleich die Antwort ist, dass der Herr sehr wohl alles Böse sieht. Ihm entgeht nichts, und Er vergisst auch nichts von all dem Bösen, das getan wird und getan wurde. „Sollte der Richter der ganzen Erde nicht Recht üben?“ (1Mo 18,25b). Hier ist die Frage zugleich auch die Antwort. Natürlich übt Er Recht. Es gibt nichts auf der Erde, über das Er die Kontrolle verloren hätte. Der Mensch hat keine Macht, zu tun was ihm gefällt, und auch das Böse kann nicht tun was es will, ohne die Zulassung oder den direkten Willen Gottes. Er ist „der Höchste“ und steht über jeder denkbaren Macht. Er ist „der Herr“, Adonai, das heißt der souveräne Herrscher.
Die Verse 37 und 38 unterstreichen die Allmacht des Herrn, die es erforderlich macht, seinen Willen zu akzeptieren. Wenn Er spricht, geschieht es, sei es im Hinblick auf die Schöpfung (Ps 33,9; 1Mo 1,3) oder, wie hier (Vers 37), im Hinblick auf die Beziehungen unter den Menschen. Alles, sowohl das Gute als auch das Böse, kommt aus dem Mund Gottes (Vers 38; Jes 45,7; Amos 3,6b). Niemand kann eigenmächtig handeln. Jeder ist von Ihm abhängig. Wie könnte Gott dann nicht wissen, was ihnen widerfährt? Glauben sie, dass dies außerhalb von Gottes Kontrolle liegt?
„Der Höchste“ steht über allen Menschen und Völkern. Alles steht unter seiner Autorität. Könige mögen denken, dass sie über alles regieren, doch sie tun lediglich, was Er bestimmt. Der „Höchste“ hat alles unter seiner Kontrolle. Er bestimmt über Not und Frieden und auch darüber, ob gute oder schlechte Zeiten und Ereignisse nötig sind. Was Israel widerfuhr, kam als Strafe für ihre Sünden aus Gottes Hand. Auch was uns widerfährt, kommt von Ihm und von keinem andern. Dieser Gedanke hilft uns, Frieden in den Umständen zu finden.
Jeremia weist die Einwände mit einer Frage zurück, die eine Antwort ist (Vers 39). Kein Mensch, der lebt, hat einen Grund, sich bei Gott zu beschweren. Die Tatsache, dass er noch lebt, ist bereits ein Beweis für Gottes Barmherzigkeit. Seine Kraft ist nicht zu klein. Das Einzige, worüber sie (und wir) klagen dürfen, sind ihre (unsere) Sünden, nicht die Umstände. Sich über die Umstände zu beklagen, heißt, sich gegen und über Gott zu beklagen.
Diese Worte sind eine Vorbereitung auf den nächsten Abschnitt.
40 - 45 Gebet des Volkes
40 Prüfen und erforschen wir unsere Wege, und lasst uns zu dem HERRN umkehren!
41 Lasst uns unser Herz samt den Händen erheben zu Gott im Himmel!
42 Wir, wir sind abgefallen und sind widerspenstig gewesen; du hast nicht vergeben.
43 Du hast dich in Zorn gehüllt und hast uns verfolgt; du hast hingemordet ohne Schonung.
44 Du hast dich in eine Wolke gehüllt, so dass kein Gebet hindurchdrang.
45 Du hast uns zum Kehricht und zum Ekel gemacht inmitten der Völker.
Diese Verse schließen direkt an Vers 39 an und enthalten die Aufforderung, über sich selbst vor dem HERRN zu klagen. Der Prophet spricht hier in der „Wir“-Form. Er spricht im Namen des Volkes und führt sie auf den Weg, ihre Sünden zu bekennen. Das Erste, was geschehen muss, ist, dass sie ihre Wege, ihre Taten prüfen, um herauszufinden, wo es falsch gelaufen ist (Vers 40). Dann werden sie erkennen, dass sie den HERRN verlassen haben. Deshalb müssen sie zu Ihm zurückkehren.
Sie müssen sich im Gebet an Ihn, den Gott im Himmel wenden (Vers 41), und nicht länger an die Himmelskönigin und andere heidnische Götzen. Es muss eine echte Umkehr zum HERRN sein, eine Umkehr mit dem Herzen, und nicht ein sinnloses äußeres Fuchteln mit den Händen. Die Hände zu erheben ist die übliche Haltung des Gebets (2Mo 9,33; 1Kön 8,22; Esra 9,5; vgl. Ps 25,1; 143,8), doch es geht darum, dass das Herz, der ganze innere Mensch, am Gebet beteiligt ist.
Das Nicht-Vergeben (Vers 42) hat sich darin gezeigt, dass Gott sie wegen ihrer unbußfertigen Haltung und ihres Verharrens in der Sünde so hart gezüchtigt hat. Hier erkennen sie an, dass Gott gerecht ist und gerecht handelt, denn ihr Bekenntnis war keine Herzensangelegenheit gewesen.
In den Versen 43–45 fährt der Prophet fort, anzuerkennen, dass Gottes Zorn gerecht ist. Das Volk gibt zu, dass der HERR sich wegen ihrer Sünden in Zorn hüllen musste, wie in ein Gewand (Vers 43). Nur sein Zorn ist zu sehen. Er muss sie verfolgen, weil sie vor der gerechten Züchtigung fliehen wollen. Aber Er weiß sie zu finden und tötet sie, ohne sie zu verschonen.
Neben all diesem hüllt Er sich auch in eine Wolke (Vers 44) und macht sich somit für sie unerreichbar. Dies erfahren sie, wenn sie zu Ihm schreien. Ihr Gebet erreicht Ihn nicht, denn es ist kein Gebet der Reue über ihre Sünden. Es geht nur um das Elend, in dem sie sich befinden.
Das, was seinem Zorn entkommen ist, hat Er zum Kehricht und zum Ekel gemacht (Vers 45). Es ist nichts mehr übrig von ihrem früheren Ruhm und dem Ansehen, das sie unter den Völkern hatten. In 1. Korinther 4 gebraucht Paulus ähnliche Worte (1Kor 4,13b), doch er hat diese Erfahrung gemacht aufgrund seiner Treue zu dem Auftrag, den er von seinem Herrn erhalten hat.
46 - 54 Erneute Klagen
46 Alle unsere Feinde haben ihren Mund gegen uns aufgesperrt.
47 Grauen und Grube sind über uns gekommen, Verwüstung und Zertrümmerung.
48 Mit Wasserbächen rinnt mein Auge wegen der Zertrümmerung der Tochter meines Volkes.
49 Mein Auge ergießt sich ruhelos, ohne Rast,
50 bis der HERR vom Himmel herniederschaut und dareinsieht.
51 Mein Auge schmerzt mich wegen aller Töchter meiner Stadt.
52 Wie einen Vogel haben mich heftig gejagt, die ohne Ursache meine Feinde sind.
53 Sie haben mein Leben in die Grube hinein vernichtet und Steine auf mich geworfen.
54 Wasser strömten über mein Haupt; ich sprach: Ich bin abgeschnitten!
Jeremia beschreibt weiter die abscheuliche Behandlung, der sie vonseiten des Feindes ausgesetzt sind. Er sieht, wie sie alle ihren Mund aufsperren, um sie zu verschlingen (Vers 46). Das erfüllt sie mit Angst. Er sieht den Abgrund, die Verwüstung und die Zertrümmerung vor sich, ohne einen Retter (Vers 47). Das alles erfüllt ihn mit tiefstem Kummer, sodass Tränen wie Wasserbäche aus seinen Augen fließen (Vers 48). Der Untergang der Tochter seines Volkes berührt ihn zutiefst.
Er weint und weint, er kann nicht anders, er hat keine Ruhe (Vers 49). Die wird es erst geben, wenn „der HERR vom Himmel herniederschaut und dareinsieht“ (Vers 50; vgl. 2Mo 3,7–10). Dann wird Er herabkommen, um es zu erlösen. Doch was Jeremia im Moment sieht, ist eine Qual für seine Seele (Vers 51): Alle Töchter seiner Stadt sind in tiefem Elend.
In den Versen 52–54 vergleicht sich Jeremia
1. mit einem Vogel, der das Ziel eines Jägers ist (Vers 52),
2. mit einem wilden Tier, das in einer Grube gefangen ist (Vers 53) und
3. mit einem, der kurz vor dem Ertrinken ist (Vers 54).
Es zeigt, wie ausweglos seine Situation ist und die von Juda, und dass es keine Hoffnung auf Überleben gibt.
In diesen Versen spricht Jeremia wieder über sich selbst. Was er in Vers 52 sagt, hat auch der Herr Jesus gesagt. Auch Er wurde ohne Grund verfolgt, gehasst, verachtet und getötet. Jeremia hat es buchstäblich erlebt, dass er in eine Grube geworfen wurde (Vers 53; Jer 37,11–21; 38,1–6).
In Vers 54 hören wir den Ruf aus der Tiefe des Elends (vgl. Ps 69,2.3; Jona 2,3). Jeremia hält sich und das Volk für verloren, denn er fühlt sich von Gottes Erbarmen abgeschnitten. Doch gerade wegen dieser Gedanken wendet er sich im nächsten Vers aus der Grube an den HERRN.
55 - 66 Gebet um Befreiung
55 HERR, ich habe deinen Namen angerufen aus der tiefsten Grube.
56 Du hast meine Stimme gehört; verbirg dein Ohr nicht vor meinem Seufzen, meinem Schreien!
57 Du hast dich genaht an dem Tag, als ich dich anrief; du sprachst: Fürchte dich nicht!
58 Herr, du hast die Rechtssachen meiner Seele geführt, hast mein Leben erlöst.
59 HERR, du hast meine Bedrückung gesehen; verhilf mir zu meinem Recht!
60 Du hast gesehen all ihre Rache, alle ihre Pläne gegen mich.
61 HERR, du hast ihr Schmähen gehört, alle ihre Pläne gegen mich,
62 das Gerede derer, die gegen mich aufgestanden sind, und ihr Sinnen gegen mich den ganzen Tag.
63 Schau an ihr Sitzen und ihr Aufstehen! Ich bin ihr Saitenspiel.
64 HERR, erstatte ihnen Vergeltung nach dem Werk ihrer Hände!
65 Gib ihnen Verblendung des Herzens, dein Fluch komme über sie!
66 Verfolge sie im Zorn und tilge sie unter dem Himmel des HERRN hinweg!
In der dunkelsten Nacht des Elends rief Jeremia den Namen des HERRN an (Vers 55). Das hat auch Jona getan, als er in der Finsternis des Bauches des Fisches saß (Jona 2,1–10). In dieser großen Not und während Jeremia zum HERRN fleht und sich auf seinen Namen beruft, bekommt er die innere Gewissheit, dass der HERR seine Stimme gehört hat (Vers 56). Möge Er doch sein Ohr nicht vor ihm verbergen. Möge Er sich doch nicht taub stellen gegenüber seinem Seufzen und seinen Hilferufen. Während des Gebets erinnert er sich an eine frühere Gelegenheit, als er zum HERRN rief. Damals ist Er ihm nahe gewesen. Damals hat Er seine Stimme gehört, und was hat Er geantwortet? „Fürchte dich nicht!“ (Vers 57).
Jeremia erinnert sich auch daran, dass der Herr, Adonai, ihm seinen Anklägern gegenüber immer geholfen und seine Rechtssachen geführt hat (Vers 58). Seine Ankläger verschwanden und sein Leben war außer Gefahr. So hat er den Erhalt seines Lebens dem Herrn zu verdanken. Die höchste Macht hat ihm Recht verschafft und sein Leben gerettet.
Das gibt ihm Mut, bei Gott anzuklopfen, dass Er ihm auch jetzt wieder Recht verschaffe. Er spricht Ihn in Vers 58 nachdrücklich als „Herr“, Adonai, und in Vers 59 als „HERR“, Jahwe, an. Er richtet einen eindringlichen Appell an Ihn als den souveränen Herrscher (Adonai) und den treuen Gott des Bundes (Jahwe).
Der Herr weiß, dass sein Diener sich ungerecht behandelt fühlt und dass ihm Unrecht getan wurde, sodass dieser Ihn bittet, ihm gegenüber seinen Feinden zu seinem Recht zu verhelfen (Vers 59). Denn seine Feinde sind auf Rache aus und schmieden Pläne gegen ihn (Vers 60).
Der HERR hat nicht nur das Flehen seines Dieners gehört, sondern auch die Schmähungen der Feinde und ihre Pläne gegen ihn (Vers 61). Er hat ihr Gerede und sogar ihr Flüstern gehört und alles, was sie den ganzen Tag gegen ihn ersonnen haben (Vers 62). Nichts anderes beschäftigt sie, ihr Leben ist erfüllt von Hass gegen ihn. Möge doch der HERR das alles sehen, jede ihrer Bewegungen wahrnehmen, denn er ist für sie zum Spottlied geworden (Vers 63).
Dieses Kapitel endet nun mit einer neuen Gewissheit. Es ist mehr eine Gewissheit als eine Aufforderung an den HERRN, den Feinden zu vergelten nach allem, was sie verdienen (Vers 64). Jeremia bittet dies nicht aus Rachsucht, sondern er weiß um die Gerechtigkeit Gottes, der sein Volk nicht für immer der grenzenlosen Willkür seiner Feinde ausliefern wird. Dabei nimmt Jeremia das Recht nicht selbst in die Hand, sondern er überlässt die Vergeltung dem HERRN.
Jeremia bittet jedoch, und zwar in Übereinstimmung mit Gottes Handeln mit solchen Menschen, dass der HERR ihre Herzen verblenden und ihr Gericht besiegeln wolle, sodass der Fluch über sie kommt (Vers 65). Er fügt hinzu, der HERR möge sie in seinem Zorn so verfolgen, dass sie unter dem Himmel vertilgt werden (Vers 66).
Es ist nicht der Wunsch nach persönlicher Genugtuung, der Jeremia so bitten lässt. Er bittet dies, weil sie es Gottes Volk, Gottes Stadt, Gottes Tempel und damit letztlich Gott selbst angetan haben. Er hat das Verlangen, dass der Name Gottes verherrlicht wird.